Was war der entscheidende Auslöser für den Absturz der Concorde? Was haben der Erste Weltkrieg und die verheerenden Waldbrände im Westen der USA gemeinsam? Und läßt sich der nächste Börsencrash voraussagen? Seit Jahrhunderten suchen Menschen nach den Ursachen von Katastrophen. In diesem Buch wird ein völlig neuer Ansatz vorgestellt, der die Physik nutz, um den Gesetzmäßigkeiten umwälzender Ereignisse auf die Spur zu kommen. Denn alle dies Ereignisse verweisen auf ein interessante Gemeinsamkeit: Jedes mal schien die Ordnung des Systems so instabil gewesen zu sein, daß schon die kleinste Erschütterung gewaltige Folgen hatte. Und das Verblüffende ist: Natur und Gesellschaft folgen dabei den gleichen Regeln. Die Welt ist eben doch einfacher, als wir glauben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001Denkwandern über Berg und Fraktal
Mark Buchanan sucht Ordnung im Chaos / Von Ernst Horst
Von den letzten fünf Rezessionen haben die Wirtschaftswissenschaftler alle neun vorhergesagt. Weniger salopp ausgedrückt, läßt die Qualität der Prognosen der Wirtschaftswissenschaft zu wünschen übrig. Wenn wir wissen wollen, wann die nächste Sonnenfinsternis ist, brauchen wir nur in der Sternwarte anzurufen. Die nächste Rezession ist genauso sicher wie die nächste Sonnenfinsternis, wir wissen nur nicht, wann sie kommt. Was die Rezessionen betrifft, könnte man meinen, daß uns nur ein neuer Newton fehlt, der die zugrunde liegenden Gesetze herausfindet. Alles Weitere erledigt dann das Elektronenhirn im Finanzamt. Mark Buchanan will nun davon davon überzeugen, daß die Situation fundamental anders ist. Hinter Systemen wie der Weltwirtschaft verbirgt sich in der Tat ein einfaches Gesetz. Dieses Gesetz erlaubt aber keine genauen Vorhersagen.
Die Ideen, mit denen uns Buchanan vertraut macht, stammen aus der theoretischen Physik. Die Chaos-Theorie ist vielleicht nicht die Patentmedizin, als die sie oft verkauft wurde, hat aber sicher ihre Meriten. Beginnen wir aber zunächst mit einem einfachen physikalischen Beispiel, das von Per Bak, Chao (nomen est omen) Tang und Kurt Weisenfeld stammt und der deutschen Übersetzung des Buches den Titel geliefert hat: Sandkörner werden auf eine Platte gestreut und fallen nacheinander jeweils auf eine zufällige Stelle. Langsam bilden sich Berge und irgendwann ist eine Flanke so steil, daß eine Lawine entsteht. Ein Teil des Sandes fällt in den Abgrund, der Berg wird flacher, und das Geschehen beginnt von vorne.
Eine bezeichnende Eigenschaft des betrachteten Modells ist, daß es keine typische Größe für Lawinen gibt. Kleine, mittlere und große Lawinen folgen einander ohne jedes System. Es gibt jedoch eine Beziehung im statistischen Mittel: Wenn man die Größe der Lawinen halbiert, dann multipliziert sich ihre Häufigkeit mit dem Faktor 2,14. Das bedeutet folgendes: Man kann eine beliebig starke Brille aufsetzen und ist doch hinterher so klug wie zuvor. Diese "Selbstähnlichkeit" charakterisiert die sogenannten Fraktale. Ein klassisches Beispiel für ein Fraktal ist bekanntlich die Küste Englands. Egal welchen Maßstab die Landkarte hat, die Küste sieht immer gleich zerklüftet aus. Buchanan bringt viele Beispiele für solche fraktalen Prozesse. Wenn man gefrorene Kartoffeln gegen eine Wand wirft, dann zerfallen sie in Stücke unterschiedlicher Größe. Und wieder gilt so ein fraktales Gesetz. Halb so schwere Brocken sind sechsmal so häufig. Der Unterschied zu den Sandlawinen besteht darin, daß die Kennzahl 2,14 durch 6 zu ersetzen ist.
