Je mehr der Landvermesser K. versucht, ins Schloss zu gelangen, desto weiter entfernt er sich von seinem Ziel. Im Gestrüpp täglicher Niederlagen verliert er es schließlich ganz aus dem Blick. Was bleibt, ist das Schloss mit all seinen Akten, Anweisungen und Beamten - und ein Roman, der bis heute nichts von seiner großartigen Rätselhaftigkeit eingebüßt hat.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2017Spätabends, in scheinbarer Leere
Ein überzähliges Ich findet keinen Zutritt, und die Wirtin liebt kostbare Kleider:
Klaus Buhlert inszeniert „Das Schloss“ von Franz Kafka als großes Traumspiel
VON JENS BISKY
Es hat geschneit, wann genau, weiß keiner. Aber in dieser Gegend, sagen manche, kann Schnee selbst an den wenigen schönen Tagen fallen. Ein Mann in den Dreißigern, eine nicht sehr stattliche Erscheinung, kommt auf der Suche nach einem Nachtlager ins Wirtshaus. Man weiß ja, wie das in Dörfern zugeht. Bauern trinken ihr Bier dort, es ist warm, er findet einen Strohsack und etwas Ruhe, bis einer ihn – Ordnung muss sein – nach der Erlaubnis fragt, hier zu übernachten. Da es im Augenblick, jetzt um Mitternacht, gar nicht möglich sei, die Erlaubnis zu erhalten, müsse er gehen.
Er sei doch aber, sagt der recht zerlumpt Ausschauende, als wäre ihm die rettende Auskunft eben erst eingefallen, der Landvermesser, den der Graf habe kommen lassen. Vom Kampf des Landvermessers K. um die Erlaubnis, da zu sein und als Landvermesser anerkannt zu werden, erzählt Franz Kafkas Romanfragment „Das Schloss“ in gnadenlos konkreter Prosa. „Deute mich“, scheint jede Seite zu rufen, aber die Sätze kommen ohne Metaphern aus, welche die Deutung leiten könnten. Nur selten fallen Allgemeinbegriffe, „Amt“ etwa oder „Leben“.
Im Jahr 1922, als Kafka am „Schloss“ schrieb, kam Friedrich Wilhelm Murnaus Film „Nosferatu“ in die Kinos. Soll man sich das Schloss des Grafen Westwest, der den Landvermesser angeblich hat kommen lassen, vorstellen wie das düstere Schloss des Grafen Orlok in Murnaus „Symphonie des Grauens“? Oder gleicht es dem Prager Hradschin? Einem anderen Schloss im Böhmischen? Kann sein, kann auch nicht sein. K. sieht ja nichts vom Schlossberg, nichts, was auf das Schloss deuten würde, er blickt in Leere, „scheinbare Leere“.
Die Örtlichkeiten haben für die Deutung des Fragments von Anfang an eine große Rolle gespielt. In jüngster Zeit haben sich Literaturwissenschaftler ausführlich mit den Topografien und Räumen in Kafkas unvollendetem Roman beschäftigt. Aber ob das Schloss nun der Ort der Gnade ist, wie Kafkas Freund Max Brod vermutete, oder der Sitz einer Behörde, die das Grauen der modernen Existenz orchestriert, oder ein Nichts, zu dem kein Weg führt – ein Hörspiel kann diese Fragen zunächst unbeantwortet lassen.
Es kann auf die Kraft der vielen kleinen Szenen vertrauen, auf K.s Ärger mit den Gehilfen, auf den Kuddelmuddel mit den Frauen, die Gespräche mit Amtsinhabern in Szene setzen und die Versuche, vor den Wirtinnen zu bestehen, nebst viel Schnee und Müdigkeit. Darüber hinaus hat der Regisseur Klaus Buhlert für seine „Schloss“-Inszenierung einen Erzählrahmen gefunden, eine dramaturgische, nicht-allegorische Deutung des Fragments. Das Spiel beginnt zweimal.
Über einem Musiktableau spricht eine Frauenstimme, als beginne ein Schauerroman: „Spätabends. Das Dorf. Schnee. Nebel und Finsternis.“ Tritte sind zu hören, schweres Atmen. „K. auf der Holzbrücke. Blickte in scheinbare Leere empor. Dann ging er.“ Ein paar Schritte noch, in die Atemgeräusche hinein spricht der Erzähler die ersten Sätze des Romans: „Es war spätabends als K. ankam.“ Und schon während des ersten Absatzes wechseln Klang und Haltung der Erzählerstimme, als spräche Michael Rotschopf mal direkt ins Mikrofon, mal aus einer Ferne. Die Musik verklingt, wir sind im Wirtshaus.
Damit hat Klaus Buhlert zwei Ebenen etabliert. Er führt einerseits das Geschehen in seiner Sinnlichkeit, mit Gesten, Übereilungen, Stockungen vor, direkt, drastisch, grotesk, und er fasst, gleich zu Beginn und dann immer wieder im Lauf der gut zehn Stunden, Motive, Satzfetzen, Klänge zu Traumbildern zusammen. Das ist dem Text nicht äußerlich. K. muss sich bei Kafka, kaum dass er zum ersten Mal aufgeweckt wurde, „davon überzeugen, ob er die früheren Mitteilungen nicht vielleicht geträumt hätte“.
Auch Vorsicht vor dem Erzähler legt diese Inszenierung von Anfang an nahe. Er mag allwissend klingen, aber er spricht doch von verschiedenen Punkten aus, mit unterschiedenen Perspektiven, die Buhlert hörbar, beinahe körperlich spürbar werden lässt.
