Live und in Farbe: Verfassungsgeschichte für KinderWas ist ein Schokoladenproblem? Es ist das Problem, das Kinder beim Teilen geschenkter Schokolade haben. Wer bekommt wie viel? Wer stellt sicher, dass keiner betrügt? Wer entscheidet? Wer hat die Macht?Die sind aber nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis von Geschichte. Was aber ist Geschichte? Alles ist Geschichte, und alles hat seine Geschichte, weiß der Autor: sein Buch, sein Verleger, dieses Werbemittel, das Sie gerade lesen, Länder und Staaten... Und auch die Verfassung von Nordrhein-Westfalen. Aber was ist Nordrhein-Westfalen? Nun, da lesen Sie mal "Das Schokoladenproblem"!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2010Brich mir noch ein Stücksken ab
Ist Jürgen Rüttgers der Weihnachtsmann? Und war Johannes Rau der Osterhase? Gewaltenteilung ist wie Schokoladenverteilung: Ewald Frie erzählt von der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen.
Der Geschichtsunterricht fängt mit der Heimatkunde an. Wer die Schlösser seiner Stadt aus Postkarten ausschneidet, in ein Schulheft klebt und mit Bildunterschriften versieht, der erfährt lange vor der ersten Lateinstunde die Wahrheit des Wahlspruchs der Monumenta Germaniae Historica, der 1819 gegründeten Gesellschaft zur Sammlung der Quellen der deutschen Geschichte des Mittelalters: Sanctus amor patriae dat animum - die heilige Liebe zum Vaterland verleiht Geisteskraft. Ins Vaterland muss man hineinwachsen, und so lernt man auf dem Bildungsweg zum Verfassungspatrioten zuerst die patria im Sinne der Zeit vor dem Nationalstaat kennen, die politisch-soziale Umwelt, in der man die ersten Schritte und Ausflüge macht.
Heute sind die Bezugsgrößen der Heimatkunde in zweifacher Weise abstrakt. Zwar sind für die Schule die Bundesländer zuständig, aber zumindest die Flächenstaaten, zusammengesetzt und unübersichtlich, wird man zumeist auch nur aus dem Schulbuch kennenlernen. Zudem gibt es keine Landesherren mehr. Die Länder sind Verfassungsstaaten.
Der Historiker Ewald Frie, 1962 geboren, stammt aus Nottuln im Münsterland. Er studierte in Münster und wurde in Essen habilitiert. Seit 2008 lehrt er als Nachfolger von Dieter Langewiesche, dem bedeutenden Historiker des Föderalismus, in Tübingen. Fast möchte man sagen: Man braucht wohl einen westfälischen Dickschädel, um auf die kühne Idee zu kommen und aus ihr wirklich ein Buch zu machen, die Verfassung von Nordrhein-Westfalen für Kinder zu erzählen. Nicht die Geschichte, sondern die Verfassung.
Über weite Strecken erzählt Frie allerdings doch die Geschichte Nordrhein-Westfalens beziehungsweise der Verhältnisse in dem Raum, der erst seit 1946 so heißt. Das klingt kompliziert. Aber der Charme des kleinen Buches liegt darin, wie einfach hier alles wirkt. Erzählt: das kann man sich nicht wörtlich genug vorstellen. Frie spricht seine Leser an, man meint ihn zu hören. Er reiht keine Anekdoten aneinander, wie er überhaupt mit erstaunlich wenig Einzelheiten auskommt. Der Erzähler knüpft an Bekanntes an, stellt Verbindungen und Kontraste her, erklärt, wie etwas funktioniert hat oder gemeint war, das heute nicht mehr klappen würde oder unverständlich ist.
Das Buch beginnt als Einführung ins historische Denken mit dem Hinweis, dass alles, was uns umgibt, eine Geschichte hat. Listig zeigt Frie aber nicht auf das Alte, sondern gibt seinen jungen Lesern zu bedenken, wie viele Dinge in ihrem Gebrauch jünger sind als sie selbst. Der erwachsene Leser ahnt, wo diese Figur ihrerseits herkommt: aus einer vielleicht besonders mit Universitäten wie Köln und Bielefeld verbundenen Tradition der Verfassungsgeschichte als politischer Sozialgeschichte, die unter dem Eindruck des Verschwindens der Dinge und der Beschleunigung der Entwicklung steht. Die wichtigste Zäsur in Fries (Vor-)Geschichte Nordrhein-Westfalens liegt deshalb um das Jahr 1800: der Übergang zu einer politischen Ordnung, in der Macht nicht mehr monopolisiert und tradiert, sondern verteilt wird.