Wie kam es zum Ersten Weltkrieg? Am naivsten ist es, das Attentat von Sarajewo für die Ursache zu halten. Eine andere Erklärung liefert die Chaostheorie: Der Erste Weltkrieg gleicht dem Erdbeben von Kobe im Jahr 1995, er gleicht dem Börsencrash von 1987 und dem 1988er Feuer im Yellowstone-Nationalpark. Kriege, Erdbeben, Wirtschaftskrisen und Waldbrände entstehen nach dem gleichen Prinzip wie die Lawinen in unserem Sandhaufen: Spannungen bauen sich auf und entladen sich irgendwann explosiv. Dabei ist weder der Zeitpunkt noch die Größe der nächsten Explosion vorhersehbar.
Weitere im Buch diskutierte Phänomene sind zum Beispiel Epidemien, das Aussterben biologischer Arten, Gattungen und Familien wie den Dinosauriern und der unvollkommene Rhythmus des menschlichen Herzschlags. Natürlich kann man mit der Chaostheorie nicht alles erklären. In allen diesen Fällen spielen viele komplizierte Faktoren mit. Trotzdem ist es immer hilfreich, wenn man wenigstens einen Teil der Spielregeln kennt. Früher gab man den Göttern die Schuld an dem, was man nicht verstand. Schlechte Ernten, Kriege, Epidemien beruhten nur auf deren Launen. Man lese nur einmal im Buch Exodus nach, womit Jehovah die Ägypter malträtiert hat. Diese Sicht der Dinge war vielleicht falsch, aber doch pragmatisch. Heutzutage reden wir von komplexen Systemen im kritischen Zustand und meinen im Grunde das gleiche.
Die Erkenntnisse, die man dem Buch entnehmen kann, sind eher negativer Natur. Das heißt aber nicht, daß die nicht nützlich wären. Wenn man weiß, daß Erdbeben prinzipiell nicht vorhersagbar sind, dann ist man eher motiviert, den eventuellen Schaden durch architektonische Maßnahmen zu verringern. Wenn man begriffen hat, daß an der Börse, wie man so schön sagt, nicht geklingelt wird, und zwar schon deshalb, weil a priori nicht geklingelt werden kann, dann kauft man vielleicht nicht so viele Aktien auf Pump.
Leider ist das Buch selbst ein wenig zu fraktal ausgefallen. Die einzelnen Abschnitte sind sich zu ähnlich. Ein Phänomen nach dem anderen wird abgehandelt, ohne daß wir viel über die übergreifenden Theorien erfahren. Welche Rolle spielen etwa die immer wieder unterschiedlichen Kennzahlen, von denen wir oben die Beispiele 2,14 und 6 erwähnt haben? Wenn die Wissenschaft noch keine endgültigen Antworten haben sollte, dann könnte sie immerhin einen vorläufigen Überblick geben. Ein bißchen mehr Theorie und Systematik möcht schon sein.
Mark Buchanan: "Das Sandkorn, das die Erde zum Beben bringt". Dem Gesetz der Katastrophen auf der Spur oder Warum die Welt einfacher ist, als wir denken. Aus dem Englischen von Carl Freytag. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 2001. 280 S., 25 Graphiken, geb., 39,80 Mark.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mark Buchanan sucht Ordnung im Chaos / Von Ernst Horst
Von den letzten fünf Rezessionen haben die Wirtschaftswissenschaftler alle neun vorhergesagt. Weniger salopp ausgedrückt, läßt die Qualität der Prognosen der Wirtschaftswissenschaft zu wünschen übrig. Wenn wir wissen wollen, wann die nächste Sonnenfinsternis ist, brauchen wir nur in der Sternwarte anzurufen. Die nächste Rezession ist genauso sicher wie die nächste Sonnenfinsternis, wir wissen nur nicht, wann sie kommt. Was die Rezessionen betrifft, könnte man meinen, daß uns nur ein neuer Newton fehlt, der die zugrunde liegenden Gesetze herausfindet. Alles Weitere erledigt dann das Elektronenhirn im Finanzamt. Mark Buchanan will nun davon davon überzeugen, daß die Situation fundamental anders ist. Hinter Systemen wie der Weltwirtschaft verbirgt sich in der Tat ein einfaches Gesetz. Dieses Gesetz erlaubt aber keine genauen Vorhersagen.
