Niemand in Deutschland kennt den Namen Eugeni Xammar. Dabei hat kaum jemand die Deutschen besser kennen gelernt und beschrieben als dieser katalanische Journalist, der von 1922 bis 1935 für Tageszeitungen in Madrid und Barcelona aus Deutschland berichtete. Als sich in der Inflation das Geld buchstäblich in Luft auflöste, als die Franzosen die Ruhr besetzten, der junge Konrad Adenauer einen rheinischen Separatstaat gründen wollte und ein gewisser Adolf Hitler in einem Münchener Bierkeller die ersten Schritte auf dem Wege zur Weltherrschaft tat - aus diesen wilden Jahren stammen die hier erstmals auf Deutsch erscheinenden Berichte. In ihnen paart sich ein unbestechlicher, freier Blick, der noch den absurdesten Exzessen mit ironischer Gelassenheit begegnete. Xammars Berichte aus Deutschland sind eine Wiederentdeckung ersten Ranges.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2008Finanzministers Wollust
Deutschland als Land der Nullen und eines gewaltigen Dummkopfs: Eugeni Xammar berichtet aus den Inflationsjahren und interviewt den jungen Hitler.
Im Verlauf des Jahres 1923 produzierte die deutsche Regierung die schlimmste Hyperinflation, die die Welt je erlebt hatte. Bis November dieses Jahres war der Wert des Dollar von 4,20 Reichsmark vor dem Krieg auf 4 200 000 000 000 Mark gestiegen. In jenem Jahr, in dem verschiedenste politische Bewegungen aus der extremen Geldentwertung Kapital zu schlagen suchten und das Land in Anarchie versank, berichtete der katalanische Journalist Eugeni Xammar aus Berlin den Lesern der in Barcelona erscheinenden Tageszeitung "La Veu de Catalunya" vom Alltag der Deutschen. Xammar schreibt aus Distanz, aber mit großer Sympathie.
Kann man sich vorstellen, dass die deutschen Haushaltsausgaben 1923 exakt drei Billionen fünfhundert Milliarden Mark betrugen, die Staatseinkünfte aus Steuern und Zöllen sich auf 2,1 Billionen addierten, aber all diese phantastischen Summen, bei Lichte besehen, auf 140 Millionen Dollar schrumpfen und damit geringer ausfallen als der Haushalt des armen Spanien? Vorstellen kann sich das niemand, aber schwindelig wird einem rasch, wenn Xammar Absatz für Absatz die vielen Nullen dem Leser um die Ohren haut. Hellsichtig erspürt er die apokalyptische Lust, welche sich hinter dem jämmerlichen Inflationselend verbirgt: "Man kann sagen, was man will, aber es ist ein Vergnügen, mit Zahlen dieser Größenordnung zu jonglieren, und ich bin sicher, dass selbst der Finanzminister, als er den Haushalt umriss, dabei eine gewisse Wollust verspürte."
Das Trauma der Geldentwertung, welches nicht nur die Einkommen der Sparer, sondern zugleich die Schulden der Spekulanten entwertete, hat sich tief in die kollektive Erinnerung der Deutschen eingegraben: Es zerstörte die Lebenssicherheit und den Ordnungsrahmen aus Quantitäten und Qualitäten. Elias Canetti hat vermutet, die irrational hohen Zahlen hätten den Deutschen ein Jahrzehnt später auch Menschenleben als absurde Zahlen erscheinen lassen.
Xammar wurde 1888 in Barcelona geboren. Dort begann er auch als Journalist zu schreiben, bevor er vor dem Ersten Weltkrieg aus London berichtete. Von 1923 bis 1937 war er als Korrespondent in Berlin stationiert. Zu Recht bescheinigt sein deutscher Herausgeber dem Korrespondenten, er sei alles andere als ein Kaffeehauskorrespondent gewesen, der seine Informationen von den Kollegen am Nachbartisch bezog. Tagelang reist Xammar im Februar 1922 durch das von den Franzosen besetzte Ruhrgebiet, von Essen über Gelsenkirchen ("der Himmel ist niedrig und schmutzig") nach Düsseldorf, dabei präzise Stimmungen analysierend: Er wollte weniger die unmittelbaren, sensationellen Eindrücke schildern, "als vielmehr vor Ort die Meinungen und Urteile der einen wie der anderen Seite einholen". Aber die Lage zwischen Chaos und Krieg scheint ihm zugleich ein wenig geeigneter Zustand, "die Menschen eingehend zu befragen und vor allem in Ruhe schreiben zu können".