Auch die NRW-Verfassung will immer noch das Problem lösen, das man sich aufhalste, als man den König nicht mehr alles allein machen lassen wollte. Frie nennt es das Schokoladenproblem. Jedes Kind kennt die Lösung: "Du teilst, ich such' aus." Im neunzehnten Jahrhundert hätte man diese Herleitung der Gewaltenteilung aus elementaren Erfahrungen des Zusammenraufens eine Naturlehre des Staates genannt. In den begleitenden Karikaturen schlüpfen ein Junge und ein Mädchen in die Doppelrolle des historischen Menschen als Akteur und Beobachter. Beim Nationalsozialismus stößt das Verfahren an seine Grenze. Hier hätte der Zeichner die Kinder beim Lesen zeigen sollen. Denn man wird nachfragen und weiterlesen wollen, wenn man dieses Buch gelesen hat. Es ist kein dickes Geschichtsbuch, das irgendwann zäh wird.
Der Landespatriot im Exil hätte sich etwas mehr über die einzelnen Bestimmungen der Verfassung gewünscht, zur Ergänzung seiner Bonner Heimatkunde, die nie bis Düsseldorf kam. Aber die nordrhein-westfälische Verfassung unterscheidet sich gar nicht sehr von den Verfassungen der anderen Länder, und in der modernen Welt, wo alles Besondere mit der Zeit verschwindet, wird das Typische historisch interessant.
PATRICK BAHNERS
Ewald Frie: "Das Schokoladenproblem". Die Verfassung von Nordrhein-Westfalen jungen Menschen erzählt. Illustriert von Thomas Plaßmann. Greven Verlag, Köln 2009. 104 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 10 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ist Jürgen Rüttgers der Weihnachtsmann? Und war Johannes Rau der Osterhase? Gewaltenteilung ist wie Schokoladenverteilung: Ewald Frie erzählt von der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen.
Der Geschichtsunterricht fängt mit der Heimatkunde an. Wer die Schlösser seiner Stadt aus Postkarten ausschneidet, in ein Schulheft klebt und mit Bildunterschriften versieht, der erfährt lange vor der ersten Lateinstunde die Wahrheit des Wahlspruchs der Monumenta Germaniae Historica, der 1819 gegründeten Gesellschaft zur Sammlung der Quellen der deutschen Geschichte des Mittelalters: Sanctus amor patriae dat animum - die heilige Liebe zum Vaterland verleiht Geisteskraft. Ins Vaterland muss man hineinwachsen, und so lernt man auf dem Bildungsweg zum Verfassungspatrioten zuerst die patria im Sinne der Zeit vor dem Nationalstaat kennen, die politisch-soziale Umwelt, in der man die ersten Schritte und Ausflüge macht.
Heute sind die Bezugsgrößen der Heimatkunde in zweifacher Weise abstrakt. Zwar sind für die Schule die Bundesländer zuständig, aber zumindest die Flächenstaaten, zusammengesetzt und unübersichtlich, wird man zumeist auch nur aus dem Schulbuch kennenlernen. Zudem gibt es keine Landesherren mehr. Die Länder sind Verfassungsstaaten.
Der Historiker Ewald Frie, 1962 geboren, stammt aus Nottuln im Münsterland. Er studierte in Münster und wurde in Essen habilitiert. Seit 2008 lehrt er als Nachfolger von Dieter Langewiesche, dem bedeutenden Historiker des Föderalismus, in Tübingen. Fast möchte man sagen: Man braucht wohl einen westfälischen Dickschädel, um auf die kühne Idee zu kommen und aus ihr wirklich ein Buch zu machen, die Verfassung von Nordrhein-Westfalen für Kinder zu erzählen. Nicht die Geschichte, sondern die Verfassung.