Die Ideen, mit denen uns Buchanan vertraut macht, stammen aus der theoretischen Physik. Die Chaos-Theorie ist vielleicht nicht die Patentmedizin, als die sie oft verkauft wurde, hat aber sicher ihre Meriten. Beginnen wir aber zunächst mit einem einfachen physikalischen Beispiel, das von Per Bak, Chao (nomen est omen) Tang und Kurt Weisenfeld stammt und der deutschen Übersetzung des Buches den Titel geliefert hat: Sandkörner werden auf eine Platte gestreut und fallen nacheinander jeweils auf eine zufällige Stelle. Langsam bilden sich Berge und irgendwann ist eine Flanke so steil, daß eine Lawine entsteht. Ein Teil des Sandes fällt in den Abgrund, der Berg wird flacher, und das Geschehen beginnt von vorne.
Eine bezeichnende Eigenschaft des betrachteten Modells ist, daß es keine typische Größe für Lawinen gibt. Kleine, mittlere und große Lawinen folgen einander ohne jedes System. Es gibt jedoch eine Beziehung im statistischen Mittel: Wenn man die Größe der Lawinen halbiert, dann multipliziert sich ihre Häufigkeit mit dem Faktor 2,14. Das bedeutet folgendes: Man kann eine beliebig starke Brille aufsetzen und ist doch hinterher so klug wie zuvor. Diese "Selbstähnlichkeit" charakterisiert die sogenannten Fraktale. Ein klassisches Beispiel für ein Fraktal ist bekanntlich die Küste Englands. Egal welchen Maßstab die Landkarte hat, die Küste sieht immer gleich zerklüftet aus. Buchanan bringt viele Beispiele für solche fraktalen Prozesse. Wenn man gefrorene Kartoffeln gegen eine Wand wirft, dann zerfallen sie in Stücke unterschiedlicher Größe. Und wieder gilt so ein fraktales Gesetz. Halb so schwere Brocken sind sechsmal so häufig. Der Unterschied zu den Sandlawinen besteht darin, daß die Kennzahl 2,14 durch 6 zu ersetzen ist.
Wie kam es zum Ersten Weltkrieg? Am naivsten ist es, das Attentat von Sarajewo für die Ursache zu halten. Eine andere Erklärung liefert die Chaostheorie: Der Erste Weltkrieg gleicht dem Erdbeben von Kobe im Jahr 1995, er gleicht dem Börsencrash von 1987 und dem 1988er Feuer im Yellowstone-Nationalpark. Kriege, Erdbeben, Wirtschaftskrisen und Waldbrände entstehen nach dem gleichen Prinzip wie die Lawinen in unserem Sandhaufen: Spannungen bauen sich auf und entladen sich irgendwann explosiv. Dabei ist weder der Zeitpunkt noch die Größe der nächsten Explosion vorhersehbar.
Weitere im Buch diskutierte Phänomene sind zum Beispiel Epidemien, das Aussterben biologischer Arten, Gattungen und Familien wie den Dinosauriern und der unvollkommene Rhythmus des menschlichen Herzschlags. Natürlich kann man mit der Chaostheorie nicht alles erklären. In allen diesen Fällen spielen viele komplizierte Faktoren mit. Trotzdem ist es immer hilfreich, wenn man wenigstens einen Teil der Spielregeln kennt. Früher gab man den Göttern die Schuld an dem, was man nicht verstand. Schlechte Ernten, Kriege, Epidemien beruhten nur auf deren Launen. Man lese nur einmal im Buch Exodus nach, womit Jehovah die Ägypter malträtiert hat. Diese Sicht der Dinge war vielleicht falsch, aber doch pragmatisch. Heutzutage reden wir von komplexen Systemen im kritischen Zustand und meinen im Grunde das gleiche.