Klaus Buhlert ist von der Musik zum Hörspiel gekommen, er hat für den Spielmacher George Tabori komponiert und ist heute der unangefochtene Großmeister der Literaturadaptionen, weil er die Werke, sei es von Musil, Joyce, E. T. A. Hoffmann, Bulgakow oder Canetti, mit den Mitteln der Radiokunst neu deutet. Vor sieben Jahren hat er Kafkas „Process“ als Fragment inszeniert und dabei auf Hörspieltypisches wie atmosphärische Geräusche und Musik überwiegend verzichtet. In einem Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk, mit dem er viele preisgekrönte Hörspiele produziert hat, erklärte er seine Sicht auf den Unterschied zwischen Kafkas Romanfragmenten: Während Josef K. im „Process“ von einem System heimgesucht und in dessen Abläufe verwickelt wird, sucht der K. des „Schloss“-Fragmentes einen Zugang, will seinen Platz finden.
Daher rührt das Querulantentum K.s, von dem man künftig schwer wird lesen können, ohne die Stimme Devid Striesows im Ohr zu haben. Das Ungehörige des Unzugehörigen, das Berechnende dessen, der wenig einzubringen hat, obwohl für ihn alles auf dem Spiel steht, das gesamte Instrumentarium eines schwachen, weil nicht anerkannten Ich bringt Striesow zum Klingen. Er behält dabei das Undurchdringliche eines Mannes, dessen Vergangenheit so unbekannt ist wie seine Absichten und die ihm zugedachte Position. Der Schuldienerposten, den der gerufene Landvermesser annimmt, ist doch nur eine peinliche Verlegenheitslösung.
Wenn ihm die Wirtin vom Brückenhof, Corinna Harfouch, mit mütterlich-fürsorglicher Aggressivität die Lage erklärt und den Kopf zurechtsetzt; wenn er sich mit der Wirtin vom Herrenhof, Margit Bendokat, in ein Gespräch über Damenmode verstrickt – möglicherweise ist K., Klaus Buhlert deutet es an, ein Damenschneider; wenn der Vorsteher Wolfram Berger nach Akten suchen lässt und, während diese nicht gefunden werden, die Perfektion der Verwaltungsmaschinerie erläutert; wenn der Beamte Bürgel, Johannes Silberschneider, die Freuden der Unzuständigkeit unter anwachsender Müdigkeit entwickelt – dann erlebt der Hörer Augenblicke der Schauspielkunst, gesteigert durch intelligente Regie. Dann erscheint alles klar und deutlich, obwohl doch das Geschehen immer undeutlicher wird.
Franz Kafkas Romanfragment, verfasst sieben Jahre nach dem „Process“, gilt einer arg kleinen Welt. Ins Schloss kommt keiner, und das Dorf hat kaum mehr als zwei Gasthäuser und zwei Gassen. Aber diese kleine Welt ist nicht, wie sprachliche Routine es nahelegt, überschaubar. Im Gegenteil. Sie bietet trotz ihrer Enge Raum genug für romantische, groteske, bedrohliche, lächerliche, unverständliche, aber immer dramatisch fruchtbare Ereignisse. Schnee und Müdigkeit dämpfen üblicherweise die Lebensenergien, in diesem Fall befördern sie die Konzentration.
Mit seinen Traumsequenzen und Musiktableaus gliedert und rhythmisiert Klaus Buhlert das Geschehen, auch dann, wenn der Text des Fragments aus langen Monologen besteht. Am Ende, so hat es Kafka geschrieben, reichte eine Mutter, Gerstäckers Mutter, dem K. die Hand „und ließ ihn neben sich niedersetzen, mühselig sprach sie, man hatte Mühe sie zu verstehen, aber was sie sagte“ – Wer wissen will, was sie gesagt haben könnte, der kann nun dieses zwölfteilige Hörspiel anhören. Was Kafka uns mit dem „Schloss“ eventuell hat sagen wollen, weiß man danach auch nicht. Aber was er gesagt hat, war bislang so klar und schön nicht zu hören.
Franz Kafka: Das Schloss. Hörspiel. Bearbeitung, Musik und Regie: Klaus Buhlert. Mit Michael Rotschopf, Devid Striesow, Gerti Drassl, Deleila Piasko, Sandra Hüller, Samuel Finzi, Margit Bendokat, Corinna Harfouch, Jens Harzer, Bibliana Beglau u. v. a. Der Hörverlag, München 2017. 12 CDs, 615 Minuten, 49,99 Euro.
Vorsicht vor dem Erzähler
legt diese Inszenierung
von Anfang an nahe
„Mühselig sprach sie, man
hatte Mühe, sie zu verstehen,
aber was sie sagte …“
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Ein überzähliges Ich findet keinen Zutritt, und die Wirtin liebt kostbare Kleider:
Klaus Buhlert inszeniert „Das Schloss“ von Franz Kafka als großes Traumspiel
VON JENS BISKY
Es hat geschneit, wann genau, weiß keiner. Aber in dieser Gegend, sagen manche, kann Schnee selbst an den wenigen schönen Tagen fallen. Ein Mann in den Dreißigern, eine nicht sehr stattliche Erscheinung, kommt auf der Suche nach einem Nachtlager ins Wirtshaus. Man weiß ja, wie das in Dörfern zugeht. Bauern trinken ihr Bier dort, es ist warm, er findet einen Strohsack und etwas Ruhe, bis einer ihn – Ordnung muss sein – nach der Erlaubnis fragt, hier zu übernachten. Da es im Augenblick, jetzt um Mitternacht, gar nicht möglich sei, die Erlaubnis zu erhalten, müsse er gehen.
