Wie schon in seinem ersten Roman, Das Badezimmer, wo der Held das Badezimmer nicht mehr verlässt, spielen im Werk des großartigen Schriftstellers Jean-Philippe Toussaint geschlossene Orte eine große Rolle. Orte, an denen man ungestört über die Welt und deren gebrechliches Gefüge nachdenken kann. Als im Frühjahr 2020 von einem Tag auf den anderen sämtliche Pläne Toussaints über den Haufen geworfen werden, beginnt er, Stefan Zweigs Schachnovelle zu übersetzen, seine erste Übersetzung. Und so beschreibt er auf humorvolle Weise die Fallstricke dieser Übersetzung. Tag für Tag übersetzend entsteht dabei, fast ungewollt, ein Buch. Und was der Autor in dem Moment noch nicht ahnt: Das Buch, das er im Begriff ist zu schreiben, nimmt unter seiner Hand einen autobiographischen Charakter an. Zum ersten Mal spricht Toussaint von sich in der ersten Person: Eine spannende Autofiktion entsteht. Wir treten mit Toussaint in sein Schreibzimmer, blicken ihm über die Schulter, wenn er schreibend zurück in seine früheste Kindheit geht, vom Leben - und vom Tod - erzählt. Wir erfahren, wie sich seine Berufung zum Schriftsteller offenbarte. Eine Reise in 64 Kapiteln beginnt, die den 64 Feldern eines Schachbretts entsprechen. Denn um das Schachspiel dreht sich alles in diesem Buch, Schach ist Dreh- und Angelpunkt seiner ausschweifenden Erinnerungen. Entstanden ist ein »wunderbares und extrem intelligentes Buch mit einer sehr hohen Auffassung von dem, was Literatur sein muss« (Transfuge). »Intelligent und weit davon entfernt, langweilig zu sein.« (Culture de France) Und Frédéric Beigbeder äußerte begeistert: »Ich musste oft an Modiano denken, als ich es las.«
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
»In der Wiederaufführung dieser komplexen Familienpartien lässt Toussaint Teile seiner Jugend wieder aufleben. Er tut dies mit einer Anmut und einer Schärfe, die bestätigen, dass man manchmal erst den Vater schachmatt setzen muss, bevor man ihn ehren kann.« Le Point »Der Untertitel dieses spannenden Buches könnte lauten: Wie ich Schriftsteller wurde. Der Schriftsteller, der er nach dem Willen seines Vaters sein sollte und der ihn als großen Schriftsteller präsentierte. Ein bedeutender Schriftsteller.« L'Obs »Die Geschichte ist eine Mischung aus einer Chronik der Gefangenschaft und einer autobiografischen Übung, die Erinnerungen mit Reflexionen über das Schreiben und das Scheitern verbindet. Brillant.« Télérama
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit diesem Band ist dem belgischen Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint ein autobiographischer Text gelungen, der als Gegenteil des autosoziobiographischen Memoir à la Édouard Louis daherkommt, findet Rezensent Gustav Seibt. Dabei wollte Toussaint eigentlich Stefan Zweigs Schachnovelle übersetzen und dazu ein reflexives Tagebuch über das literarische Übersetzen schreiben - heraus kam eine autobiographische Erkundung seines eigenen Weges vom komfortabel und kulturaffin aufwachsenden Intellektuellensohn zum für Schach passionierten Schriftsteller, die nun Joachim Unseld ins Deutsche übertragen hat. Ein Gegenmodell zu Louis ist der Text Seibt zufolge vor allem wegen der wirksamen sozialen Abfederung von Widerständen in dieser Biographie, die sie zu einer komfortablen Geschichte werden lässt. Sorgen birgt hier nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart der Pandemie. Ein zwischen Präzision und Verschwommenheit der Erinnerung changierendes Brevier, das der Rezensent empfehlen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2024Das Springerproblem
Jean-Philippe
Toussaints Logbuch "Das Schachbrett"
erzählt, wie das Streben nach Perfektion ein
Leben vergiften kann.
