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Produktdetails
  • Verlag: Wunderhorn
  • Artikelnr. des Verlages: 2040792
  • Neuaufl.
  • Seitenzahl: 208
  • Erscheinungstermin: Januar 1995
  • Deutsch
  • Abmessung: 208mm x 129mm x 20mm
  • Gewicht: 316g
  • ISBN-13: 9783884230916
  • ISBN-10: 3884230913
  • Artikelnr.: 05468357

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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.1995

Das Herz der Revolution schlägt in der Konditorei
Im russischen Heidelberg wurde nicht nur studiert, sagt Willy Birkenmaier

In der Geschichte der russischen Emigration ist Heidelberg das Berlin des neunzehnten Jahrhunderts. Mochte man zwischen den Kriegen die größte russische Kolonie Deutschlands an der Spree finden - von der Bauernbefreiung bis zur Revolution siedelten die Russen am Neckar, im "russischen" Heidelberg.

Dieses russische Heidelberg war kein mythischer, wohl aber ein vergänglicher Ort. Es hatte seine Blüte in der Kompressionsphase der russischen Geschichte, als das Ringen zwischen dem Modernisierungsdruck und zaristischer Reformscheu noch nicht entschieden war. Junge Studenten infizierten sich damals leicht mit dem Virus revolutionärer Ideen, der sie im zweitschlimmsten Fall nach Sibirien, im schlimmsten Fall vor ein Erschießungskommando brachte. Heidelberg war ein beliebter Fluchtort, denn hier las in den sechziger Jahren, was in den Natur- und Rechtswissenschaften, die unter den jungen Reformanhängern besonders populär waren, Rang und Namen hatte: Robert "Papa" Bunsen, Emil Erlenmeyer, Anton Thibaut und Carl Mittermaier. Zur Studentenstadt wurde das russische Heidelberg außerdem, weil sich alle russischen Auslandsstudenten in Deutschland bei dem Bildungspolitiker Nikolaj Pirogow in Heidelberg melden mußten - und in der Regel am Neckar blieben. Wohlhabende Reisende und Rekonvaleszenten hinterließen Spuren auf den Speisekarten von Restaurants und Hotels, wo Russisch zur zweiten Fremdsprache avancierte. Im gesellschaftspolitischen Leben blieben sie im Hintergrund.

Im russischen Heidelberg drängte sich die geistige Elite Rußlands auf wenigen Quadratkilometern: Publizisten wie Ivan Aksakov, Komponisten wie Alexander Borodin, Schriftsteller wie Sascha Tschorny, Dichter wie Osip Mandelstamm, Zionisten wie Leon Jaffe, Chemiker wie Dmitrij Mendeleev. Das Studentenleben hätte fideler nicht sein können: "Auch ich verließ Heidelberg - wie fast alle Heidelberger Studenten - mit den angenehmsten Eindrücken und Erinnerungen", notierte der spätere Rektor der Petersburger Universität Pjotr Redkin, "dazu trägt natürlich viel die romantische Lage der Stadt bei . . . das ungezwungene und sorglose Leben, die allgemeine Stimmung der Gesellschaft und vieles, vieles andere, das mit der Universität nichts zu tun hat."

Politisch schien das russische Heidelberg eine Miniatur Moskaus oder Petersburgs zu sein, es hatte seine Slawophilen und seine Westler, seine Sozialrevolutionäre und seine Sozialdemokraten. Doch gab es einen Umstand, durch den sich die Kolonie vom Mutterland unterschied: die freie Rede. Zar und Zensurbeamte mochten ahnen, was sich am Neckar tat. Verbieten konnten sie es nicht, zumal sich der liberale Pirogow standhaft weigerte, sich für sie einspannen zu lassen. So lasen die jungen Revolutionäre ungestraft Herzen oder Bakunin und schrieben Sympathiebekundungen an die Aufständischen in Polen. Meist geschah dies in der "Pirogowschen Lesehalle", zwei Hinterzimmern einer Konditorei, in denen sie eine Bibliothek etabliert hatten. War das russische Heidelberg das Zentrum der Revolution in Deutschland, so schlug in der Lesehalle ihr Herz.