Die heutige wirtschaftshistorische Forschung über die Inflationsjahre deutet die Hyperinflation als monetäres Phänomen, ausgelöst vom verantwortungslosen Einsatz der Notenpresse durch die Reichsregierung, so der Berkeley-Historiker Gerald D. Feldman in "The Great Disorder". Zeitgenössisch galt die wundersame Geldvermehrung noch nicht einmal als Kavaliersdelikt, ließen sich damit doch im Nu die Kriegsschulden tilgen. Bitter notiert Xammar, wer die Zeche zu zahlen hatte: "Diese Gewinne basieren auf dem Elend zahlreicher Rentiers und eines Großteils des Mittelstands und des Kleinbürgertums. Eine nur schwer zu schätzende Anzahl von Familien ist in den letzten Jahren langsam, aber unerbittlich enteignet worden." Die Deutschen schoben die Schuld an der Teuerung auf die alliierten Reparationsauflagen, die das Land zwangen, jährlich über zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts an die Siegermächte abzuführen. Auch Xammar ist der Meinung, die Demütigung einer Zahlung von 210 Millionen Goldmark sei dem Land nicht zumutbar: "Es kann sie nicht bezahlen, weil ganz Deutschland kaum so viel wert ist."
Nach dem Hitlerputsch im November 1923 führt Xammar, zusammen mit seinem Freund Joseph Pla, ein Interview mit Adolf Hitler, das man aus heutiger Sicht als spektakulär bezeichnen muss. Dort bekennt sich Hitler in aller Offenheit und kalter Grausamkeit zum Plan einer Vernichtung der europäischen Juden: "Die Judenfrage ist ein Krebsgeschwür ... Glücklicherweise sind die sozialen und politischen Geschwüre nicht unheilbar. Man muss sie herausschneiden. Wenn wir wollen, dass Deutschland lebt, müssen wir die Juden vernichten." Weil Hitler dann aber zweifelt, ob es ihm gelinge, alle Juden umzubringen, räsoniert er über die Alternative einer Massenvertreibung. Vorbild dafür ist ihm die Vertreibung der Juden im Mittelalter aus Spanien. Xammar zeichnet solche Sätze ("Und dies ist Hitlers Monolog") unkommentiert auf, charakterisiert freilich Hitler als "gewaltigen, großartigen Dummkopf, der zu einer glanzvollen Karriere berufen ist".
Nach dem Hitler-Interview muss Xammar den Arbeitgeber wechseln. Als überzeugter Republikaner verlässt er bei Ausbruch des Bürgerkriegs das Land und geht nach Paris. In der Franco-Diktatur gibt es für ihn keinen journalistischen Platz mehr. Er arbeitet in New York als Übersetzer bei den Vereinten Nationen und schreibt für Blätter in Südamerika. Gegen Ende des Lebens kehrt er zurück in die katalanische Heimat. 1973 stirbt er in Ametlla del Vallès.
RAINER HANK
Eugeni Xammar: "Das Schlangenei". Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre. 1922 bis 1924. Aus dem Katalanischen übersetzt von Kirsten Brandt. Berenberg Verlag, Berlin 2007. 192 S., geb., 21,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutschland als Land der Nullen und eines gewaltigen Dummkopfs: Eugeni Xammar berichtet aus den Inflationsjahren und interviewt den jungen Hitler.
Im Verlauf des Jahres 1923 produzierte die deutsche Regierung die schlimmste Hyperinflation, die die Welt je erlebt hatte. Bis November dieses Jahres war der Wert des Dollar von 4,20 Reichsmark vor dem Krieg auf 4 200 000 000 000 Mark gestiegen. In jenem Jahr, in dem verschiedenste politische Bewegungen aus der extremen Geldentwertung Kapital zu schlagen suchten und das Land in Anarchie versank, berichtete der katalanische Journalist Eugeni Xammar aus Berlin den Lesern der in Barcelona erscheinenden Tageszeitung "La Veu de Catalunya" vom Alltag der Deutschen. Xammar schreibt aus Distanz, aber mit großer Sympathie.
Kann man sich vorstellen, dass die deutschen Haushaltsausgaben 1923 exakt drei Billionen fünfhundert Milliarden Mark betrugen, die Staatseinkünfte aus Steuern und Zöllen sich auf 2,1 Billionen addierten, aber all diese phantastischen Summen, bei Lichte besehen, auf 140 Millionen Dollar schrumpfen und damit geringer ausfallen als der Haushalt des armen Spanien? Vorstellen kann sich das niemand, aber schwindelig wird einem rasch, wenn Xammar Absatz für Absatz die vielen Nullen dem Leser um die Ohren haut. Hellsichtig erspürt er die apokalyptische Lust, welche sich hinter dem jämmerlichen Inflationselend verbirgt: "Man kann sagen, was man will, aber es ist ein Vergnügen, mit Zahlen dieser Größenordnung zu jonglieren, und ich bin sicher, dass selbst der Finanzminister, als er den Haushalt umriss, dabei eine gewisse Wollust verspürte."
Das Trauma der Geldentwertung, welches nicht nur die Einkommen der Sparer, sondern zugleich die Schulden der Spekulanten entwertete, hat sich tief in die kollektive Erinnerung der Deutschen eingegraben: Es zerstörte die Lebenssicherheit und den Ordnungsrahmen aus Quantitäten und Qualitäten. Elias Canetti hat vermutet, die irrational hohen Zahlen hätten den Deutschen ein Jahrzehnt später auch Menschenleben als absurde Zahlen erscheinen lassen.