Über die gegenseitige Anziehung zwischen Schachspiel und Literatur ließen sich Anthologien füllen. Vorstellungskraft, Formulierungskunst und kombinatorische Präzision gehen da abenteuerliche Verbindungen ein, bis ein volles Brett leer geräumt beziehungsweise leere Seiten vollgeschrieben sind. Bei Jean-Philippe Toussaint war das ein Thema von Anfang an, es ist sogar so etwas wie die Nullstunde seines literarischen Werks. "Échecs" (Schach) hieß sein angeblich in neun Versionen geschriebener, nie erschienener, nur im Internet einsehbarer Erstlingsroman. Der Anfangssatz lautete, wie der Autor sich später in seinem Buch "Die Dringlichkeit und die Geduld" erinnerte: "Ein wenig aus Zufall habe ich das Schachspiel entdeckt." Es war die Geschichte einer Endlospartie in einem fensterlos weißen Raum, die erst mit dem Tod der beiden Spieler endet.
So sehr aufs literarisch und existenziell Ganze geht es in diesem neuen Buch nicht. Es ist ein Querfeldein über 64 Kapitelfelder mit der unter Schachspielern als "Springerproblem" bekannten Schwierigkeit, alle 64 Felder eines Schachbretts zu durchlaufen, ohne mehr als einmal sich auf dasselbe Feld zu setzen. Keine autobiographische Vollständigkeit also, gesteht Toussaint, sondern nur das Vorhaben, "meinen Springer gemäß meinen Erinnerungen lässig von Feld zu Feld wandern zu lassen und zu versuchen, ein paar flüchtige und bewegende, fragile Erscheinungsbilder aus meinem Leben wieder zum Leben zu erwecken".
Der Zeitrahmen dafür waren die Monate der Covid-Pandemie: eine kollektive und individuelle Schwellenerfahrung. "Ich erwartete das Alter und bekam den Lockdown", lautet der Sprung ins erste Kapitelfeld. Der Schreibende sitzt mit lauter abgesagten Terminen etwas verloren in seiner Brüsseler Wohnung oder in Ostende und fasst den Entschluss, Stefan Zweigs "Schachnovelle" ins Französische zu übersetzen - auch das ein schon altes Vorhaben. Gleichzeitig will er einen Essay über das Übersetzen schreiben. Und überdies kommt eine dritte Buchidee hinzu: eine Art begleitendes Logbuch mit Beobachtungen, Überlegungen und freien Einfällen dazu. Die Zweig-Übersetzung ist in Frankreich unlängst erschienen. Zum Essay kam es nie. Das Logbuch halten wir hier in Händen.
Die Sprünge durch die Zeit- und Raumfelder sind zugleich kapriziös und wohlkalkuliert. Erinnerungen an Panikmomente in der Kindheit, wenn etwa beim Schönschreiben ein Tintenklecks auf der Seite entsteht und die Großmutter mit der Rasierklinge sich dranmacht - stets dieses kräftezehrende Streben nach Perfektion, "das mein ganzes Leben vergiftet hat" - wechseln ab mit Selbstanalyse, literarischen Betrachtungen, Reflexionen übers eigene Schreiben, Szenen aus dem Ehealltag und immer wieder Beobachtungen zum Schach und zum Leben mit Covid.
Zu "dieser Krise", was sie bedeute und wie die Welt in Zukunft aussehen werde, habe er im Unterschied zu so vielen anderen Intellektuellen nichts zu sagen, außer vielleicht, dass sie ihn persönlich eher in die Vergangenheit zurückführe, notiert der Autor. Wie findet man aber durch die Fülle der aus der Vergangenheit schimmernden Erinnerungsnebel? Eben am Leitfaden des in der Jugend eifrig betriebenen Schachspiels, zu dem nach langer Pause der Autor im Lockdown wieder zurückkehrt: "Schach - seine Symbolik, seine Romantik, seine beruhigende Abstraktion - war für mich immer eng mit dem Schreiben verbunden."
So folgen Episoden, wie es dazu kam: große Momente aus der Schachgeschichte, berühmte Turniere, denen der junge Mann einst nachreiste, Partien als Kind mit dem Vater, der beim Essen einmal sich wohlig zurücklehnend sagte: "Ach, wie gern hätte ich, wenn mein Sohn später Schriftsteller würde." Und mitgeliefert zu alldem jeweils die Kommentare des Autors aus der Jetztzeitstarre der Pandemie, durchsetzt von mehr oder weniger scharfen Beobachtungen zum gesellschaftlichen Umgang mit dieser, etwa die penetrant falsche Heiterkeit der Leute beim Ellbogengruß.
Autobiographische Texte wie dieser sind bei Toussaint besondere Aggregatphasen seines literarischen Werks und als solche ein Pendant zu den Romanen. Das hat seine Tücken. Sie liegen in der Schwebe zwischen Anekdote und der komponierten Systematik eines jeweiligen Themas. Denn Toussaint ist alles andere als ein Autor der belletristischen Autofiktion. Das Autobiographische wirkt in seinen Büchern wie eine musikalische Transposition in eine andere Tonart. In diesem Buch gelingt sie jedoch nicht immer. Die zahlreichen Bezüge auf die Schachliteratur wecken den Eindruck einer forcierten Gesetzmäßigkeit, wo manchmal die Details anekdotisch durchhängen. Wenn einer darüber nachsinnt, dass er immer seltener ein Bad nimmt und sich stattdessen mit einer Dusche begnügt, wie wir im 20. Kapitelfeld dieses Buchs erfahren, könnte das im Spannungsfeld einer Romanfigur bedeutsam sein. Hier interessiert es uns wenig. Dagegen bleibt das Parallelthema von Zweigs "Schachnovelle" unausgeschöpft.
Er wolle aus diesem im ewigen Präsens des Lockdowns geschriebenen Buch ein Journal frei schwebender Gedanken und zugleich eine Chronik der Pandemie machen, notiert der Autor. Seltsam, wie schnell jene Zeit sich auflöst, auch hier in der Sprache des treuen Übersetzers und Verlegers. Wir freuen uns auf Toussaints nächsten Roman. JOSEPH HANIMANN
Jean-Philippe Toussaint: "Das Schachbrett".
Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2024. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jean-Philippe
Toussaints Logbuch "Das Schachbrett"
erzählt, wie das Streben nach Perfektion ein
Leben vergiften kann.
Über die gegenseitige Anziehung zwischen Schachspiel und Literatur ließen sich Anthologien füllen. Vorstellungskraft, Formulierungskunst und kombinatorische Präzision gehen da abenteuerliche Verbindungen ein, bis ein volles Brett leer geräumt beziehungsweise leere Seiten vollgeschrieben sind. Bei Jean-Philippe Toussaint war das ein Thema von Anfang an, es ist sogar so etwas wie die Nullstunde seines literarischen Werks. "Échecs" (Schach) hieß sein angeblich in neun Versionen geschriebener, nie erschienener, nur im Internet einsehbarer Erstlingsroman. Der Anfangssatz lautete, wie der Autor sich später in seinem Buch "Die Dringlichkeit und die Geduld" erinnerte: "Ein wenig aus Zufall habe ich das Schachspiel entdeckt." Es war die Geschichte einer Endlospartie in einem fensterlos weißen Raum, die erst mit dem Tod der beiden Spieler endet.
So sehr aufs literarisch und existenziell Ganze geht es in diesem neuen Buch nicht. Es ist ein Querfeldein über 64 Kapitelfelder mit der unter Schachspielern als "Springerproblem" bekannten Schwierigkeit, alle 64 Felder eines Schachbretts zu durchlaufen, ohne mehr als einmal sich auf dasselbe Feld zu setzen. Keine autobiographische Vollständigkeit also, gesteht Toussaint, sondern nur das Vorhaben, "meinen Springer gemäß meinen Erinnerungen lässig von Feld zu Feld wandern zu lassen und zu versuchen, ein paar flüchtige und bewegende, fragile Erscheinungsbilder aus meinem Leben wieder zum Leben zu erwecken".