Über weite Strecken erzählt Frie allerdings doch die Geschichte Nordrhein-Westfalens beziehungsweise der Verhältnisse in dem Raum, der erst seit 1946 so heißt. Das klingt kompliziert. Aber der Charme des kleinen Buches liegt darin, wie einfach hier alles wirkt. Erzählt: das kann man sich nicht wörtlich genug vorstellen. Frie spricht seine Leser an, man meint ihn zu hören. Er reiht keine Anekdoten aneinander, wie er überhaupt mit erstaunlich wenig Einzelheiten auskommt. Der Erzähler knüpft an Bekanntes an, stellt Verbindungen und Kontraste her, erklärt, wie etwas funktioniert hat oder gemeint war, das heute nicht mehr klappen würde oder unverständlich ist.
Das Buch beginnt als Einführung ins historische Denken mit dem Hinweis, dass alles, was uns umgibt, eine Geschichte hat. Listig zeigt Frie aber nicht auf das Alte, sondern gibt seinen jungen Lesern zu bedenken, wie viele Dinge in ihrem Gebrauch jünger sind als sie selbst. Der erwachsene Leser ahnt, wo diese Figur ihrerseits herkommt: aus einer vielleicht besonders mit Universitäten wie Köln und Bielefeld verbundenen Tradition der Verfassungsgeschichte als politischer Sozialgeschichte, die unter dem Eindruck des Verschwindens der Dinge und der Beschleunigung der Entwicklung steht. Die wichtigste Zäsur in Fries (Vor-)Geschichte Nordrhein-Westfalens liegt deshalb um das Jahr 1800: der Übergang zu einer politischen Ordnung, in der Macht nicht mehr monopolisiert und tradiert, sondern verteilt wird.
Auch die NRW-Verfassung will immer noch das Problem lösen, das man sich aufhalste, als man den König nicht mehr alles allein machen lassen wollte. Frie nennt es das Schokoladenproblem. Jedes Kind kennt die Lösung: "Du teilst, ich such' aus." Im neunzehnten Jahrhundert hätte man diese Herleitung der Gewaltenteilung aus elementaren Erfahrungen des Zusammenraufens eine Naturlehre des Staates genannt. In den begleitenden Karikaturen schlüpfen ein Junge und ein Mädchen in die Doppelrolle des historischen Menschen als Akteur und Beobachter. Beim Nationalsozialismus stößt das Verfahren an seine Grenze. Hier hätte der Zeichner die Kinder beim Lesen zeigen sollen. Denn man wird nachfragen und weiterlesen wollen, wenn man dieses Buch gelesen hat. Es ist kein dickes Geschichtsbuch, das irgendwann zäh wird.
Der Landespatriot im Exil hätte sich etwas mehr über die einzelnen Bestimmungen der Verfassung gewünscht, zur Ergänzung seiner Bonner Heimatkunde, die nie bis Düsseldorf kam. Aber die nordrhein-westfälische Verfassung unterscheidet sich gar nicht sehr von den Verfassungen der anderen Länder, und in der modernen Welt, wo alles Besondere mit der Zeit verschwindet, wird das Typische historisch interessant.
PATRICK BAHNERS
Ewald Frie: "Das Schokoladenproblem". Die Verfassung von Nordrhein-Westfalen jungen Menschen erzählt. Illustriert von Thomas Plaßmann. Greven Verlag, Köln 2009. 104 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 10 J.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für ein reichlich kühnes Unterfangen hält es der Rezensent Patrick Bahners, die Verfassung von Nordrhein-Westfalen in Form eines Kinderbuchs darzustellen. Und doch gelingt es offenbar recht weitgehend. Ein wenig schummle der Autor, Verfassungsgeschichtler in Tübingen, zwar schon, indem er nämlich doch einen beträchtlichen Teil des Buchs für die Beschreibung der Geschichte und Vorgeschichte des heutigen Bundeslands aufwendet. Wo es dann aber systematisch wird, da findet Bahners das Buch doch recht überzeugend. Zum einen, weil der Autor die Sache mit dem Erzählen wirklich ernst meint und einen richtigen Ton trifft. Langweilig werde es überdies nie, die den Text begleitenden Karikaturen scheinen - die Zeit des Nationalsozialismus nimmt Bahners allerdings aus - angemessen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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