In Russland meldet sich eine neue Generation von Autoren zu Wort. Sie waren noch Kinder, als das Imperium 1991 zusammenbrach. Anders als ihre älteren Kollegen kennen sie keine sowjetische Vergangenheit mehr, die sie verklären, bekämpfen oder dekonstruieren müssten. Doch ein riesiges Land wälzt sich um, die gewaltige Bewegung setzt sich bis in die Kapillaren des einzelnen fort. Indem sie - sei es im Fernzug nach Samara oder in den Basarvierteln von Machatschkala am Kaspischen Meer - vom jähen Ende jeglicher Gewissheit erzählen, zeichnen die jungen Schriftsteller, die dieser Band vorstellt, die Erschütterungen der Gegenwart auf. Längst kommen die aufregenden neuen Stimmen der russischen Literatur nicht mehr aus Moskau und Petersburg, sondern aus Perm, Ufa und Kazan, aus Städten und Landschaften, in denen der Einfluss des Zentrums geringer, die konfliktträchtige Heterogenität aber um so größer ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2011Am Rande der Peripherie
Eine Anthologie mit Texten junger russischer Autoren
Das literarische Russland plagen aus deutscher Sicht erhebliche demographische Probleme. Altvordere wie Viktor Jerofejew und Ludmila Ulitzkaja prägen das Bild, als Nachwuchs gelten Viktor Pelewin und Wladimir Sorokin, beide bereits um die fünfzig. Böte die Genreliteratur nicht manchen Mittvierziger, erinnerte die Riege zumindest der ins Deutsche übersetzten Autoren altersmäßig stark an das Zentralkomitee der KPdSU unter Chruschtschow oder Breschnew.
Solch historische Assoziationen bedient der Titel einer von Christiane Körner herausgegebenen und übersetzten Anthologie mit jungen Erzählern aus Russland geschickt: "Das schönste Proletariat der Welt" kann ja nur im Mutterland des Sozialismus zu Hause sein, wo sonst. Allerdings hat sich das Mutterland inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Gleich das erste der sechs Prosastücke, Alissa Ganijewas "Salam, Dalgat!", führt hinein in Sex, Drugs und Religion. Islamistischer Terror und jugendlicher Tribalismus machen sich in der "besten Stadt Russlands", wie es auf einer Hauswand heißt, die Straße streitig. Scharfschützen auf den Dächern, die auch mal den Brautvater auf einer Hochzeit niederstrecken, haben den Verkehr im Auge, die Polizisten verstecken sich. Junge Frauen werden, ob sie nun Kopftuch oder Minirock tragen, von Altersgenossen mit Gewalt und Marihuana willig gemacht, wenn ihre Brüder, die einzige und oft gerufene Machtinstanz, nicht sofort herbeieilen. Der junge Dalgat taumelt durch eine agonale Großstadt in Dagestan. Auf traumwandlerische Weise touchiert er Räume voller unübersichtlicher, zuweilen tödlicher Konflikte und kämpft darum, den Kopf und - fast ebenso wichtig - sein Handy nicht zu verlieren. So also sieht Russland an der Peripherie aus.
Alissa Ganijewa wurde wie alle Autoren der Anthologie mit dem Debüt-Preis ausgezeichnet, den die gemeinnützige Stiftung "Pokolenie" (Generation) seit elf Jahren in den Sparten Kurzprosa, große Prosaform, Lyrik, Essay und Drama verleiht. Die Bewerber dürfen nicht älter als fünfundzwanzig Jahre sein. Dennoch werden jedes Jahr 30 000 bis 50 000 Manuskripte eingereicht - womöglich "eine anthropologische Antwort auf die schwierige Lage von Kultur und Literatur", rätselt die Organisatorin des Debüt-Preises, Olga Slawnikowa, im Vorwort.
Der Nachwuchs kommt nicht aus den kulturellen Zentren Moskau oder Sankt Petersburg, sondern aus Perm (Polina Kljukina), Ufa (Igor Saweljew) und Solikamsk (Alexej Lukjanow) im Uralgebiet, aus dem kaukasischen Dagestan (Ganijewa), aus Kasan an der Wolga (Denis Osokin) und Taschkent (Waleri Petschejkin), der Hauptstadt Usbekistans, das nicht zur Russischen Föderation gehört. Ironie ist selten die Sache der "Generation Debüt", der allwissende Erzähler herrscht vor. Die Figuren sind oft unterwegs in Räumen, die entleert sind durch Staatszerfall und Bürgerkrieg und gekennzeichnet durch Gewalt zwischen den Geschlechtern, Generationen und Familienmitgliedern.
Hoffnungslos scheint die Lage jedoch nur für Kljukinas entlassene Lagerhäftlinge zu sein. Die Jugend lässt sich von den deprimierenden Zuständen nicht die Zuversicht nehmen, was zuweilen für Glaubwürdigkeitsprobleme sorgt. Lukjanows "Hochdruck" etwa erzählt von einer Brigade im Ural, die vor der Finanzkrise, der Arbeitslosigkeit und, besonders schmerzlich, dem Vergessen von obszönen Flüchen nach Paris fliehen will, aber in Moskau strandet. Nach der kleinlauten Heimkehr renkt sich dank eines wütend geschleuderten Schraubenschlüssels alles wieder ein. Mehr möchte man doch lieber von Alissa Ganijewa und ihrem Dalgat lesen. Ob sie dann aber noch als russische Erzählerin vorgestellt wird?
JÖRG PLATH
"Das schönste Proletariat der Welt". Junge Erzähler aus Russland. Herausgegeben und übersetzt von Christiane Körner.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 210 S., br., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Anthologie mit Texten junger russischer Autoren
Das literarische Russland plagen aus deutscher Sicht erhebliche demographische Probleme. Altvordere wie Viktor Jerofejew und Ludmila Ulitzkaja prägen das Bild, als Nachwuchs gelten Viktor Pelewin und Wladimir Sorokin, beide bereits um die fünfzig. Böte die Genreliteratur nicht manchen Mittvierziger, erinnerte die Riege zumindest der ins Deutsche übersetzten Autoren altersmäßig stark an das Zentralkomitee der KPdSU unter Chruschtschow oder Breschnew.
Solch historische Assoziationen bedient der Titel einer von Christiane Körner herausgegebenen und übersetzten Anthologie mit jungen Erzählern aus Russland geschickt: "Das schönste Proletariat der Welt" kann ja nur im Mutterland des Sozialismus zu Hause sein, wo sonst. Allerdings hat sich das Mutterland inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Gleich das erste der sechs Prosastücke, Alissa Ganijewas "Salam, Dalgat!", führt hinein in Sex, Drugs und Religion. Islamistischer Terror und jugendlicher Tribalismus machen sich in der "besten Stadt Russlands", wie es auf einer Hauswand heißt, die Straße streitig. Scharfschützen auf den Dächern, die auch mal den Brautvater auf einer Hochzeit niederstrecken, haben den Verkehr im Auge, die Polizisten verstecken sich. Junge Frauen werden, ob sie nun Kopftuch oder Minirock tragen, von Altersgenossen mit Gewalt und Marihuana willig gemacht, wenn ihre Brüder, die einzige und oft gerufene Machtinstanz, nicht sofort herbeieilen. Der junge Dalgat taumelt durch eine agonale Großstadt in Dagestan. Auf traumwandlerische Weise touchiert er Räume voller unübersichtlicher, zuweilen tödlicher Konflikte und kämpft darum, den Kopf und - fast ebenso wichtig - sein Handy nicht zu verlieren. So also sieht Russland an der Peripherie aus.
Alissa Ganijewa wurde wie alle Autoren der Anthologie mit dem Debüt-Preis ausgezeichnet, den die gemeinnützige Stiftung "Pokolenie" (Generation) seit elf Jahren in den Sparten Kurzprosa, große Prosaform, Lyrik, Essay und Drama verleiht. Die Bewerber dürfen nicht älter als fünfundzwanzig Jahre sein. Dennoch werden jedes Jahr 30 000 bis 50 000 Manuskripte eingereicht - womöglich "eine anthropologische Antwort auf die schwierige Lage von Kultur und Literatur", rätselt die Organisatorin des Debüt-Preises, Olga Slawnikowa, im Vorwort.
Der Nachwuchs kommt nicht aus den kulturellen Zentren Moskau oder Sankt Petersburg, sondern aus Perm (Polina Kljukina), Ufa (Igor Saweljew) und Solikamsk (Alexej Lukjanow) im Uralgebiet, aus dem kaukasischen Dagestan (Ganijewa), aus Kasan an der Wolga (Denis Osokin) und Taschkent (Waleri Petschejkin), der Hauptstadt Usbekistans, das nicht zur Russischen Föderation gehört. Ironie ist selten die Sache der "Generation Debüt", der allwissende Erzähler herrscht vor. Die Figuren sind oft unterwegs in Räumen, die entleert sind durch Staatszerfall und Bürgerkrieg und gekennzeichnet durch Gewalt zwischen den Geschlechtern, Generationen und Familienmitgliedern.
Hoffnungslos scheint die Lage jedoch nur für Kljukinas entlassene Lagerhäftlinge zu sein. Die Jugend lässt sich von den deprimierenden Zuständen nicht die Zuversicht nehmen, was zuweilen für Glaubwürdigkeitsprobleme sorgt. Lukjanows "Hochdruck" etwa erzählt von einer Brigade im Ural, die vor der Finanzkrise, der Arbeitslosigkeit und, besonders schmerzlich, dem Vergessen von obszönen Flüchen nach Paris fliehen will, aber in Moskau strandet. Nach der kleinlauten Heimkehr renkt sich dank eines wütend geschleuderten Schraubenschlüssels alles wieder ein. Mehr möchte man doch lieber von Alissa Ganijewa und ihrem Dalgat lesen. Ob sie dann aber noch als russische Erzählerin vorgestellt wird?
JÖRG PLATH
"Das schönste Proletariat der Welt". Junge Erzähler aus Russland. Herausgegeben und übersetzt von Christiane Körner.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 210 S., br., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Bei den Autoren dieser Anthologie handelt es sich sämtlich um Debüt-Preisträger, informiert Rezensent Jörg Plath - eine Auszeichnung, die ausschließlich Nachwuchsliteraten unter 25 zuteil wird. Schon dieser Tatsache wegen bringt Plath dem Band großes Interesse entgegen, denn die russische Gegenwartsliteratur - zumindest die übersetzte - hält er ansonsten für reichlich überaltert. Abgesehen von ihrer Jugend haben die Autoren noch die Gemeinsamkeit, aus entlegenen Winkeln der Russischen Föderation zu stammen, so Plath. Außerdem konstatiert der Kritiker eine verbreitete Abneigung ironisierender Verfahren ebenso wie einen in seinen Augen unglaubwürdigen Optimismus. Denn bei den Schauplätzen der Geschichten handelt es sich um heruntergekommene Großstädte, in denen Mord, Totschlag und Vergewaltigung an der Tagesordnung sind, wie der Rezensent erzählt. Nicht jedes der sechs Prosastücke ist Plath daher eine Empfehlung wert. Alissa Ganijewas "Salam, Dalgat!" jedoch - eine in Dagestan angesiedelte Story voller "Sex, Drugs und Religion" - hat dem Kritiker ausnehmend gut gefallen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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