Der Zeitrahmen dafür waren die Monate der Covid-Pandemie: eine kollektive und individuelle Schwellenerfahrung. "Ich erwartete das Alter und bekam den Lockdown", lautet der Sprung ins erste Kapitelfeld. Der Schreibende sitzt mit lauter abgesagten Terminen etwas verloren in seiner Brüsseler Wohnung oder in Ostende und fasst den Entschluss, Stefan Zweigs "Schachnovelle" ins Französische zu übersetzen - auch das ein schon altes Vorhaben. Gleichzeitig will er einen Essay über das Übersetzen schreiben. Und überdies kommt eine dritte Buchidee hinzu: eine Art begleitendes Logbuch mit Beobachtungen, Überlegungen und freien Einfällen dazu. Die Zweig-Übersetzung ist in Frankreich unlängst erschienen. Zum Essay kam es nie. Das Logbuch halten wir hier in Händen.
Die Sprünge durch die Zeit- und Raumfelder sind zugleich kapriziös und wohlkalkuliert. Erinnerungen an Panikmomente in der Kindheit, wenn etwa beim Schönschreiben ein Tintenklecks auf der Seite entsteht und die Großmutter mit der Rasierklinge sich dranmacht - stets dieses kräftezehrende Streben nach Perfektion, "das mein ganzes Leben vergiftet hat" - wechseln ab mit Selbstanalyse, literarischen Betrachtungen, Reflexionen übers eigene Schreiben, Szenen aus dem Ehealltag und immer wieder Beobachtungen zum Schach und zum Leben mit Covid.
Zu "dieser Krise", was sie bedeute und wie die Welt in Zukunft aussehen werde, habe er im Unterschied zu so vielen anderen Intellektuellen nichts zu sagen, außer vielleicht, dass sie ihn persönlich eher in die Vergangenheit zurückführe, notiert der Autor. Wie findet man aber durch die Fülle der aus der Vergangenheit schimmernden Erinnerungsnebel? Eben am Leitfaden des in der Jugend eifrig betriebenen Schachspiels, zu dem nach langer Pause der Autor im Lockdown wieder zurückkehrt: "Schach - seine Symbolik, seine Romantik, seine beruhigende Abstraktion - war für mich immer eng mit dem Schreiben verbunden."
So folgen Episoden, wie es dazu kam: große Momente aus der Schachgeschichte, berühmte Turniere, denen der junge Mann einst nachreiste, Partien als Kind mit dem Vater, der beim Essen einmal sich wohlig zurücklehnend sagte: "Ach, wie gern hätte ich, wenn mein Sohn später Schriftsteller würde." Und mitgeliefert zu alldem jeweils die Kommentare des Autors aus der Jetztzeitstarre der Pandemie, durchsetzt von mehr oder weniger scharfen Beobachtungen zum gesellschaftlichen Umgang mit dieser, etwa die penetrant falsche Heiterkeit der Leute beim Ellbogengruß.
Autobiographische Texte wie dieser sind bei Toussaint besondere Aggregatphasen seines literarischen Werks und als solche ein Pendant zu den Romanen. Das hat seine Tücken. Sie liegen in der Schwebe zwischen Anekdote und der komponierten Systematik eines jeweiligen Themas. Denn Toussaint ist alles andere als ein Autor der belletristischen Autofiktion. Das Autobiographische wirkt in seinen Büchern wie eine musikalische Transposition in eine andere Tonart. In diesem Buch gelingt sie jedoch nicht immer. Die zahlreichen Bezüge auf die Schachliteratur wecken den Eindruck einer forcierten Gesetzmäßigkeit, wo manchmal die Details anekdotisch durchhängen. Wenn einer darüber nachsinnt, dass er immer seltener ein Bad nimmt und sich stattdessen mit einer Dusche begnügt, wie wir im 20. Kapitelfeld dieses Buchs erfahren, könnte das im Spannungsfeld einer Romanfigur bedeutsam sein. Hier interessiert es uns wenig. Dagegen bleibt das Parallelthema von Zweigs "Schachnovelle" unausgeschöpft.