Das deutsche und das russische Heidelberg teilten sich eine Topographie, als geistige Räume blieben sie getrennt. Nur die wirtschaftlichen Beziehungen, eine Art "kleiner Grenzverkehr", zwischen den Hoteliers, Restaurantbesitzern oder Kneipiers und den Russen, florierten. Oft blickten die Russen mit Wohlwollen und einem Hauch Neid auf das deutsche Heidelberg. So notierte Borodin nach einem Spaziergang über Land selbstkritisch: "Überall herrschen Sauberkeit, Ordnung und Anständigkeit. Allerorten gibt es Läden, Schulen, Hotels, sogar manchmal Apotheken . . . Die Straßen sind hervorragend. Bis wir soweit sind, dauert es bei uns noch lange."

Doch es gab auch Kritiker. Sascha Tschorny war einer der ätzendesten, er skizziert die Zwillingsstadt als grostesken Schilderwald: "Überaus ärgerlich und gleichzeitig einschüchternd ist die Gängelung durch Aufschriften . . . Erstens Verbote: ,betreten', ,spucken', ,anhalten' usw. immer ,verboten'. Zweitens Warnungen: ,haben Sie die Toilette in Ordnung gebracht?' . . . Schließlich Mitteilungen: Auf der Seifenschale steht, daß sie für Seife bestimmt ist, auf dem Handtuch ist gedruckt zu lesen, daß dies ein Handtuch ist . . ." Wenn er die Karnevalsumzüge als Aufmärsche von tödlicher Humorlosigkeit schildert und die Saufrituale der Burschenschafter - "Adelige mit Bulldoggengesichtern" - karikiert, dann maß er die Gräben zwischen den Kulturen und Mentalitäten tiefer, als sie waren. Denn Birkenmaiers Momentaufnahme des russischen Deutschland-Bildes zeigt auch, daß sich die Russen - trotz des Amüsements, mit dem die meisten von ihnen die Deutschen und ihre Gewohnheiten betrachteten - aus ganzer Seele zu ihnen hingezogen fühlten. Das enge, ordentliche Deutschland verfüge über alles, woran es Rußland und seiner chaotischen, maßlosen Weite mangele, und sei somit eine ideale Ergänzung, lautet eines der Motive aus jenen Tagen, das bis heute in Rußland zu finden ist.

Die größte Probe stand der russischen Germanophilie am Vorabend der Reichsgründung bevor. Im deutsch-französischen Krieg vollzog sich vor den Augen der staunenden Russen die Metamorphose der bürgerlichen Liberalen zum Preußentum. Ihre Reaktion war Befremden, Abneigung, Furcht. Der Althistoriker Wasilij Modestow beschwor im Falle eines deutschen Sieges gar die europäische Katastrophe: "Mit dem Triumph des preußischen Militarismus wurde . . . der normale Gang der europäischen Gesittung angehalten . . . gleichzeitig wurde in den europäischen Völkern an die brutalen Instinkte des Faustrechts appelliert."

Modestow war einer der wenigen, die sich nach Sieg und Reichsgründung von Heidelberg abwandten. Denn Heidelberg blieb ein Exil des freien Geistes, hier wurden - anders als an den preußischen Hochschulen - noch russische Studenten aufgenommen. Und es gab Wanderer zwischen den Welten, Grenzgänger wie Max Weber. Zum fünfzigsten Jahrestag der Pirogowschen Lesehalle 1912 ließ sich der Soziologe noch einmal zu einem öffentlichen Auftritt überreden und entwarf vor den russischen Studenten sein Bild der deutsch-russischen Beziehungen als antithetische Schicksalsgemeinschaft.

Birkenmaier ist immer da am besten, wo er die Russen aus ihren Tagebüchern oder Briefen frei erzählen läßt. Dann rückt die umtriebige Gesellschaft dem Leser näher, und das Buch gewinnt die Lebendigkeit einer Reportage. Die Erklärungen dagegen geraten ihm zuweilen altväterlich oder sogar unfreiwillig komisch. Er verläßt seine Russen nicht, als diese aus Heidelberg abreisen. Für manche wurde der Aufenthalt in Heidelberg zum Karrieresprungbrett, sie waren wenige Jahre später in hohen Moskauer Ministerien anzutreffen, andere stiegen in den Olymp der internationalen Wissenschaft auf. Birkenmaier verfolgt aber auch die Spuren hinab, die im Falle Mandelstams bis in die Tiefen des GULag führten. SONJA ZEKRI

Willy Birkenmaier: "Das russische Heidelberg". Zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen im 19. Jahrhundert. Wunderhorn Verlag, Heidelberg 1995. 205 S., geb., 36,- DM.

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