Er sei doch aber, sagt der recht zerlumpt Ausschauende, als wäre ihm die rettende Auskunft eben erst eingefallen, der Landvermesser, den der Graf habe kommen lassen. Vom Kampf des Landvermessers K. um die Erlaubnis, da zu sein und als Landvermesser anerkannt zu werden, erzählt Franz Kafkas Romanfragment „Das Schloss“ in gnadenlos konkreter Prosa. „Deute mich“, scheint jede Seite zu rufen, aber die Sätze kommen ohne Metaphern aus, welche die Deutung leiten könnten. Nur selten fallen Allgemeinbegriffe, „Amt“ etwa oder „Leben“.
Im Jahr 1922, als Kafka am „Schloss“ schrieb, kam Friedrich Wilhelm Murnaus Film „Nosferatu“ in die Kinos. Soll man sich das Schloss des Grafen Westwest, der den Landvermesser angeblich hat kommen lassen, vorstellen wie das düstere Schloss des Grafen Orlok in Murnaus „Symphonie des Grauens“? Oder gleicht es dem Prager Hradschin? Einem anderen Schloss im Böhmischen? Kann sein, kann auch nicht sein. K. sieht ja nichts vom Schlossberg, nichts, was auf das Schloss deuten würde, er blickt in Leere, „scheinbare Leere“.
Die Örtlichkeiten haben für die Deutung des Fragments von Anfang an eine große Rolle gespielt. In jüngster Zeit haben sich Literaturwissenschaftler ausführlich mit den Topografien und Räumen in Kafkas unvollendetem Roman beschäftigt. Aber ob das Schloss nun der Ort der Gnade ist, wie Kafkas Freund Max Brod vermutete, oder der Sitz einer Behörde, die das Grauen der modernen Existenz orchestriert, oder ein Nichts, zu dem kein Weg führt – ein Hörspiel kann diese Fragen zunächst unbeantwortet lassen.
Es kann auf die Kraft der vielen kleinen Szenen vertrauen, auf K.s Ärger mit den Gehilfen, auf den Kuddelmuddel mit den Frauen, die Gespräche mit Amtsinhabern in Szene setzen und die Versuche, vor den Wirtinnen zu bestehen, nebst viel Schnee und Müdigkeit. Darüber hinaus hat der Regisseur Klaus Buhlert für seine „Schloss“-Inszenierung einen Erzählrahmen gefunden, eine dramaturgische, nicht-allegorische Deutung des Fragments. Das Spiel beginnt zweimal.
Über einem Musiktableau spricht eine Frauenstimme, als beginne ein Schauerroman: „Spätabends. Das Dorf. Schnee. Nebel und Finsternis.“ Tritte sind zu hören, schweres Atmen. „K. auf der Holzbrücke. Blickte in scheinbare Leere empor. Dann ging er.“ Ein paar Schritte noch, in die Atemgeräusche hinein spricht der Erzähler die ersten Sätze des Romans: „Es war spätabends als K. ankam.“ Und schon während des ersten Absatzes wechseln Klang und Haltung der Erzählerstimme, als spräche Michael Rotschopf mal direkt ins Mikrofon, mal aus einer Ferne. Die Musik verklingt, wir sind im Wirtshaus.
Damit hat Klaus Buhlert zwei Ebenen etabliert. Er führt einerseits das Geschehen in seiner Sinnlichkeit, mit Gesten, Übereilungen, Stockungen vor, direkt, drastisch, grotesk, und er fasst, gleich zu Beginn und dann immer wieder im Lauf der gut zehn Stunden, Motive, Satzfetzen, Klänge zu Traumbildern zusammen. Das ist dem Text nicht äußerlich. K. muss sich bei Kafka, kaum dass er zum ersten Mal aufgeweckt wurde, „davon überzeugen, ob er die früheren Mitteilungen nicht vielleicht geträumt hätte“.
Auch Vorsicht vor dem Erzähler legt diese Inszenierung von Anfang an nahe. Er mag allwissend klingen, aber er spricht doch von verschiedenen Punkten aus, mit unterschiedenen Perspektiven, die Buhlert hörbar, beinahe körperlich spürbar werden lässt.
Klaus Buhlert ist von der Musik zum Hörspiel gekommen, er hat für den Spielmacher George Tabori komponiert und ist heute der unangefochtene Großmeister der Literaturadaptionen, weil er die Werke, sei es von Musil, Joyce, E. T. A. Hoffmann, Bulgakow oder Canetti, mit den Mitteln der Radiokunst neu deutet. Vor sieben Jahren hat er Kafkas „Process“ als Fragment inszeniert und dabei auf Hörspieltypisches wie atmosphärische Geräusche und Musik überwiegend verzichtet. In einem Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk, mit dem er viele preisgekrönte Hörspiele produziert hat, erklärte er seine Sicht auf den Unterschied zwischen Kafkas Romanfragmenten: Während Josef K. im „Process“ von einem System heimgesucht und in dessen Abläufe verwickelt wird, sucht der K. des „Schloss“-Fragmentes einen Zugang, will seinen Platz finden.
Daher rührt das Querulantentum K.s, von dem man künftig schwer wird lesen können, ohne die Stimme Devid Striesows im Ohr zu haben. Das Ungehörige des Unzugehörigen, das Berechnende dessen, der wenig einzubringen hat, obwohl für ihn alles auf dem Spiel steht, das gesamte Instrumentarium eines schwachen, weil nicht anerkannten Ich bringt Striesow zum Klingen. Er behält dabei das Undurchdringliche eines Mannes, dessen Vergangenheit so unbekannt ist wie seine Absichten und die ihm zugedachte Position. Der Schuldienerposten, den der gerufene Landvermesser annimmt, ist doch nur eine peinliche Verlegenheitslösung.
Wenn ihm die Wirtin vom Brückenhof, Corinna Harfouch, mit mütterlich-fürsorglicher Aggressivität die Lage erklärt und den Kopf zurechtsetzt; wenn er sich mit der Wirtin vom Herrenhof, Margit Bendokat, in ein Gespräch über Damenmode verstrickt – möglicherweise ist K., Klaus Buhlert deutet es an, ein Damenschneider; wenn der Vorsteher Wolfram Berger nach Akten suchen lässt und, während diese nicht gefunden werden, die Perfektion der Verwaltungsmaschinerie erläutert; wenn der Beamte Bürgel, Johannes Silberschneider, die Freuden der Unzuständigkeit unter anwachsender Müdigkeit entwickelt – dann erlebt der Hörer Augenblicke der Schauspielkunst, gesteigert durch intelligente Regie. Dann erscheint alles klar und deutlich, obwohl doch das Geschehen immer undeutlicher wird.
Franz Kafkas Romanfragment, verfasst sieben Jahre nach dem „Process“, gilt einer arg kleinen Welt. Ins Schloss kommt keiner, und das Dorf hat kaum mehr als zwei Gasthäuser und zwei Gassen. Aber diese kleine Welt ist nicht, wie sprachliche Routine es nahelegt, überschaubar. Im Gegenteil. Sie bietet trotz ihrer Enge Raum genug für romantische, groteske, bedrohliche, lächerliche, unverständliche, aber immer dramatisch fruchtbare Ereignisse. Schnee und Müdigkeit dämpfen üblicherweise die Lebensenergien, in diesem Fall befördern sie die Konzentration.
Mit seinen Traumsequenzen und Musiktableaus gliedert und rhythmisiert Klaus Buhlert das Geschehen, auch dann, wenn der Text des Fragments aus langen Monologen besteht. Am Ende, so hat es Kafka geschrieben, reichte eine Mutter, Gerstäckers Mutter, dem K. die Hand „und ließ ihn neben sich niedersetzen, mühselig sprach sie, man hatte Mühe sie zu verstehen, aber was sie sagte“ – Wer wissen will, was sie gesagt haben könnte, der kann nun dieses zwölfteilige Hörspiel anhören. Was Kafka uns mit dem „Schloss“ eventuell hat sagen wollen, weiß man danach auch nicht. Aber was er gesagt hat, war bislang so klar und schön nicht zu hören.
Franz Kafka: Das Schloss. Hörspiel. Bearbeitung, Musik und Regie: Klaus Buhlert. Mit Michael Rotschopf, Devid Striesow, Gerti Drassl, Deleila Piasko, Sandra Hüller, Samuel Finzi, Margit Bendokat, Corinna Harfouch, Jens Harzer, Bibliana Beglau u. v. a. Der Hörverlag, München 2017. 12 CDs, 615 Minuten, 49,99 Euro.
Vorsicht vor dem Erzähler
legt diese Inszenierung
von Anfang an nahe
„Mühselig sprach sie, man
hatte Mühe, sie zu verstehen,
aber was sie sagte …“
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.05.2018Land vermessen in der Fremde
Das Werk eines Schriftstellers, der nicht mehr schrieb: Zur Frankfurter Edition von Franz Kafkas "Schloss"-Roman.
Es war noch hell, als Kafka am 27. Januar 1922 in Spindlermühle im Riesengebirge ankam. Ein Foto zeigt ihn bei dichtem Schneetreiben neben einem Schlitten, der ihn zum Sanatorium bringen sollte. Der seit dem Spätsommer 1917 schwer lungenkranke Kafka hatte einen Aufenthalt von drei Wochen dort eingeplant, in dünner Höhenluft, ohne größeres medizinisches Programm. Im Hotel "Krone", das am rechten Elbufer liegt, bezieht er Quartier. In das Gästebuch trägt man ihn irrtümlich als "Josef Kafka" ein. Im Tagebuch notiert er lakonisch: "Soll ich sie aufklären oder soll ich mich von ihnen aufklären lassen?" Der Autor verschmilzt durch den Verschreiber mit seinem eigenen Helden Josef K., dem Angeklagten des "Process"-Romans, den er 1914 begonnen, aber nicht abgeschlossen hatte.
1922 ist Kafka ein Schriftsteller, der nicht mehr schreibt. Seine literarische Tätigkeit, immer in Schüben hervorbrechend, lag seit einiger Zeit brach. Schon ein Jahr zuvor hatte er im slowakischen Matliary während einer Kur monatelang ganz auf schriftstellerische Arbeit verzichtet. Aber die Abgeschiedenheit des Ortes, die klare Schneeluft, die in der Ferne dämmernden Schemen von Häusern, Brücken und Wald setzen in Spindlermühle seine literarische Einbildungskraft neu in Gang. Wenige Tage nach der Ankunft entwickelt Kafka die Skizze einer Begrüßungsszene in einem Wirtshaus, die dann in die Beschreibung der Ankunft des Helden im nächtlichen Dorf übergeht. Innerhalb von drei Wochen entstehen vermutlich die ersten 37 Manuskriptseiten des "Schloss"-Romans.