Er wolle aus diesem im ewigen Präsens des Lockdowns geschriebenen Buch ein Journal frei schwebender Gedanken und zugleich eine Chronik der Pandemie machen, notiert der Autor. Seltsam, wie schnell jene Zeit sich auflöst, auch hier in der Sprache des treuen Übersetzers und Verlegers. Wir freuen uns auf Toussaints nächsten Roman. JOSEPH HANIMANN
Jean-Philippe Toussaint: "Das Schachbrett".
Aus dem Französischen von Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2024. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.06.2024Leben auf 64 Feldern
Während der Pandemie wollte Jean-Philippe Toussaint Stefan Zweigs „Schachnovelle“ übersetzen. Fast nebenbei entstand eine Autobiografie am Leitfaden des Schachspiels.
Das luftige, unbestimmte Genre des Memoirs, der autobiografischen Erkundung, wurde zuletzt vor allem als Sozialroman verwirklicht. Die Einzelnen, die da schrieben, zeigten, wie sich das Subjekt an widrigen gesellschaftlichen Umständen – materieller und kultureller Armut, Gewalt, Lieblosigkeit – abarbeitete, sich härtete und womöglich behauptete, sich entwickelte und am Ende siegte. Édouard Louis’ „Anleitung ein anderer zu werden“ (2022), dürfte bis auf Weiteres das beste, das kanonische Beispiel dieser Ausprägung des autobiografischen Schreibens sein.
Der Ich-Erzähler zeigt sich dabei als fintenreicher Schachspieler mit der Wirklichkeit, durch Fleiß, durch Rollenspiel, sogar durch Hochstapelei. Er erlernt die Regeln von „Gesellschaft“ – der besseren nämlich – und überwindet so die zurückgesetzte Startposition, in die ihn der Zufall der Geburt gesetzt hat. Es hat etwas Traumhaftes, dass nur zwei Jahre nach Louis’ Meisterwerk nun aus dem französischen Sprachraum ein exaktes, auch ähnlich dimensioniertes Gegenmodell kommt. Der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint stammt aus völlig anderen Verhältnissen: Der Vater war ein berühmter Journalist, Chefredakteur und Korrespondent der Brüsseler Zeitung Le Soir, die Mutter gründete eine als Intellektuellentreff bald berühmte Buchhandlung, der Sohn wurde in besten Schulen, teils in Brüssel, teils in Paris ausgebildet. Alles wirkt hier weich und gepolstert, von einer Kultur umhegt, die nicht deutsch-dröge „Bildung“ ist, sondern urfranzösisch Lebensart.
Und so ist dieses „Schachbrett“, das Toussaint in 64 Kapiteln wie in den 64 Feldern des Spiels entrollt, nicht aus der Not geboren, sondern aus der Gelegenheit. Im Corona-Lockdown hat Toussaint sich vorgenommen, die „Schachnovelle“ von Stefan Zweig zu übersetzen, dazu einen Essay übers literarische Übersetzen zu schreiben und beide Arbeiten mit einem reflexiven Tagebuch zu begleiten. Die Übersetzung kam zustande, der Essay nicht, und aus dem Tagebuch wurde eine komfortable Autobiografie am Leitfaden des Schachspiels.
Die Erzählung, die sich dabei aus vielen Zügen und Sprüngen ergibt, mündet in ein doppeltes Ziel: Der Erzähler wird Schriftsteller und er findet seine Frau. Das scheinbar Zufällige, fast Willkürliche eines täglichen Logbuchs erweist, wenig überraschend, glückhafte Folgerichtigkeit, die gut genutzte, spielerisch wirkende Freiheit der Selbstfindung.