Xammar wurde 1888 in Barcelona geboren. Dort begann er auch als Journalist zu schreiben, bevor er vor dem Ersten Weltkrieg aus London berichtete. Von 1923 bis 1937 war er als Korrespondent in Berlin stationiert. Zu Recht bescheinigt sein deutscher Herausgeber dem Korrespondenten, er sei alles andere als ein Kaffeehauskorrespondent gewesen, der seine Informationen von den Kollegen am Nachbartisch bezog. Tagelang reist Xammar im Februar 1922 durch das von den Franzosen besetzte Ruhrgebiet, von Essen über Gelsenkirchen ("der Himmel ist niedrig und schmutzig") nach Düsseldorf, dabei präzise Stimmungen analysierend: Er wollte weniger die unmittelbaren, sensationellen Eindrücke schildern, "als vielmehr vor Ort die Meinungen und Urteile der einen wie der anderen Seite einholen". Aber die Lage zwischen Chaos und Krieg scheint ihm zugleich ein wenig geeigneter Zustand, "die Menschen eingehend zu befragen und vor allem in Ruhe schreiben zu können".
Die heutige wirtschaftshistorische Forschung über die Inflationsjahre deutet die Hyperinflation als monetäres Phänomen, ausgelöst vom verantwortungslosen Einsatz der Notenpresse durch die Reichsregierung, so der Berkeley-Historiker Gerald D. Feldman in "The Great Disorder". Zeitgenössisch galt die wundersame Geldvermehrung noch nicht einmal als Kavaliersdelikt, ließen sich damit doch im Nu die Kriegsschulden tilgen. Bitter notiert Xammar, wer die Zeche zu zahlen hatte: "Diese Gewinne basieren auf dem Elend zahlreicher Rentiers und eines Großteils des Mittelstands und des Kleinbürgertums. Eine nur schwer zu schätzende Anzahl von Familien ist in den letzten Jahren langsam, aber unerbittlich enteignet worden." Die Deutschen schoben die Schuld an der Teuerung auf die alliierten Reparationsauflagen, die das Land zwangen, jährlich über zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts an die Siegermächte abzuführen. Auch Xammar ist der Meinung, die Demütigung einer Zahlung von 210 Millionen Goldmark sei dem Land nicht zumutbar: "Es kann sie nicht bezahlen, weil ganz Deutschland kaum so viel wert ist."
Nach dem Hitlerputsch im November 1923 führt Xammar, zusammen mit seinem Freund Joseph Pla, ein Interview mit Adolf Hitler, das man aus heutiger Sicht als spektakulär bezeichnen muss. Dort bekennt sich Hitler in aller Offenheit und kalter Grausamkeit zum Plan einer Vernichtung der europäischen Juden: "Die Judenfrage ist ein Krebsgeschwür ... Glücklicherweise sind die sozialen und politischen Geschwüre nicht unheilbar. Man muss sie herausschneiden. Wenn wir wollen, dass Deutschland lebt, müssen wir die Juden vernichten." Weil Hitler dann aber zweifelt, ob es ihm gelinge, alle Juden umzubringen, räsoniert er über die Alternative einer Massenvertreibung. Vorbild dafür ist ihm die Vertreibung der Juden im Mittelalter aus Spanien. Xammar zeichnet solche Sätze ("Und dies ist Hitlers Monolog") unkommentiert auf, charakterisiert freilich Hitler als "gewaltigen, großartigen Dummkopf, der zu einer glanzvollen Karriere berufen ist".
Nach dem Hitler-Interview muss Xammar den Arbeitgeber wechseln. Als überzeugter Republikaner verlässt er bei Ausbruch des Bürgerkriegs das Land und geht nach Paris. In der Franco-Diktatur gibt es für ihn keinen journalistischen Platz mehr. Er arbeitet in New York als Übersetzer bei den Vereinten Nationen und schreibt für Blätter in Südamerika. Gegen Ende des Lebens kehrt er zurück in die katalanische Heimat. 1973 stirbt er in Ametlla del Vallès.
RAINER HANK
Eugeni Xammar: "Das Schlangenei". Berichte aus dem Deutschland der Inflationsjahre. 1922 bis 1924. Aus dem Katalanischen übersetzt von Kirsten Brandt. Berenberg Verlag, Berlin 2007. 192 S., geb., 21,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Volker Ullrich preist diese Reportagen des katalanischen Journalisten Eugeni Xammar, der darin Beobachtungen aus seinen Jahren in Deutschland während der Inflation zwischen 1922 und 1924 festhielt, als aufschlussreiches Gegenstück zu Sebastian Haffners Erinnerungen. Wie sein deutscher Kollege beschreibe Xammar eindrucksvoll die Folgen der Währungsinflation, die nicht zuletzt in einen Verfall sämtlicher Werte mündete, aber eben aus der Perspektive des Außenstehenden, so der Rezensent interessiert. Auch die Berichte aus dem französisch besetzten Ruhrgebiet und die eindrucksvolle Schilderung von Hitlers Putschversuch im Münchner Hofbräukeller beeindrucken Ullrich nachhaltig, und er preist am Ende den Verleger Heinrich von Berenberg für seine Verdienste um diesen heute so gut wie unbekannten Journalisten.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH