Im Haus eines Ornithologen geht eine Schriftstellerin den Abgründen der Schriftstellerei auf den Grund. Es geht ihr dabei ums Ganze. Denn ihre zutiefst eigene Symphonie des Schreibens ist bedroht. Vogellaute und geflügelte Wesen gehören zum vielstimmigen Orchester dieses sprachmächtigen neuen Romans von Brigitte Kronauer, in dem Kunst und Schicksal eine einzigartige Symbiose eingehen.
Ein Haus im Wald mit blauen Schlagläden. An den Wänden Schautafeln, über und über mit Vögeln bedeckt, im lichten Geäst der Stämme Vogelgezwitscher. Der Schriftstellerin, die vorübergehend im Haus des Ornithologen lebt, will mit ihrem Roman nicht recht vorankommen. Stattdessen drängen sich ihr die Vögel des Waldes auf, und bald schon schälen sich aus ihnen die Gesichter von Freunden und deren Geschichten: die Schönen, die Schäbigen und die Schwankenden. Unbehelligt verfasst sie eine Geschichte nach der anderen, bis es eines Nachts an die blauen Schlagläden klopft und der Ornithologe sein Haus zurückfordert. Befand sich die Schriftstellerin gerade noch in einer magischen Parallelwelt, führt dieser Umbruch zu einer radikalen Hinterfragung der eigenen Existenz. Filigran und machtvoll webt Brigitte Kronauer ein engmaschiges Netz bedrohter Subjekte und stellt als dessen Höhepunkt das Schriftstellerleben selbst auf den Prüfstand.
»Brigitte Kronauer leuchtet tief in die Sedimentschichten hinein, aus der die beiden großen Sphären der Welt bestehen, die menschliche Innenwelt und die weite Landschaft, und blendet sie ineinander.«
Nico Bleutge, Neue Zürcher Zeitung
Ein Haus im Wald mit blauen Schlagläden. An den Wänden Schautafeln, über und über mit Vögeln bedeckt, im lichten Geäst der Stämme Vogelgezwitscher. Der Schriftstellerin, die vorübergehend im Haus des Ornithologen lebt, will mit ihrem Roman nicht recht vorankommen. Stattdessen drängen sich ihr die Vögel des Waldes auf, und bald schon schälen sich aus ihnen die Gesichter von Freunden und deren Geschichten: die Schönen, die Schäbigen und die Schwankenden. Unbehelligt verfasst sie eine Geschichte nach der anderen, bis es eines Nachts an die blauen Schlagläden klopft und der Ornithologe sein Haus zurückfordert. Befand sich die Schriftstellerin gerade noch in einer magischen Parallelwelt, führt dieser Umbruch zu einer radikalen Hinterfragung der eigenen Existenz. Filigran und machtvoll webt Brigitte Kronauer ein engmaschiges Netz bedrohter Subjekte und stellt als dessen Höhepunkt das Schriftstellerleben selbst auf den Prüfstand.
»Brigitte Kronauer leuchtet tief in die Sedimentschichten hinein, aus der die beiden großen Sphären der Welt bestehen, die menschliche Innenwelt und die weite Landschaft, und blendet sie ineinander.«
Nico Bleutge, Neue Zürcher Zeitung
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2019Der ungenaue Doppelgänger liegt schon auf der Lauer
Spurensuche im Alltag: In ihrem letzten Roman legt Brigitte Kronauer dem Leser Lebensläufe zur Prüfung vor.
Franziska ist nicht mehr jung, bei weitem aber noch nicht alt genug, um der Liebe zu entsagen, den Eroberungen, auch wenn das mit den Jahren weniger geworden ist. Doch jetzt, als sie in Rom, das sie nach langer Zeit ein weiteres Mal besucht, auf einem Mäuerchen sitzend plötzlich die "perfekte Beute" in Gestalt eines jungen Adonis bemerkt, meldet sich in ihr "ein vertrautes Zittern, noch einmal das Vibrieren, die siegesgewisse Anspannung vor dem Sprung". Als der junge Römer, der eigentlich schon vorbeigelaufen war, dann tatsächlich kehrtmacht und sich in ihre Nähe setzt, durchzuckt sie ein " ungläubig wahrgenommener, glücklicher Schmerz. Die längst verschollene Erinnerung blähte die gegenwärtige Sekunde." Sie schließt die Augen, und als sie sie wieder öffnet, sieht sie, wie der Adonis auf ein vorbeifahrendes Moped springt - mit ihrer Tasche.
Franziska, ein Mensch an der Schwelle zum Entsagen, dem das frühere Glück noch einmal trügerisch winkt, eine "Betrogene" wie die Hauptfigur aus Thomas Manns Novelle, nur mit einem gänzlich anderen Resultat des Betrugs, denn Franziska stirbt nicht daran, sondern zieht sich zurück, verlässt ihr Bett kaum noch und macht vielleicht sogar ihren Frieden damit.
Ihre Geschichte ist Teil eines größeren Projekts, dem sich im jüngst erschienenen Roman "Das Schöne, Schäbige, Schwankende" der gerade achtundsiebzigjährig verstorbenen Autorin Brigitte Kronauer (F.A.Z. vom 24. Juli) die Schriftstellerin Charlotte widmet. Sie ist in der Hütte zweier begeisterter Ornithologen untergekommen, die gerade Südamerika bereisen, und lebt nun zwischen Bildern, die unterschiedliche Vögel darstellen. Wenn sie hier von Menschen träumt, dann schwirren diese durcheinander und "zwitschern" geradezu wie Vögel, und in den Bildern sieht sie wiederum menschliche Gesichter aufscheinen - Freunde, flüchtige und alte Bekannte: "Schließlich waren es nicht mehr die Geflügelten, die über mich regierten, es waren die Menschen, die durch sie hindurchstarrten und die sich jetzt unbedingt entfalten wollten. Dafür benötigten sie Platz, wischten ohne Rücksicht Vögel und ,Handlung' beiseite und beehrten mich, den offenbar geeigneten Landeplatz für ihre Ausuferungen, voller Beschwerden, Wichtigtuereien und Ticks, rund um die Uhr mit ihrer Anwesenheit, die ich meines Berufs wegen schriftlich beglaubigen sollte."
Das tut die Autorin dann auch, allerdings mit dem festen Willen, sich von den andrängenden Gestalten nicht unterjochen zu lassen. Um den Stoff, den diese Erinnerungen an Menschen nun für sie darstellen, einigermaßen in den Griff zu bekommen, gliedert sie ihn in die drei Kategorien, die dem gesamten Roman den Titel geben: Je dreizehn Biogramme sollen erstens "das Schöne" beschreiben, also den allmählichen Aufstieg der Porträtierten "aus der normalen Lebenstrübnis zur lichten Offenbarung", zweitens "das Schäbige" in umgekehrter Lebensbahn, die übrigen dreizehn dann "das Schwankende", eine Entwicklung, die Menschen erst nach oben und dann nach unten führt, "in der Weise gezähmt, wie sie es jeweils verdienten". Nur dass die Autorin feststellt, dass sich das Schema nicht einhalten lässt, dass alles durcheinandergerät, so dass für den Leser, der nach der knappen Einleitung nun mit "Die Vögel" das zweite, bei weitem umfangreichste Kapitel des Romans liest und dort tatsächlich 39 Biogramme findet, von der listigen Autorin mit der Entscheidung alleingelassen wird, wie nun die einzelnen Geschichten einzuordnen sind, nachdem sie ihn einmal dazu gebracht hat, solche Kategorien überhaupt zu suchen.
Formal erinnert das an Kronauers Roman "Gewäsch und Gewimmel" aus dem Jahr 2013, in dem die Schicksale ihrer Patienten auf die Physiotherapeutin Elsa in ähnlicher Weise drängen und als Ansammlung von Miniaturen ein Panorama ergeben. Hier hält nicht nur das Auge der eingschobenen Autorin Charlotte für die Vogelähnlichkeit der von ihr Porträtierten dieses Kapitel zusammen, das nun eine Ansammlung von menschlichen Schwänen, Kolibris, Amseln, Dompfaffen oder Ringeltauben präsentiert, sondern damit durchaus verbunden auch das Interesse an der Frage, warum uns ein Mensch bezaubert, wann genau dieser Zauber wirkungslos wird und was aus den ehemaligen Charmeuren wird, wenn der Bann erst einmal gebrochen ist. Wer sich, im Bewusstsein seiner Wirkung, alles erlaubt, fällt dann umso tiefer, und Charlotte widmet sich solchen Fällen, besonders aus dem Kulturbetrieb, mit dem mitleidlosen Blick derer, die sich schon mit dem vorherigen Verhalten der Paradiesvögel nicht zufriedengeben konnte. Sehr viel gnädiger fällt die Beschreibung eines Herrn aus, der offenbar noch im Altenheim die Rolle des Bezauberers weiterspielt und miterleben muss, wie sich diejenigen, die an seinen Lippen hingen, von ihm abwenden, als die Glocke zum Abendessen mitten in einem seiner ausufernden Vorträge läutet. Charlotte beschreibt Liebende, die sich plötzlich entfremden, Verwandte, die sich eigentlich nicht kennen, aber auch Menschen, die sich unerwartet solidarisch zeigen und die im Zweifel die Augen auch vor den entsetzlichen Taten derjenigen verschließen können, denen sie einmal nahe waren.
Auch in den übrigen Großkapiteln des Romans geht es um das Schreiben Charlottes und um die Frage, wie die erfahrene Realität abgebildet werden kann, wenn sich doch diese Erfahrungen als unsicher bis geradezu widersprüchlich erweisen können - die Erzählerin jedenfalls verwendet eine Sprache von fast demonstrativ klassischer Ruhe und macht dabei wenig Unterschiede zwischen den Stillagen der einzelnen Figuren, zwischen dem Bericht eines Zwölfjährigen und den Dialogen zweier älterer Frauen. "Stets liegt ein ungenauer Doppelgänger auf dem Sprung", heißt es einmal über das Schreiben, und dass es dabei nicht zuletzt um das Maß an Distanz zwischen dem Schriftsteller und seinem Gegenstand geht, wird ebenfalls rasch klar.
Teilhabe und Außenseitertum sind das zentrale Thema des Bandes, und Kronauers Sprache, die bei aller Klarheit oft genug den Figuren, Ereignissen, Konstellationen und auch finalen Wendungen ihr Rätsel lässt, erweist sich als beglückend geeignet, dies von allen Seiten zu beleuchten. Wie weit man sich auf die Welt einlässt (und: auf welchen Teil von ihr), so zeigen es die kürzeren und längeren Porträts dieses Bandes, hat nicht unbedingt etwas mit dem Lebensalter zu tun.
Das abschließende Kapitel des Bandes, das einzige, in dem Charlotte als Erzählerin eine fremde Perspektive einnimmt, lässt einen Greis davon berichten, wie sich Vergangenheit und Gegenwart in ihm gegenseitig beleuchten und sich ihm seine Umgebung im Licht des Isenheimer Altars erschließt. Ob das, im Ordnungssystem Charlottes, nun schön, schäbig oder schwankend ist, hängt vom Betrachter ab.
TILMAN SPRECKELSEN
Brigitte Kronauer: "Das Schöne, Schäbige, Schwankende". Romangeschichten.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 596 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Spurensuche im Alltag: In ihrem letzten Roman legt Brigitte Kronauer dem Leser Lebensläufe zur Prüfung vor.
Franziska ist nicht mehr jung, bei weitem aber noch nicht alt genug, um der Liebe zu entsagen, den Eroberungen, auch wenn das mit den Jahren weniger geworden ist. Doch jetzt, als sie in Rom, das sie nach langer Zeit ein weiteres Mal besucht, auf einem Mäuerchen sitzend plötzlich die "perfekte Beute" in Gestalt eines jungen Adonis bemerkt, meldet sich in ihr "ein vertrautes Zittern, noch einmal das Vibrieren, die siegesgewisse Anspannung vor dem Sprung". Als der junge Römer, der eigentlich schon vorbeigelaufen war, dann tatsächlich kehrtmacht und sich in ihre Nähe setzt, durchzuckt sie ein " ungläubig wahrgenommener, glücklicher Schmerz. Die längst verschollene Erinnerung blähte die gegenwärtige Sekunde." Sie schließt die Augen, und als sie sie wieder öffnet, sieht sie, wie der Adonis auf ein vorbeifahrendes Moped springt - mit ihrer Tasche.
Franziska, ein Mensch an der Schwelle zum Entsagen, dem das frühere Glück noch einmal trügerisch winkt, eine "Betrogene" wie die Hauptfigur aus Thomas Manns Novelle, nur mit einem gänzlich anderen Resultat des Betrugs, denn Franziska stirbt nicht daran, sondern zieht sich zurück, verlässt ihr Bett kaum noch und macht vielleicht sogar ihren Frieden damit.
Ihre Geschichte ist Teil eines größeren Projekts, dem sich im jüngst erschienenen Roman "Das Schöne, Schäbige, Schwankende" der gerade achtundsiebzigjährig verstorbenen Autorin Brigitte Kronauer (F.A.Z. vom 24. Juli) die Schriftstellerin Charlotte widmet. Sie ist in der Hütte zweier begeisterter Ornithologen untergekommen, die gerade Südamerika bereisen, und lebt nun zwischen Bildern, die unterschiedliche Vögel darstellen. Wenn sie hier von Menschen träumt, dann schwirren diese durcheinander und "zwitschern" geradezu wie Vögel, und in den Bildern sieht sie wiederum menschliche Gesichter aufscheinen - Freunde, flüchtige und alte Bekannte: "Schließlich waren es nicht mehr die Geflügelten, die über mich regierten, es waren die Menschen, die durch sie hindurchstarrten und die sich jetzt unbedingt entfalten wollten. Dafür benötigten sie Platz, wischten ohne Rücksicht Vögel und ,Handlung' beiseite und beehrten mich, den offenbar geeigneten Landeplatz für ihre Ausuferungen, voller Beschwerden, Wichtigtuereien und Ticks, rund um die Uhr mit ihrer Anwesenheit, die ich meines Berufs wegen schriftlich beglaubigen sollte."
Das tut die Autorin dann auch, allerdings mit dem festen Willen, sich von den andrängenden Gestalten nicht unterjochen zu lassen. Um den Stoff, den diese Erinnerungen an Menschen nun für sie darstellen, einigermaßen in den Griff zu bekommen, gliedert sie ihn in die drei Kategorien, die dem gesamten Roman den Titel geben: Je dreizehn Biogramme sollen erstens "das Schöne" beschreiben, also den allmählichen Aufstieg der Porträtierten "aus der normalen Lebenstrübnis zur lichten Offenbarung", zweitens "das Schäbige" in umgekehrter Lebensbahn, die übrigen dreizehn dann "das Schwankende", eine Entwicklung, die Menschen erst nach oben und dann nach unten führt, "in der Weise gezähmt, wie sie es jeweils verdienten". Nur dass die Autorin feststellt, dass sich das Schema nicht einhalten lässt, dass alles durcheinandergerät, so dass für den Leser, der nach der knappen Einleitung nun mit "Die Vögel" das zweite, bei weitem umfangreichste Kapitel des Romans liest und dort tatsächlich 39 Biogramme findet, von der listigen Autorin mit der Entscheidung alleingelassen wird, wie nun die einzelnen Geschichten einzuordnen sind, nachdem sie ihn einmal dazu gebracht hat, solche Kategorien überhaupt zu suchen.
Formal erinnert das an Kronauers Roman "Gewäsch und Gewimmel" aus dem Jahr 2013, in dem die Schicksale ihrer Patienten auf die Physiotherapeutin Elsa in ähnlicher Weise drängen und als Ansammlung von Miniaturen ein Panorama ergeben. Hier hält nicht nur das Auge der eingschobenen Autorin Charlotte für die Vogelähnlichkeit der von ihr Porträtierten dieses Kapitel zusammen, das nun eine Ansammlung von menschlichen Schwänen, Kolibris, Amseln, Dompfaffen oder Ringeltauben präsentiert, sondern damit durchaus verbunden auch das Interesse an der Frage, warum uns ein Mensch bezaubert, wann genau dieser Zauber wirkungslos wird und was aus den ehemaligen Charmeuren wird, wenn der Bann erst einmal gebrochen ist. Wer sich, im Bewusstsein seiner Wirkung, alles erlaubt, fällt dann umso tiefer, und Charlotte widmet sich solchen Fällen, besonders aus dem Kulturbetrieb, mit dem mitleidlosen Blick derer, die sich schon mit dem vorherigen Verhalten der Paradiesvögel nicht zufriedengeben konnte. Sehr viel gnädiger fällt die Beschreibung eines Herrn aus, der offenbar noch im Altenheim die Rolle des Bezauberers weiterspielt und miterleben muss, wie sich diejenigen, die an seinen Lippen hingen, von ihm abwenden, als die Glocke zum Abendessen mitten in einem seiner ausufernden Vorträge läutet. Charlotte beschreibt Liebende, die sich plötzlich entfremden, Verwandte, die sich eigentlich nicht kennen, aber auch Menschen, die sich unerwartet solidarisch zeigen und die im Zweifel die Augen auch vor den entsetzlichen Taten derjenigen verschließen können, denen sie einmal nahe waren.
Auch in den übrigen Großkapiteln des Romans geht es um das Schreiben Charlottes und um die Frage, wie die erfahrene Realität abgebildet werden kann, wenn sich doch diese Erfahrungen als unsicher bis geradezu widersprüchlich erweisen können - die Erzählerin jedenfalls verwendet eine Sprache von fast demonstrativ klassischer Ruhe und macht dabei wenig Unterschiede zwischen den Stillagen der einzelnen Figuren, zwischen dem Bericht eines Zwölfjährigen und den Dialogen zweier älterer Frauen. "Stets liegt ein ungenauer Doppelgänger auf dem Sprung", heißt es einmal über das Schreiben, und dass es dabei nicht zuletzt um das Maß an Distanz zwischen dem Schriftsteller und seinem Gegenstand geht, wird ebenfalls rasch klar.
Teilhabe und Außenseitertum sind das zentrale Thema des Bandes, und Kronauers Sprache, die bei aller Klarheit oft genug den Figuren, Ereignissen, Konstellationen und auch finalen Wendungen ihr Rätsel lässt, erweist sich als beglückend geeignet, dies von allen Seiten zu beleuchten. Wie weit man sich auf die Welt einlässt (und: auf welchen Teil von ihr), so zeigen es die kürzeren und längeren Porträts dieses Bandes, hat nicht unbedingt etwas mit dem Lebensalter zu tun.
Das abschließende Kapitel des Bandes, das einzige, in dem Charlotte als Erzählerin eine fremde Perspektive einnimmt, lässt einen Greis davon berichten, wie sich Vergangenheit und Gegenwart in ihm gegenseitig beleuchten und sich ihm seine Umgebung im Licht des Isenheimer Altars erschließt. Ob das, im Ordnungssystem Charlottes, nun schön, schäbig oder schwankend ist, hängt vom Betrachter ab.
TILMAN SPRECKELSEN
Brigitte Kronauer: "Das Schöne, Schäbige, Schwankende". Romangeschichten.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 596 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.08.2019Schiefergraugold,
sorgsam geschürft
Im Juli starb Brigitte Kronauer.
Ihr letztes Buch erzählt von den Langsamen,
Einsamen, Enthusiastischen. Und ist voller Witz.
VON INSA WILKE
Eine Schriftstellerin, die von „Menschenliebe“ spricht, von „Trost“ und „fühlendem Denken“, von einer Revolution, die sie darin sieht, „daß kein Mensch, ob Überflieger oder nicht, flach ist, simpel ist!“, eine Autorin (auch noch eine Frau!), die offensichtlich mit großer Freude das Ausrufezeichen verwendet und es an Liebe zum ausdrucksvollen Leben auch sonst nicht fehlen lässt, eine solche Schriftstellerin könnte leicht als Blumenmädchen belächelt werden. Manchem könnten ihre Bücher ein Gräuel sein, aus moralischen Gründen und im Namen der beinharten Literatur. Das passierte Brigitte Kronauer aber nicht, als sie 2005 solche Sachen in ihrer Dankesrede zum Büchner-Preis sagte. Ihr letztes Buch wird auch in der Kritik als literarisches Vermächtnis gelobt. Worin liegt es, dieses Vermächtnis?
„Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ sind Romangeschichten, wie Kronauer das Genre im Untertitel nennt. Vielleicht hat sie es sich wie Christoph Ransmayr gedacht, der zum „Atlas eines ängstlichen Mannes“ erklärte, die Lebenszeit reiche nicht aus, um alle Romanideen umzusetzen. Also müsse man Formen finden, sie auf anderem Weg in die Welt zu schicken. Als schlanke Geschichten, die das Potenzial zum Roman haben und durch bestimmte Prinzipien zu etwas Größerem zusammengehalten werden.
Bei Brigitte Kronauer verbindet ihr erzählendes Alter Ego die einzelnen Episoden. Es ist die Schriftstellerin Charlotte, die mal in Ich-Form, mal in der dritten Person erzählt. Charlotte erwähnt im Prolog auch das Erzählprinzip: alle Figuren erfahren „drei Entwicklungsstufen, mit sehr unterschiedlichem Erfolg, je nach Abteilung“. Das Schöne steht für den Aufstieg, das Schäbige für den Absturz, das Schwankende für die Möglichkeiten dazwischen. Klassisch.
Charlotte bemerkt aber selbst, dass alles durcheinander flattert und ins Rutschen gerät. Von wegen Ordnung. Trotzdem kann man sich als Leserin herrlich an diesem Prinzip abarbeiten und detektivisch tätig werden. Dann verpasst man aber das Eigentliche: „die blitzschnellen, geheimen Vorgänge zwischen den Individuen und die widersprüchlichen in sich selbst (...), die schließlich die Handlung erzeugen – egal ob eine Ehe oder ein ganzes Volk drauf geht“. Wer dafür einen Sinn habe, so Kronauer alias Charlotte, werde angeschaut wie jemand, „der im aktuellen Jahrtausend Masche für Masche Topflappen strickt.“
Um ihre narrative Potenz unter Beweis zu stellen, schreibe sie jetzt „Glamouröse Handlungen“. Die gelingen ihr aber nicht. Stattdessen streift sie in „barscher, strohiger, oft chaotischer Landschaft“ rund um ein Haus mit „blauen Schlagläden“ umher, in das sie sich zurückgezogen hat und ärgert sich über die Frechheit der Vögel: Sie „formierten sich auf diesen Gängen zu einer imaginären Tapete. Richtig, sie tapezierten zunehmend die Wiesen, musterten unverschämt die Wolken und starrten mich herausfordernd an.“
Als herausfordernd empfindet Charlotte das Menschliche, das sie in den Vögeln wiedererkennt. Ob Wasseramsel, Sonnensittich oder Spatzenmännchen, sie alle ähneln jemandem, inspirieren Brigitte Kronauers Alter Ego und erinnern sie an Begegnungen, an Erlebtes, nicht an Erfundenes. Das ist wichtig, denn die letzte der drei größeren Erzählungen, die den kürzeren „Vogelgeschichten“ nachgeordnet sind, ist auf Wunsch von Charlottes Mann Paul eine – angeblich – erfundene Geschichte und aus der Perspektive eines „alten, weißen Mannes“ erzählt.
Man schüttelt sich da erst, weil es einen so merklichen Abfall in der Erzählweise gibt. Das ist aber nur konsequent, es erzählt ja jetzt plötzlich ein alter, engstirniger und wenig empathischer Mann, der den Isenheimer Altar verehrt und geblendet vom „Duft und Gold reinsten Einverständnisses um die irdische Mutter und ihr göttliches Kind herum“ sich in den „leisen Gesang“ seiner Pflegerin verliebt, „wenn sie, gemäß ihrer „geruhsamen weiblichen Existenz“ nach dem Abendbrot den „Tisch abräumt mit feinem Klirren“.
Wenn dieser Mann erzählt, werden die Sätze und Ansichten schlicht und man muss sich mühen, die Ambivalenz zu finden, welche die meisten der hinreißenden Vogelgeschichten auszeichnet. Die sind fantastisch altmodisch, großartig lebensklug und erzählt, als würde Kronauer mit dem Florett durch die Zeilen tänzeln. Eigentlich handelt es sich bei diesen Geschichten um Novellen, an deren Ende etwas Unerhörtes bleibt, das immer sowohl in der Beobachtung als auch in der bewusst artifiziellen Sprache liegt, die (siehe Büchner-Preis-Rede) nicht immer zu ihren Figuren zu passen scheint.
Die Kunst und ihr Betrieb bekommen es dabei besonders ab. In der Geschichte „Der Höfling“ widmet Kronauer alias Charlotte dem Dompfaff ihre spitze Feder. In ihm erkennt sie den Schriftsteller Triegel: „Er beherrschte die Gepflogenheiten der Kulturbranche wie geschmiert. Es war ein Furor des Verneigens, eine Raserei, bis er das plötzlich abbrach, stillstand mit starrer Miene und in Zitaten sprach. Er hatte es gar nicht nötig, einen eigenen Satz auszudenken.“
Wenn es um den Spott über die Hybris und Heuchelei der Kunstszene geht, sind Pointen (Krawel, krawel) leicht zu holen. Brigitte Kronauer ist sich dafür nicht zu schade. Virtuos kaschiert sie das kokett Derbe mit einer manchmal wohl bewusst manierierten Originalität. Ihre Satiren wirken geradezu galant. Trotzdem gibt es noch stärkere Stücke als die Kunst-Betriebsgeschichten. Das sind diejenigen, die sich den Langsamen widmen. Zum Beispiel dem Gärtner, der zum Erzählen Anlauf nehmen muss und dessen Sätze wie Schritte in „schweren Arbeitsstiefeln“ wirken. Das ist so eine Kronauer-Formulierung, die man voll Behagen und glücklich liest, wie auch die unerhörte Begebenheit, die sich mit diesem Gärtner abspielt.
Es geht dabei nur um eine Geste, und eben darin liegt die Kunst von Brigitte Kronauer: in dem Gespür für die Bedeutung solcher Gesten und in der Fähigkeit, sie skizzenhaft für die Leser-Imagination zu entwerfen. Dem Gärtner ist die Erzählerin immer mal wieder begegnet. Als sie ihn nach längerer Abwesenheit im Botanischen Garten wiedersieht, zieht er seinen Handschuh aus, um ihr die Hand zu geben, sie aber versteht zu spät die Bedeutung der für ihn raren Geste und der Moment ist vorbei. Es gab ihn aber und er hat gezeigt, welcher Wunder der Alltag offenbaren kann. Das ist nicht sentimental gemeint, sondern ganz „spröde“, wie Kronauer die Menschenliebe der Literatur bezeichnet hat.
Der Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler beschreibt in seinem Essay über Gegenwartsliteratur, wie Brigitte Kronauer sich mit „kühlstem Herz“ dem „Kleinen“ widmet, indem sie den „Stilkörper“ aktiviert. Ihre Eleganz tariert die Moral aus, so dass sie weder wie ihre Figur Rosetta, eine Gelbstirnamazone übrigens, Kunst mit Kitsch verwechselt noch wie die wirklichen Anti-Figuren ihrer Geschichten Eleganz als „Rundumpolitur“ trägt.
Und dann ist da ja noch Kronauers Humor. In der Geschichte „Suppenkasper“ zum Beispiel, die von einer Frau und ihrer fixen Idee handelt, sich physisch zu reduzieren. Da heißt es dann, wenn sie nachts im Bett liegt: „In schamloser Neugier betastete sie leicht raschelnd ihre Überreste. (‚Was schürft hier so?’, fragte gelegentlich der Mann schlaftrunken und träumte schon wieder von ihrer Antwort, die sie sich deshalb sparte.)“ Gerade diese Geschichte bekommt ein Happy End. Dem bleibt bei Kronauer allerdings fast immer eine Bitternote, ein kleiner oder größerer Schreck eingeschrieben.
Nein, Mitleid zeigt Brigitte Kronauer mit ihren Figuren nicht. Sie schaut ihnen eher wie eine Göttin zu, deren Blick ihre Kreaturen aus dem „Gewimmel“ heraushebt. Dieser Blick wird immer dann besonders intensiv, wenn er die Unscheinbaren, Gewöhnlichen trifft. Lieb seien ihr, schreibt Charlotte, „schiefergraue, beschwingte Büroangestellte, die an schönen Sommerabenden mit ihren Fahrrädern, auf denen ihnen Flügel wuchsen, und mit ihren Aktentaschen nach Dienstschluss aufatmend zu den Lauben in ihre kleinen Paradiese fuhren!“ – Mit Ausrufezeichen.
Die letzte Geschichte
erzählt ein alter,
engstirniger weißer Mann
Wenn es ein Happy End
gibt, ist darin fast immer eine
Bitternote enthalten
Brigitte Kronauer: Das Schöne, Schäbige, Schwankende. Romangeschichten. Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 596 Seiten, 26 Euro.
Ihr Alter Ego im Roman scheitert am Projekt „Glamouröse Handlungen“. Zum Glück. Brigitte Kronauer Ende 2015 in ihrer Hamburger Wohnung.
Foto: dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
sorgsam geschürft
Im Juli starb Brigitte Kronauer.
Ihr letztes Buch erzählt von den Langsamen,
Einsamen, Enthusiastischen. Und ist voller Witz.
VON INSA WILKE
Eine Schriftstellerin, die von „Menschenliebe“ spricht, von „Trost“ und „fühlendem Denken“, von einer Revolution, die sie darin sieht, „daß kein Mensch, ob Überflieger oder nicht, flach ist, simpel ist!“, eine Autorin (auch noch eine Frau!), die offensichtlich mit großer Freude das Ausrufezeichen verwendet und es an Liebe zum ausdrucksvollen Leben auch sonst nicht fehlen lässt, eine solche Schriftstellerin könnte leicht als Blumenmädchen belächelt werden. Manchem könnten ihre Bücher ein Gräuel sein, aus moralischen Gründen und im Namen der beinharten Literatur. Das passierte Brigitte Kronauer aber nicht, als sie 2005 solche Sachen in ihrer Dankesrede zum Büchner-Preis sagte. Ihr letztes Buch wird auch in der Kritik als literarisches Vermächtnis gelobt. Worin liegt es, dieses Vermächtnis?
„Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ sind Romangeschichten, wie Kronauer das Genre im Untertitel nennt. Vielleicht hat sie es sich wie Christoph Ransmayr gedacht, der zum „Atlas eines ängstlichen Mannes“ erklärte, die Lebenszeit reiche nicht aus, um alle Romanideen umzusetzen. Also müsse man Formen finden, sie auf anderem Weg in die Welt zu schicken. Als schlanke Geschichten, die das Potenzial zum Roman haben und durch bestimmte Prinzipien zu etwas Größerem zusammengehalten werden.
Bei Brigitte Kronauer verbindet ihr erzählendes Alter Ego die einzelnen Episoden. Es ist die Schriftstellerin Charlotte, die mal in Ich-Form, mal in der dritten Person erzählt. Charlotte erwähnt im Prolog auch das Erzählprinzip: alle Figuren erfahren „drei Entwicklungsstufen, mit sehr unterschiedlichem Erfolg, je nach Abteilung“. Das Schöne steht für den Aufstieg, das Schäbige für den Absturz, das Schwankende für die Möglichkeiten dazwischen. Klassisch.
Charlotte bemerkt aber selbst, dass alles durcheinander flattert und ins Rutschen gerät. Von wegen Ordnung. Trotzdem kann man sich als Leserin herrlich an diesem Prinzip abarbeiten und detektivisch tätig werden. Dann verpasst man aber das Eigentliche: „die blitzschnellen, geheimen Vorgänge zwischen den Individuen und die widersprüchlichen in sich selbst (...), die schließlich die Handlung erzeugen – egal ob eine Ehe oder ein ganzes Volk drauf geht“. Wer dafür einen Sinn habe, so Kronauer alias Charlotte, werde angeschaut wie jemand, „der im aktuellen Jahrtausend Masche für Masche Topflappen strickt.“
Um ihre narrative Potenz unter Beweis zu stellen, schreibe sie jetzt „Glamouröse Handlungen“. Die gelingen ihr aber nicht. Stattdessen streift sie in „barscher, strohiger, oft chaotischer Landschaft“ rund um ein Haus mit „blauen Schlagläden“ umher, in das sie sich zurückgezogen hat und ärgert sich über die Frechheit der Vögel: Sie „formierten sich auf diesen Gängen zu einer imaginären Tapete. Richtig, sie tapezierten zunehmend die Wiesen, musterten unverschämt die Wolken und starrten mich herausfordernd an.“
Als herausfordernd empfindet Charlotte das Menschliche, das sie in den Vögeln wiedererkennt. Ob Wasseramsel, Sonnensittich oder Spatzenmännchen, sie alle ähneln jemandem, inspirieren Brigitte Kronauers Alter Ego und erinnern sie an Begegnungen, an Erlebtes, nicht an Erfundenes. Das ist wichtig, denn die letzte der drei größeren Erzählungen, die den kürzeren „Vogelgeschichten“ nachgeordnet sind, ist auf Wunsch von Charlottes Mann Paul eine – angeblich – erfundene Geschichte und aus der Perspektive eines „alten, weißen Mannes“ erzählt.
Man schüttelt sich da erst, weil es einen so merklichen Abfall in der Erzählweise gibt. Das ist aber nur konsequent, es erzählt ja jetzt plötzlich ein alter, engstirniger und wenig empathischer Mann, der den Isenheimer Altar verehrt und geblendet vom „Duft und Gold reinsten Einverständnisses um die irdische Mutter und ihr göttliches Kind herum“ sich in den „leisen Gesang“ seiner Pflegerin verliebt, „wenn sie, gemäß ihrer „geruhsamen weiblichen Existenz“ nach dem Abendbrot den „Tisch abräumt mit feinem Klirren“.
Wenn dieser Mann erzählt, werden die Sätze und Ansichten schlicht und man muss sich mühen, die Ambivalenz zu finden, welche die meisten der hinreißenden Vogelgeschichten auszeichnet. Die sind fantastisch altmodisch, großartig lebensklug und erzählt, als würde Kronauer mit dem Florett durch die Zeilen tänzeln. Eigentlich handelt es sich bei diesen Geschichten um Novellen, an deren Ende etwas Unerhörtes bleibt, das immer sowohl in der Beobachtung als auch in der bewusst artifiziellen Sprache liegt, die (siehe Büchner-Preis-Rede) nicht immer zu ihren Figuren zu passen scheint.
Die Kunst und ihr Betrieb bekommen es dabei besonders ab. In der Geschichte „Der Höfling“ widmet Kronauer alias Charlotte dem Dompfaff ihre spitze Feder. In ihm erkennt sie den Schriftsteller Triegel: „Er beherrschte die Gepflogenheiten der Kulturbranche wie geschmiert. Es war ein Furor des Verneigens, eine Raserei, bis er das plötzlich abbrach, stillstand mit starrer Miene und in Zitaten sprach. Er hatte es gar nicht nötig, einen eigenen Satz auszudenken.“
Wenn es um den Spott über die Hybris und Heuchelei der Kunstszene geht, sind Pointen (Krawel, krawel) leicht zu holen. Brigitte Kronauer ist sich dafür nicht zu schade. Virtuos kaschiert sie das kokett Derbe mit einer manchmal wohl bewusst manierierten Originalität. Ihre Satiren wirken geradezu galant. Trotzdem gibt es noch stärkere Stücke als die Kunst-Betriebsgeschichten. Das sind diejenigen, die sich den Langsamen widmen. Zum Beispiel dem Gärtner, der zum Erzählen Anlauf nehmen muss und dessen Sätze wie Schritte in „schweren Arbeitsstiefeln“ wirken. Das ist so eine Kronauer-Formulierung, die man voll Behagen und glücklich liest, wie auch die unerhörte Begebenheit, die sich mit diesem Gärtner abspielt.
Es geht dabei nur um eine Geste, und eben darin liegt die Kunst von Brigitte Kronauer: in dem Gespür für die Bedeutung solcher Gesten und in der Fähigkeit, sie skizzenhaft für die Leser-Imagination zu entwerfen. Dem Gärtner ist die Erzählerin immer mal wieder begegnet. Als sie ihn nach längerer Abwesenheit im Botanischen Garten wiedersieht, zieht er seinen Handschuh aus, um ihr die Hand zu geben, sie aber versteht zu spät die Bedeutung der für ihn raren Geste und der Moment ist vorbei. Es gab ihn aber und er hat gezeigt, welcher Wunder der Alltag offenbaren kann. Das ist nicht sentimental gemeint, sondern ganz „spröde“, wie Kronauer die Menschenliebe der Literatur bezeichnet hat.
Der Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler beschreibt in seinem Essay über Gegenwartsliteratur, wie Brigitte Kronauer sich mit „kühlstem Herz“ dem „Kleinen“ widmet, indem sie den „Stilkörper“ aktiviert. Ihre Eleganz tariert die Moral aus, so dass sie weder wie ihre Figur Rosetta, eine Gelbstirnamazone übrigens, Kunst mit Kitsch verwechselt noch wie die wirklichen Anti-Figuren ihrer Geschichten Eleganz als „Rundumpolitur“ trägt.
Und dann ist da ja noch Kronauers Humor. In der Geschichte „Suppenkasper“ zum Beispiel, die von einer Frau und ihrer fixen Idee handelt, sich physisch zu reduzieren. Da heißt es dann, wenn sie nachts im Bett liegt: „In schamloser Neugier betastete sie leicht raschelnd ihre Überreste. (‚Was schürft hier so?’, fragte gelegentlich der Mann schlaftrunken und träumte schon wieder von ihrer Antwort, die sie sich deshalb sparte.)“ Gerade diese Geschichte bekommt ein Happy End. Dem bleibt bei Kronauer allerdings fast immer eine Bitternote, ein kleiner oder größerer Schreck eingeschrieben.
Nein, Mitleid zeigt Brigitte Kronauer mit ihren Figuren nicht. Sie schaut ihnen eher wie eine Göttin zu, deren Blick ihre Kreaturen aus dem „Gewimmel“ heraushebt. Dieser Blick wird immer dann besonders intensiv, wenn er die Unscheinbaren, Gewöhnlichen trifft. Lieb seien ihr, schreibt Charlotte, „schiefergraue, beschwingte Büroangestellte, die an schönen Sommerabenden mit ihren Fahrrädern, auf denen ihnen Flügel wuchsen, und mit ihren Aktentaschen nach Dienstschluss aufatmend zu den Lauben in ihre kleinen Paradiese fuhren!“ – Mit Ausrufezeichen.
Die letzte Geschichte
erzählt ein alter,
engstirniger weißer Mann
Wenn es ein Happy End
gibt, ist darin fast immer eine
Bitternote enthalten
Brigitte Kronauer: Das Schöne, Schäbige, Schwankende. Romangeschichten. Klett-Cotta, Stuttgart 2019. 596 Seiten, 26 Euro.
Ihr Alter Ego im Roman scheitert am Projekt „Glamouröse Handlungen“. Zum Glück. Brigitte Kronauer Ende 2015 in ihrer Hamburger Wohnung.
Foto: dpa
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»Wir erleben und verleben mit dieser und allen anderen Geschichten, die in diesem Buch versammelt sind, irrlichternde Sternstunden der Literatur.« Marion Hinz, Kulturportal, 04.09.2019 Marion Hinz Kulturportal 20190904