Gibt es Widerstände? Der erheblichste scheint zu sein, dass der Vater dem Sohn zwar keinen Sieg im Schach gönnen mag, ihn aber schon früh zum berufenen Schriftsteller erklärt. Das stachelt nun den Schachehrgeiz mehr als den Autorenehrgeiz des Erzählers an, der später sogar einen Schachfilm dreht, im Berlin der frühen Neunzigerjahre. Hier lässt er sich selbst gegen einen teuer eingekauften Schachmeister siegen, allerdings, das war die Bedingung, im Nachspielen einer Partie, die dieser gewonnen hatte. Schach als Gedächtnisakrobatik, wie in Zweigs Novelle.
Die Präzision dieses Spiels steht nun in sehr reizvollem Kontrast zur kühl inszenierten Verschwommenheit aller Erinnerungen in Toussaints Erzählung. Sein Buch gleicht einer ungleichmäßig entwickelten Fotografie, auf der gestochen scharfe Areale neben wolkig verwischten Partien zu sehen sind. Dabei reflektiert der Autor das schreiberische Making-of dieser Erinnerungswolkigkeit immer mit – denn eigentlich war eine Autobiografie ja gar nicht geplant. Diese Nichtnotwendigkeit, das fast Willkürliche des Schachpfades in die erinnerte vergangene Subjektivität ist auch das Resultat einer sozial abgefederten Kampflosigkeit. Wir lesen Meditationen eines Hochbegabten, der unter weitgehend sorgenfreien Umständen seinen Weg finden konnte.
Sorgen bringt die Gegenwart, die Furcht vor der Pandemie, das heranrückende Alter, nicht das Erinnerte, sondern die lebensaltergemäße Wendung zum Erinnern. Man kann dieses Buch wie ein Brevier lesen, wie so viele Reflexionen zum Älterwerden – auch hier in einem Gegensatz zu den sozialromanhaften Memoirs, die zornige Jugendliche zeigen. Bei Édouard Louis fallen Erinnern und Erzählen zusammen, bei Toussaint muss der Erzähler erst in eine dunkle Tiefe tauchen, aus der er nur Fragmente heraufholen kann.
GUSTAV SEIBT
Jean-Philippe Toussaint: Das Schachbrett.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
FVA, Frankfurt 2024.
256 Seiten, 18,99 Euro.
In seinem Werk ist alles weich und gepolstert: der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint.
Foto: imago images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Während der Pandemie wollte Jean-Philippe Toussaint Stefan Zweigs „Schachnovelle“ übersetzen. Fast nebenbei entstand eine Autobiografie am Leitfaden des Schachspiels.
Das luftige, unbestimmte Genre des Memoirs, der autobiografischen Erkundung, wurde zuletzt vor allem als Sozialroman verwirklicht. Die Einzelnen, die da schrieben, zeigten, wie sich das Subjekt an widrigen gesellschaftlichen Umständen – materieller und kultureller Armut, Gewalt, Lieblosigkeit – abarbeitete, sich härtete und womöglich behauptete, sich entwickelte und am Ende siegte. Édouard Louis’ „Anleitung ein anderer zu werden“ (2022), dürfte bis auf Weiteres das beste, das kanonische Beispiel dieser Ausprägung des autobiografischen Schreibens sein.
Der Ich-Erzähler zeigt sich dabei als fintenreicher Schachspieler mit der Wirklichkeit, durch Fleiß, durch Rollenspiel, sogar durch Hochstapelei. Er erlernt die Regeln von „Gesellschaft“ – der besseren nämlich – und überwindet so die zurückgesetzte Startposition, in die ihn der Zufall der Geburt gesetzt hat. Es hat etwas Traumhaftes, dass nur zwei Jahre nach Louis’ Meisterwerk nun aus dem französischen Sprachraum ein exaktes, auch ähnlich dimensioniertes Gegenmodell kommt. Der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint stammt aus völlig anderen Verhältnissen: Der Vater war ein berühmter Journalist, Chefredakteur und Korrespondent der Brüsseler Zeitung Le Soir, die Mutter gründete eine als Intellektuellentreff bald berühmte Buchhandlung, der Sohn wurde in besten Schulen, teils in Brüssel, teils in Paris ausgebildet. Alles wirkt hier weich und gepolstert, von einer Kultur umhegt, die nicht deutsch-dröge „Bildung“ ist, sondern urfranzösisch Lebensart.