Was mit der nächtlichen Ankunft des Helden wie eine gothic novel einsetzt, wird bald zu einer wahren Diskurshölle, zu einem Labyrinth der Erzählungen, Deutungen, Verhöre, der Familienmythen und Legenden. Der "Schloss"-Roman knüpft an die Grundsituation des "Process"-Manuskripts von 1914 an. Wieder geht es um einen Einzelnen, der mit Strategien der Verdrängung, der Unwahrhaftigkeit und des Selbstbetrugs gegen eine schwer durchschaubare Ordnung kämpft. Und wieder ist die scheinbar fremde Gegenwelt in Wirklichkeit Teil des Protagonisten: ein seelischer Apparat eher als ein soziales Machtsystem. Wie das Unbewusste des Menschen funktionieren die Maschinerien der Schloss-Bürokratie, deren Beamte von ihrem sexuellen Verlangen getrieben, von Dauermüdigkeit übermannt, von Ängsten überrollt werden. Wie das Unbewusste arbeitet die Verwaltung des scheinbar nahen Schlosses, denn sie vergisst nichts, speichert alles und lässt es in überraschenden Momenten wieder aus sich hervortreten. Kafkas soziale Schreckenssysteme sind deshalb so fürchterlich, weil sie Versionen unseres Ich, Vexierspiele der Psyche und Manifestationen des Unbewussten bilden.
Nach dem fulminanten Beginn in Spindlermühle gelingt es Kafka noch bis zum Juli 1922, seine Produktivität auf höchstem Niveau zu halten. Sein Problem lag darin, dass er eigentlich nur an einem Stück schreiben konnte, wie es ihm erstmals in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 glückte, als die Novelle "Das Urteil" entstand. Für ausgedehnte Romankonstruktionen bildete die Abhängigkeit von tranceartiger, auf das Äußerste gesteigerter Konzentration eine denkbar ungünstige Hypothek. Im Fall des "Schloss"-Projekts begannen die Stockungen im Sommer 1922. Mitte September 1922 erklärt Kafka frustriert, er habe "die Schloßgeschichte offenbar für immer liegen lassen müssen". Bis zu seinem Tod am 3. Juni 1924 wird er das Manuskript nicht mehr anrühren und nur seinem Freund Max Brod die Lektüre gestatten.
1926 veröffentlichte Brod eine erste Lesefassung des "Schloss"-Romans mit zahllosen Eingriffen und Glättungen. Sie sollten den Eindruck erwecken, als handelte es sich um ein annähernd fertiges Werk, dem lediglich der Schluss fehlte. Als Malcolm Pasley 1982 für die Kritische Edition des Fischer-Verlags eine neue Ausgabe herstellte, ließ er sich von Kafkas Stichworten für die Textgliederung leiten, die er der Kapitelfolge als Überschriften zugrunde legte. Zwar blieb dieses Verfahren fragwürdig, aber immerhin trat durch Pasleys diplomatische Edition der Fragmentcharakter des Textes deutlicher hervor als bei Brod. Nicht, dass er nicht endet, kennzeichnet ihn, sondern dass er gar nicht enden kann. In den Jahren 1911 und 1912 hatte Kafka während der Arbeit am "Verschollenen" bereits erfahren, wie schnell er sich bei größeren epischen Projekten im Niemandsland seiner Assoziationen verlaufen konnte. Daraus zog er im Fall des "Process" wenige Jahre später eine klare Konsequenz, indem er sofort nach dem ersten das letzte Kapitel schrieb. Als der Roman 1915 abgebrochen wurde, war er ein paradoxes Fragment: ein Text, der Beginn und Schluss hatte, dem aber die letzten Brückenverbindungen im Inneren seiner Architektur fehlten. Beim "Schloss" schien Kafka nun die Situation des "Verschollenen" zu wiederholen. Abermals spann er sich in seine Geschichte ein, ohne dass er ihr Ende erreichte; nochmals arbeitete er sich wie in einem Stollen vorwärts, gelangte aber nicht zum letzten Durchbruch.
Stärker als die beiden ersten Fragmente ist "Das Schloss" auch seiner Idee nach ein Bruchstück. Der Roman bleibt von vornherein darauf angelegt, seinen Protagonisten ins Innere einer sozialen Ordnung zu führen, in der er sich wie in einem Labyrinth verirrt. Roland Reuß' neue Edition im Rahmen der Frankfurter Kafka-Ausgabe zeigt diese Struktur auf mustergültige Weise. Der Text ist wie schon bei den vorausgehenden Ausgaben ganz aus der Handschrift ediert, das heißt, dass er das Manuskript mit seinen Streichungen und Korrekturen dokumentiert. Die sechs Schreibhefte, die das Romanfragment bilden, werden in ihrer materiellen Struktur so genau wie möglich wiedergegeben. Dazu gehört, dass neben der kritischen Erfassung des Textes, seiner Streichungen und Varianten auch die Manuskriptseiten im Faksimile erscheinen.