Die Erkenntnisse, die man dem Buch entnehmen kann, sind eher negativer Natur. Das heißt aber nicht, daß die nicht nützlich wären. Wenn man weiß, daß Erdbeben prinzipiell nicht vorhersagbar sind, dann ist man eher motiviert, den eventuellen Schaden durch architektonische Maßnahmen zu verringern. Wenn man begriffen hat, daß an der Börse, wie man so schön sagt, nicht geklingelt wird, und zwar schon deshalb, weil a priori nicht geklingelt werden kann, dann kauft man vielleicht nicht so viele Aktien auf Pump.
Leider ist das Buch selbst ein wenig zu fraktal ausgefallen. Die einzelnen Abschnitte sind sich zu ähnlich. Ein Phänomen nach dem anderen wird abgehandelt, ohne daß wir viel über die übergreifenden Theorien erfahren. Welche Rolle spielen etwa die immer wieder unterschiedlichen Kennzahlen, von denen wir oben die Beispiele 2,14 und 6 erwähnt haben? Wenn die Wissenschaft noch keine endgültigen Antworten haben sollte, dann könnte sie immerhin einen vorläufigen Überblick geben. Ein bißchen mehr Theorie und Systematik möcht schon sein.
Mark Buchanan: "Das Sandkorn, das die Erde zum Beben bringt". Dem Gesetz der Katastrophen auf der Spur oder Warum die Welt einfacher ist, als wir denken. Aus dem Englischen von Carl Freytag. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 2001. 280 S., 25 Graphiken, geb., 39,80 Mark.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.04.2001Geduld und Düne
Eine Studie zu den kritischen Zuständen in Natur und Geschichte
Der deutsche Titel ist ziemlich bombastisch – im Original heißt das Buch ganz schlicht „Ubiquity” und ist merkwürdigerweise, neben der Gattin des Autors, Nietzsche und einem namenlosen Kaninchen gewidmet. Mark Buchanan studierte theoretische Physik in den USA, arbeitete dann als Journalist in Großbritannien und lebt jetzt als freier Autor in der Normandie.
Allgegenwart also ... diesmal nicht die Gottes oder Christi, sondern die diverser Katastrophen. Was haben Waldbrände, Börsencrashs und Kriege gemeinsam? Warum ist die Welt tatsächlich einfacher, als wir glauben? Geben Potenzgesetze, trotz der permanenten Herrschaft des puren Zufalls, Auskunft über Prinzipien selbst der menschlichen Geschichte? Buchanan ist mutig und versucht Antworten zu geben – dazu müssen wir zwei Sachverhalte verstehen: eben die Potenzgesetze und den kritischen Zustand.
Desaster, behauptet Buchanan, wie das Aussterben ganzer Tierarten oder Erdbeben folgen einem gemeinsamen und anscheinend notwendigen Grundschema. Dieses feste Muster führt dazu, dass „gleichsam” in der Natur viele Systeme „immer am Rande des Abgrunds stehen” – genau dies ist der besagte kritische Zustand: dass die Auflösung einer Spannung in einem kleinen Bereich eine Lawine auszulösen vermag, die weite Teile des Systems erfassen kann. Das Potenzgesetz wiederum besagt, dass es keine normalen oder typischen Größen von Bruchstücken gibt – in der Algebra ist von einem solchen Gesetz die Rede, wenn sich in einer grafischen Darstellung die Höhe proportional zu einer bestimmten Potenz N des horizontalen Abstands ändert, „dieser also N-mal mit sich selbst multipliziert wird”. Für Erdbeben, die es Buchanan sichtlich angetan haben, bedeutet dies: jedes Mal, wenn man die Energie verdoppelt, sinkt die Zahl der infrage kommenden Beben auf ein Viertel – und damit kommt er auf die quasi- magische Kennzahl Vier.
Diese Zahl stimmt hervorragend mit den Beobachtungen realer Ökosysteme überein. Man weiß zum Beispiel, dass es viermal weniger US-Bürger gibt, die mehr als eine Milliarde Dollar ihr eigen nennen, als Amerikaner mit nur „lausigen 500 Millionen”. Dies gilt aber auch für Japan, Großbritannien und für jedes andere Land der Erde. Etwas selbstherrlich ist Buchanan der Meinung, Waldbrände, Erdbeben, Börsencrashs, Massenaussterben und andere Heimsuchungen seien nichts als Schwankungen, die man in allen Systemen erwarten müsse, die „nicht im Gleichgewicht” stünden. „Wenn man sie vermeiden wollte, müsste man die Naturgesetze” ändern.
Ubiquität – Phänomene, Objekte, Kausalitäten, die es überall auf der Welt gibt, – das manifestiert sich auch darin, dass in einem kritischen Zustand, zwei Phasen (fast) identisch werden, so dass die Grenzfläche zwischen ihnen zu verschwinden droht. Dann kann jedes winzige Ereignis enorme Veränderungen auslösen. Ganz von selbst geht ein Modell in einen kritischen Zustand über: Ich häufe Sandkorn nach Sandkorn zufällig auf einen Berg, dieser wird langsam steiler, Lawinen beginnen abzugehen, die Lawinengröße wächst mit der Größe des Berges, und im kritischen Zustand wird er dann für „Lawinen aller Größenanordnungen anfällig” – wie etwa bei Enrico Fermis Uran-Experiment im improvisierten Kernreaktor von Chicago, das er, im Jahr 1942, gottlob rechtzeitig abbrach, bevor alles in die Luft flog. Buchanan ist der Ansicht, dass unsere Welt sich permanent in einem derartigen kritischen Zustand befindet und sich so die Möglichkeiten für Katastrophen gewissermaßen selbst organisieren. Wahrlich schöne Aussichten – kleine Ursachen führen zu großen Desastern, denn kleine Sprünge folgen einem „perfekten größenunabhängigen Potenzgesetz”. Sie sind schlichtweg häufiger als große.
Ein wenig kryptisch schreibt Buchanan, Systeme in einem kritischen Zustand seien unabhängig von ihren eigenen Eigenschaften aufgebaut: Detailwissen sei für ihr Verständnis gar nicht erforderlich – daher seien sie leichter zu berechnen. Es kommt lediglich auf zwei entscheidende Dinge an: die Form der Teilchen und die Geometrie ihrer Anordnung. Damit ist die Struktur kritischer Zustände „grundlegender” als die Physik, steht als ein Ordnungsprinzip für viele Bereiche der Welt irgendwie „hinter” der Physik. Gleichwohl, beruhigt Buchanan und riskiert damit eine gewisse Widersprüchlichkeit seiner Argumentation, befinden sich die meisten Dinge selten im kritischen Zustand.
Die „übergroße” Empfindlichkeit stellt sich laut Buchanan unter zahlreichen Bedingungen „von selbst ein”. Eine kleine Störung lasse das ganze System aus dem Ruder laufen. Dies gilt wohl auch für die „große” Geschichte, die der Menschheit. Im Juni 1914 verfährt sich der Fahrer des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo und stoppt den Wagen vor dem anwesenden Gavrilo Princip, der seinerseits eine kleine Handfeuerwaffe bei sich trägt und zweimal abdrücken kann. Die Folgen sind bekannt. Hast das etwas mit der Kennzahl Vier zu tun? Geschichte steht immer kurz vor der Katastrophe, so der Autor apodiktisch, das mache sie ja so „spannend”. Es könnte also durchaus sein, dass auch die Geschichte der „Menschheit von einem Potenzgesetz beherrscht wird, das auf die Existenz eines kritischen Zustands verweist”.
THOMAS
ECKARDT
MARK BUCHANAN: Das Sandkorn, das die Erde zum Beben bringt. Dem Gesetz der Katastrophen auf der Spur oder warum die Welt einfacher ist, als wir denken. Aus dem Englischen von Carl Freytag. Campus Verlag, Frankfurt New York 2001. 280 Seiten, Abb., 39,80 Mark.
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Eine Studie zu den kritischen Zuständen in Natur und Geschichte
Der deutsche Titel ist ziemlich bombastisch – im Original heißt das Buch ganz schlicht „Ubiquity” und ist merkwürdigerweise, neben der Gattin des Autors, Nietzsche und einem namenlosen Kaninchen gewidmet. Mark Buchanan studierte theoretische Physik in den USA, arbeitete dann als Journalist in Großbritannien und lebt jetzt als freier Autor in der Normandie.
Allgegenwart also ... diesmal nicht die Gottes oder Christi, sondern die diverser Katastrophen. Was haben Waldbrände, Börsencrashs und Kriege gemeinsam? Warum ist die Welt tatsächlich einfacher, als wir glauben? Geben Potenzgesetze, trotz der permanenten Herrschaft des puren Zufalls, Auskunft über Prinzipien selbst der menschlichen Geschichte? Buchanan ist mutig und versucht Antworten zu geben – dazu müssen wir zwei Sachverhalte verstehen: eben die Potenzgesetze und den kritischen Zustand.
Desaster, behauptet Buchanan, wie das Aussterben ganzer Tierarten oder Erdbeben folgen einem gemeinsamen und anscheinend notwendigen Grundschema. Dieses feste Muster führt dazu, dass „gleichsam” in der Natur viele Systeme „immer am Rande des Abgrunds stehen” – genau dies ist der besagte kritische Zustand: dass die Auflösung einer Spannung in einem kleinen Bereich eine Lawine auszulösen vermag, die weite Teile des Systems erfassen kann. Das Potenzgesetz wiederum besagt, dass es keine normalen oder typischen Größen von Bruchstücken gibt – in der Algebra ist von einem solchen Gesetz die Rede, wenn sich in einer grafischen Darstellung die Höhe proportional zu einer bestimmten Potenz N des horizontalen Abstands ändert, „dieser also N-mal mit sich selbst multipliziert wird”. Für Erdbeben, die es Buchanan sichtlich angetan haben, bedeutet dies: jedes Mal, wenn man die Energie verdoppelt, sinkt die Zahl der infrage kommenden Beben auf ein Viertel – und damit kommt er auf die quasi- magische Kennzahl Vier.
Diese Zahl stimmt hervorragend mit den Beobachtungen realer Ökosysteme überein. Man weiß zum Beispiel, dass es viermal weniger US-Bürger gibt, die mehr als eine Milliarde Dollar ihr eigen nennen, als Amerikaner mit nur „lausigen 500 Millionen”. Dies gilt aber auch für Japan, Großbritannien und für jedes andere Land der Erde. Etwas selbstherrlich ist Buchanan der Meinung, Waldbrände, Erdbeben, Börsencrashs, Massenaussterben und andere Heimsuchungen seien nichts als Schwankungen, die man in allen Systemen erwarten müsse, die „nicht im Gleichgewicht” stünden. „Wenn man sie vermeiden wollte, müsste man die Naturgesetze” ändern.
Ubiquität – Phänomene, Objekte, Kausalitäten, die es überall auf der Welt gibt, – das manifestiert sich auch darin, dass in einem kritischen Zustand, zwei Phasen (fast) identisch werden, so dass die Grenzfläche zwischen ihnen zu verschwinden droht. Dann kann jedes winzige Ereignis enorme Veränderungen auslösen. Ganz von selbst geht ein Modell in einen kritischen Zustand über: Ich häufe Sandkorn nach Sandkorn zufällig auf einen Berg, dieser wird langsam steiler, Lawinen beginnen abzugehen, die Lawinengröße wächst mit der Größe des Berges, und im kritischen Zustand wird er dann für „Lawinen aller Größenanordnungen anfällig” – wie etwa bei Enrico Fermis Uran-Experiment im improvisierten Kernreaktor von Chicago, das er, im Jahr 1942, gottlob rechtzeitig abbrach, bevor alles in die Luft flog. Buchanan ist der Ansicht, dass unsere Welt sich permanent in einem derartigen kritischen Zustand befindet und sich so die Möglichkeiten für Katastrophen gewissermaßen selbst organisieren. Wahrlich schöne Aussichten – kleine Ursachen führen zu großen Desastern, denn kleine Sprünge folgen einem „perfekten größenunabhängigen Potenzgesetz”. Sie sind schlichtweg häufiger als große.
Ein wenig kryptisch schreibt Buchanan, Systeme in einem kritischen Zustand seien unabhängig von ihren eigenen Eigenschaften aufgebaut: Detailwissen sei für ihr Verständnis gar nicht erforderlich – daher seien sie leichter zu berechnen. Es kommt lediglich auf zwei entscheidende Dinge an: die Form der Teilchen und die Geometrie ihrer Anordnung. Damit ist die Struktur kritischer Zustände „grundlegender” als die Physik, steht als ein Ordnungsprinzip für viele Bereiche der Welt irgendwie „hinter” der Physik. Gleichwohl, beruhigt Buchanan und riskiert damit eine gewisse Widersprüchlichkeit seiner Argumentation, befinden sich die meisten Dinge selten im kritischen Zustand.
Die „übergroße” Empfindlichkeit stellt sich laut Buchanan unter zahlreichen Bedingungen „von selbst ein”. Eine kleine Störung lasse das ganze System aus dem Ruder laufen. Dies gilt wohl auch für die „große” Geschichte, die der Menschheit. Im Juni 1914 verfährt sich der Fahrer des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo und stoppt den Wagen vor dem anwesenden Gavrilo Princip, der seinerseits eine kleine Handfeuerwaffe bei sich trägt und zweimal abdrücken kann. Die Folgen sind bekannt. Hast das etwas mit der Kennzahl Vier zu tun? Geschichte steht immer kurz vor der Katastrophe, so der Autor apodiktisch, das mache sie ja so „spannend”. Es könnte also durchaus sein, dass auch die Geschichte der „Menschheit von einem Potenzgesetz beherrscht wird, das auf die Existenz eines kritischen Zustands verweist”.
THOMAS
ECKARDT
MARK BUCHANAN: Das Sandkorn, das die Erde zum Beben bringt. Dem Gesetz der Katastrophen auf der Spur oder warum die Welt einfacher ist, als wir denken. Aus dem Englischen von Carl Freytag. Campus Verlag, Frankfurt New York 2001. 280 Seiten, Abb., 39,80 Mark.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Die Zeit, als man glaubte, irgendwann mit der Chaostheorie alles erklären zu können, ist vorbei, jetzt kann man sich besonnen ihrer partiellen Erklärungskraft zuwenden, finden offenkundig Rezensent Ernst Horst und Autor Mark Buchanan. Der Erkenntnisgewinn ist ein "negativer": Im Fall der Katastrophen verschiedenster Art lernt man, dass diverse Kausalitäten nicht hinreichen und präzise Vorhersagen weder im Fall von Wirtschaftsrezessionen, noch von Erdbeben oder Weltkriegen gemacht werden können. Man muss aber so sehr in der Chaostheorie stecken wie der Rezensent, um sich nicht zu fragen, was Erdbeben und Weltkriege sonst noch gemeinsam haben. Der kommt allerdings auch zu dem Schluss: "Ein bisschen mehr Theorie und Systematik möcht schon sein."
© Perlentaucher Medien GmbH"
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