Und so ist dieses „Schachbrett“, das Toussaint in 64 Kapiteln wie in den 64 Feldern des Spiels entrollt, nicht aus der Not geboren, sondern aus der Gelegenheit. Im Corona-Lockdown hat Toussaint sich vorgenommen, die „Schachnovelle“ von Stefan Zweig zu übersetzen, dazu einen Essay übers literarische Übersetzen zu schreiben und beide Arbeiten mit einem reflexiven Tagebuch zu begleiten. Die Übersetzung kam zustande, der Essay nicht, und aus dem Tagebuch wurde eine komfortable Autobiografie am Leitfaden des Schachspiels.
Die Erzählung, die sich dabei aus vielen Zügen und Sprüngen ergibt, mündet in ein doppeltes Ziel: Der Erzähler wird Schriftsteller und er findet seine Frau. Das scheinbar Zufällige, fast Willkürliche eines täglichen Logbuchs erweist, wenig überraschend, glückhafte Folgerichtigkeit, die gut genutzte, spielerisch wirkende Freiheit der Selbstfindung.
Gibt es Widerstände? Der erheblichste scheint zu sein, dass der Vater dem Sohn zwar keinen Sieg im Schach gönnen mag, ihn aber schon früh zum berufenen Schriftsteller erklärt. Das stachelt nun den Schachehrgeiz mehr als den Autorenehrgeiz des Erzählers an, der später sogar einen Schachfilm dreht, im Berlin der frühen Neunzigerjahre. Hier lässt er sich selbst gegen einen teuer eingekauften Schachmeister siegen, allerdings, das war die Bedingung, im Nachspielen einer Partie, die dieser gewonnen hatte. Schach als Gedächtnisakrobatik, wie in Zweigs Novelle.
Die Präzision dieses Spiels steht nun in sehr reizvollem Kontrast zur kühl inszenierten Verschwommenheit aller Erinnerungen in Toussaints Erzählung. Sein Buch gleicht einer ungleichmäßig entwickelten Fotografie, auf der gestochen scharfe Areale neben wolkig verwischten Partien zu sehen sind. Dabei reflektiert der Autor das schreiberische Making-of dieser Erinnerungswolkigkeit immer mit – denn eigentlich war eine Autobiografie ja gar nicht geplant. Diese Nichtnotwendigkeit, das fast Willkürliche des Schachpfades in die erinnerte vergangene Subjektivität ist auch das Resultat einer sozial abgefederten Kampflosigkeit. Wir lesen Meditationen eines Hochbegabten, der unter weitgehend sorgenfreien Umständen seinen Weg finden konnte.
Sorgen bringt die Gegenwart, die Furcht vor der Pandemie, das heranrückende Alter, nicht das Erinnerte, sondern die lebensaltergemäße Wendung zum Erinnern. Man kann dieses Buch wie ein Brevier lesen, wie so viele Reflexionen zum Älterwerden – auch hier in einem Gegensatz zu den sozialromanhaften Memoirs, die zornige Jugendliche zeigen. Bei Édouard Louis fallen Erinnern und Erzählen zusammen, bei Toussaint muss der Erzähler erst in eine dunkle Tiefe tauchen, aus der er nur Fragmente heraufholen kann.
GUSTAV SEIBT
Jean-Philippe Toussaint: Das Schachbrett.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
FVA, Frankfurt 2024.
256 Seiten, 18,99 Euro.
In seinem Werk ist alles weich und gepolstert: der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint.
Foto: imago images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de