Auf diese Weise rückt, wie schon mehrfach an früheren Bänden der Ausgabe gerühmt, der Schreibprozess selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die unterschiedlichen Textschichten mit ihren Streichungen, Überschreibungen oder Korrekturen werden ohne Eingriffe des Herausgebers dargeboten. Durch ein schlüssiges Dokumentationssystem lässt sich die jeweilige Stufe der von Kafka vorgenommenen Textänderung über die graphische Wiedergabe gut erfassen. Da gleichzeitig die Möglichkeit besteht, einen Blick auf die faksimilierte Manuskriptseite zu werfen, kann man den Schriftduktus direkt zum Vergleich mit der gedruckten Dokumentation heranziehen. Komplizierter wird es nur dort, wo längere Passagen gestrichen und neu erarbeitet werden, wie das gerade im letzten Viertel des Romans häufiger der Fall ist. Ohne aufwendiges Zurückblättern sind hier übergreifende Eindrücke und Befunde nicht zu erlangen.
Im Mittelpunkt der Reußschen Edition steht die Handschrift, die neben dem transkribierten Text ihren eigenen Auftritt hat. Sie ist auch für Nicht-Experten gut lesbar und meist mühelos zu entziffern. Kafka schreibt in kalligraphischer Schönheit, mit einem teils spannungsvollen, teils fließenden Duktus. Manche Buchstaben geraten zu ausgezackt-eckigen Manifestationen der Entschlossenheit, andere runden sich harmonisch. Geradezu mächtig ragen die Unterlängen als Wünschelruten in die Tiefe; Großbuchstaben erscheinen wie Gallionsfiguren, manche von ihnen haben die Anmutung eines Paragraphenzeichens, das aus dem Text emporsteigt. Selbst die Streichungen und Korrekturen Kafkas weisen eine eigentümliche zeichnerische Schönheit auf. Üblich ist der gerade Durchstrich, der eine Passage ungültig macht. Bisweilen tritt an seine Stelle eine Wellenlinie, seltener eine heftige Tintenschraffur, die das Geschriebene wie im Affekt vernichtet. Zwei Drittel des Manuskripts zeigen eine Schrift in ähnlichem Rhythmus, relativ gleichmäßig, auch in der Größe konstant. Die Krise des Produktionsprozesses spiegelt sich darin kaum; selbst das sechste und letzte Heft weist einen vergleichbaren Duktus ohne höheren Anteil an Korrekturen auf.
Ein wesentlicher Gewinn der Reußschen Ausgabe besteht in der Möglichkeit, Streichungen nicht nur getrennt vom Text im Apparat, sondern in der jeweiligen Manuskriptkonstellation zu erschließen. Zumeist betreffen die Streichungen Passagen von großer Explizitheit, die allzu deutlich die Motive des Protagonisten oder der Schlossbürokratie darstellen. Die Korrektur besteht dann meist in einem größeren Grad der Distanzierung, die Kafka durch einfachste Mittel schafft. Ein typisches Beispiel liefert die Erzählperspektive: Begonnen hatte Kafka den Roman in der Ich-Form, die er später durch die Chiffre "K" ersetzt. Vorgenommen wird diese Substitution erstmals an der Stelle, wo die Liebesszene zwischen dem Protagonisten und Frieda beginnt. Die besondere Intimität dieser erotischen Passage verlangt ein Maß des Abstands, das in der Ich-Form nicht mehr gegeben ist.
Der Subtext der Streichungen enthüllt die unwahrhaftige Seite K.s. Deutlich wird in den Passagen, die entfielen, dass K. zu einer Notlüge griff, als er erklärte, vom Schloss zum Landvermesser berufen zu sein. Fraglos ist auch, wie wenig ihm an Frieda liegt, mit deren Hilfe er lediglich zu ihrem früheren Geliebten, dem mächtigen Sekretär Klamm, vorzudringen hofft. Die Streichungen offenbaren einen K., der sich wie alle Helden Kafkas selbst überschätzt, oberflächlich und voller Vorurteile ist. Max Brod hat ihn als großen Kämpfer gedeutet, der auf dem Sterbebett, wie Kafka ihm verriet, eine späte Aufnahme in die fremde Gemeinschaft erfahren sollte. Die Textfassung der verdienstvollen Frankfurter Ausgabe zeigt, dass der Weg zu einem solchen Ende verschlungen gewesen wäre. K. hat sich, als der Romantext abbricht, tief in den Labyrinthen der Dorfwelt verloren. Man duldet ihn, ohne ihn zu lieben. Ob er begreift, dass mehr auf Erden nicht erreichbar ist, bleibt zweifelhaft.
PETER-ANDRÉ ALT.
Franz Kafka: "Das Schloss". Historisch-Kritische Edition sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte.
Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2018. 6 Hefte und Beiheft im Schuber. Zus. 1200 S., br., 248,- [Euro], bei Subskription 198,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Werk eines Schriftstellers, der nicht mehr schrieb: Zur Frankfurter Edition von Franz Kafkas "Schloss"-Roman.
Es war noch hell, als Kafka am 27. Januar 1922 in Spindlermühle im Riesengebirge ankam. Ein Foto zeigt ihn bei dichtem Schneetreiben neben einem Schlitten, der ihn zum Sanatorium bringen sollte. Der seit dem Spätsommer 1917 schwer lungenkranke Kafka hatte einen Aufenthalt von drei Wochen dort eingeplant, in dünner Höhenluft, ohne größeres medizinisches Programm. Im Hotel "Krone", das am rechten Elbufer liegt, bezieht er Quartier. In das Gästebuch trägt man ihn irrtümlich als "Josef Kafka" ein. Im Tagebuch notiert er lakonisch: "Soll ich sie aufklären oder soll ich mich von ihnen aufklären lassen?" Der Autor verschmilzt durch den Verschreiber mit seinem eigenen Helden Josef K., dem Angeklagten des "Process"-Romans, den er 1914 begonnen, aber nicht abgeschlossen hatte.
1922 ist Kafka ein Schriftsteller, der nicht mehr schreibt. Seine literarische Tätigkeit, immer in Schüben hervorbrechend, lag seit einiger Zeit brach. Schon ein Jahr zuvor hatte er im slowakischen Matliary während einer Kur monatelang ganz auf schriftstellerische Arbeit verzichtet. Aber die Abgeschiedenheit des Ortes, die klare Schneeluft, die in der Ferne dämmernden Schemen von Häusern, Brücken und Wald setzen in Spindlermühle seine literarische Einbildungskraft neu in Gang. Wenige Tage nach der Ankunft entwickelt Kafka die Skizze einer Begrüßungsszene in einem Wirtshaus, die dann in die Beschreibung der Ankunft des Helden im nächtlichen Dorf übergeht. Innerhalb von drei Wochen entstehen vermutlich die ersten 37 Manuskriptseiten des "Schloss"-Romans.
Was mit der nächtlichen Ankunft des Helden wie eine gothic novel einsetzt, wird bald zu einer wahren Diskurshölle, zu einem Labyrinth der Erzählungen, Deutungen, Verhöre, der Familienmythen und Legenden. Der "Schloss"-Roman knüpft an die Grundsituation des "Process"-Manuskripts von 1914 an. Wieder geht es um einen Einzelnen, der mit Strategien der Verdrängung, der Unwahrhaftigkeit und des Selbstbetrugs gegen eine schwer durchschaubare Ordnung kämpft. Und wieder ist die scheinbar fremde Gegenwelt in Wirklichkeit Teil des Protagonisten: ein seelischer Apparat eher als ein soziales Machtsystem. Wie das Unbewusste des Menschen funktionieren die Maschinerien der Schloss-Bürokratie, deren Beamte von ihrem sexuellen Verlangen getrieben, von Dauermüdigkeit übermannt, von Ängsten überrollt werden. Wie das Unbewusste arbeitet die Verwaltung des scheinbar nahen Schlosses, denn sie vergisst nichts, speichert alles und lässt es in überraschenden Momenten wieder aus sich hervortreten. Kafkas soziale Schreckenssysteme sind deshalb so fürchterlich, weil sie Versionen unseres Ich, Vexierspiele der Psyche und Manifestationen des Unbewussten bilden.
Nach dem fulminanten Beginn in Spindlermühle gelingt es Kafka noch bis zum Juli 1922, seine Produktivität auf höchstem Niveau zu halten. Sein Problem lag darin, dass er eigentlich nur an einem Stück schreiben konnte, wie es ihm erstmals in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 glückte, als die Novelle "Das Urteil" entstand. Für ausgedehnte Romankonstruktionen bildete die Abhängigkeit von tranceartiger, auf das Äußerste gesteigerter Konzentration eine denkbar ungünstige Hypothek. Im Fall des "Schloss"-Projekts begannen die Stockungen im Sommer 1922. Mitte September 1922 erklärt Kafka frustriert, er habe "die Schloßgeschichte offenbar für immer liegen lassen müssen". Bis zu seinem Tod am 3. Juni 1924 wird er das Manuskript nicht mehr anrühren und nur seinem Freund Max Brod die Lektüre gestatten.
1926 veröffentlichte Brod eine erste Lesefassung des "Schloss"-Romans mit zahllosen Eingriffen und Glättungen. Sie sollten den Eindruck erwecken, als handelte es sich um ein annähernd fertiges Werk, dem lediglich der Schluss fehlte. Als Malcolm Pasley 1982 für die Kritische Edition des Fischer-Verlags eine neue Ausgabe herstellte, ließ er sich von Kafkas Stichworten für die Textgliederung leiten, die er der Kapitelfolge als Überschriften zugrunde legte. Zwar blieb dieses Verfahren fragwürdig, aber immerhin trat durch Pasleys diplomatische Edition der Fragmentcharakter des Textes deutlicher hervor als bei Brod. Nicht, dass er nicht endet, kennzeichnet ihn, sondern dass er gar nicht enden kann. In den Jahren 1911 und 1912 hatte Kafka während der Arbeit am "Verschollenen" bereits erfahren, wie schnell er sich bei größeren epischen Projekten im Niemandsland seiner Assoziationen verlaufen konnte. Daraus zog er im Fall des "Process" wenige Jahre später eine klare Konsequenz, indem er sofort nach dem ersten das letzte Kapitel schrieb. Als der Roman 1915 abgebrochen wurde, war er ein paradoxes Fragment: ein Text, der Beginn und Schluss hatte, dem aber die letzten Brückenverbindungen im Inneren seiner Architektur fehlten. Beim "Schloss" schien Kafka nun die Situation des "Verschollenen" zu wiederholen. Abermals spann er sich in seine Geschichte ein, ohne dass er ihr Ende erreichte; nochmals arbeitete er sich wie in einem Stollen vorwärts, gelangte aber nicht zum letzten Durchbruch.
Stärker als die beiden ersten Fragmente ist "Das Schloss" auch seiner Idee nach ein Bruchstück. Der Roman bleibt von vornherein darauf angelegt, seinen Protagonisten ins Innere einer sozialen Ordnung zu führen, in der er sich wie in einem Labyrinth verirrt. Roland Reuß' neue Edition im Rahmen der Frankfurter Kafka-Ausgabe zeigt diese Struktur auf mustergültige Weise. Der Text ist wie schon bei den vorausgehenden Ausgaben ganz aus der Handschrift ediert, das heißt, dass er das Manuskript mit seinen Streichungen und Korrekturen dokumentiert. Die sechs Schreibhefte, die das Romanfragment bilden, werden in ihrer materiellen Struktur so genau wie möglich wiedergegeben. Dazu gehört, dass neben der kritischen Erfassung des Textes, seiner Streichungen und Varianten auch die Manuskriptseiten im Faksimile erscheinen.
Auf diese Weise rückt, wie schon mehrfach an früheren Bänden der Ausgabe gerühmt, der Schreibprozess selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die unterschiedlichen Textschichten mit ihren Streichungen, Überschreibungen oder Korrekturen werden ohne Eingriffe des Herausgebers dargeboten. Durch ein schlüssiges Dokumentationssystem lässt sich die jeweilige Stufe der von Kafka vorgenommenen Textänderung über die graphische Wiedergabe gut erfassen. Da gleichzeitig die Möglichkeit besteht, einen Blick auf die faksimilierte Manuskriptseite zu werfen, kann man den Schriftduktus direkt zum Vergleich mit der gedruckten Dokumentation heranziehen. Komplizierter wird es nur dort, wo längere Passagen gestrichen und neu erarbeitet werden, wie das gerade im letzten Viertel des Romans häufiger der Fall ist. Ohne aufwendiges Zurückblättern sind hier übergreifende Eindrücke und Befunde nicht zu erlangen.
Im Mittelpunkt der Reußschen Edition steht die Handschrift, die neben dem transkribierten Text ihren eigenen Auftritt hat. Sie ist auch für Nicht-Experten gut lesbar und meist mühelos zu entziffern. Kafka schreibt in kalligraphischer Schönheit, mit einem teils spannungsvollen, teils fließenden Duktus. Manche Buchstaben geraten zu ausgezackt-eckigen Manifestationen der Entschlossenheit, andere runden sich harmonisch. Geradezu mächtig ragen die Unterlängen als Wünschelruten in die Tiefe; Großbuchstaben erscheinen wie Gallionsfiguren, manche von ihnen haben die Anmutung eines Paragraphenzeichens, das aus dem Text emporsteigt. Selbst die Streichungen und Korrekturen Kafkas weisen eine eigentümliche zeichnerische Schönheit auf. Üblich ist der gerade Durchstrich, der eine Passage ungültig macht. Bisweilen tritt an seine Stelle eine Wellenlinie, seltener eine heftige Tintenschraffur, die das Geschriebene wie im Affekt vernichtet. Zwei Drittel des Manuskripts zeigen eine Schrift in ähnlichem Rhythmus, relativ gleichmäßig, auch in der Größe konstant. Die Krise des Produktionsprozesses spiegelt sich darin kaum; selbst das sechste und letzte Heft weist einen vergleichbaren Duktus ohne höheren Anteil an Korrekturen auf.
Ein wesentlicher Gewinn der Reußschen Ausgabe besteht in der Möglichkeit, Streichungen nicht nur getrennt vom Text im Apparat, sondern in der jeweiligen Manuskriptkonstellation zu erschließen. Zumeist betreffen die Streichungen Passagen von großer Explizitheit, die allzu deutlich die Motive des Protagonisten oder der Schlossbürokratie darstellen. Die Korrektur besteht dann meist in einem größeren Grad der Distanzierung, die Kafka durch einfachste Mittel schafft. Ein typisches Beispiel liefert die Erzählperspektive: Begonnen hatte Kafka den Roman in der Ich-Form, die er später durch die Chiffre "K" ersetzt. Vorgenommen wird diese Substitution erstmals an der Stelle, wo die Liebesszene zwischen dem Protagonisten und Frieda beginnt. Die besondere Intimität dieser erotischen Passage verlangt ein Maß des Abstands, das in der Ich-Form nicht mehr gegeben ist.
Der Subtext der Streichungen enthüllt die unwahrhaftige Seite K.s. Deutlich wird in den Passagen, die entfielen, dass K. zu einer Notlüge griff, als er erklärte, vom Schloss zum Landvermesser berufen zu sein. Fraglos ist auch, wie wenig ihm an Frieda liegt, mit deren Hilfe er lediglich zu ihrem früheren Geliebten, dem mächtigen Sekretär Klamm, vorzudringen hofft. Die Streichungen offenbaren einen K., der sich wie alle Helden Kafkas selbst überschätzt, oberflächlich und voller Vorurteile ist. Max Brod hat ihn als großen Kämpfer gedeutet, der auf dem Sterbebett, wie Kafka ihm verriet, eine späte Aufnahme in die fremde Gemeinschaft erfahren sollte. Die Textfassung der verdienstvollen Frankfurter Ausgabe zeigt, dass der Weg zu einem solchen Ende verschlungen gewesen wäre. K. hat sich, als der Romantext abbricht, tief in den Labyrinthen der Dorfwelt verloren. Man duldet ihn, ohne ihn zu lieben. Ob er begreift, dass mehr auf Erden nicht erreichbar ist, bleibt zweifelhaft.
PETER-ANDRÉ ALT.
Franz Kafka: "Das Schloss". Historisch-Kritische Edition sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte.
Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2018. 6 Hefte und Beiheft im Schuber. Zus. 1200 S., br., 248,- [Euro], bei Subskription 198,- [Euro].
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