Das Leben und die Kultur der osteuropäischen Juden, die einst in den kleinen Städtchen und Enklaven von der Ostgrenze Deutschlands bis in den Westen Rußlands siedelten, schildert der vorliegende Band auf anschauliche Weise. "Dieses Buch ist die Aufzeichnung einer eigenen Lebenswelt, es wurde von innen heraus geschrieben, und wir sehen Tränen der Freude und der Trauer zwischen den Fingern der Hausfrau glänzen, während sie die Sabbatkerzen anzündet. Es ist von innen heraus geschrieben worden, weil nur so die innere Bedeutung erleuchtet und von der lesenden Welt geteilt werden kann." (Margaret Mead)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2001Aufgepaßt, Ihr Talmudschüler, wenn Ihr bei den Wohltätern speist!
Sprengsatz der Mobilität: Die zerstörte Welt des Schtetl war kein homogener Kosmos, wie der Blick auf Autobiographien russischer Juden zeigt / Von Yvonne Kleinmann
Das Universum des Schtetls ist ein ungebrochenes Kontinuum. Vom frühen Altertum bis heute gibt es keinen wirklichen Bruch in der Tradition." Oder: "Die osteuropäischen Juden hatten eine lebendige Kultur, die im wesentlichen aus einem Stück war, ob sie nun in Polen, Ungarn oder Rußland ihre Steuern zahlten." Diese und ähnlich verallgemeinernde Thesen finden sich in Mark Zborowskis und Elizabeth Herzogs Studie "Das Schtetl" aus dem Jahr 1952, die in populären wie wissenschaftlichen Arbeiten als Standardwerk zitiert wird. Eine Gruppe nordamerikanischer Anthropologen und Soziologen hatte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg jüdische Emigranten in erster und zweiter Generation nach ihrem Leben in Osteuropa befragt; erweitert wurde die mündliche Quellenbasis durch das Studium von historiographischen Untersuchungen, Belletristik und Bilddokumenten.
Zborowski und Herzog konstruierten daraus ein Schtetl-Bild, wie es harmonischer und statischer kaum sein könnte: Religiöse Autoritäten, Bräuche und Bildungsinstitutionen stehen ebenso unverrückbar wie soziale Hierarchien. Nichtjüdische Einwirkung von außen und Reformstreben von innen erscheinen lediglich als Prüfung und Stärkung der Wertegemeinschaft. Auf soziale Konflikte deutet lediglich das Leitmotiv der Armut, doch selbst dieses entgeht dem ebenso folkloristischen wie verharmlosenden Grundton nicht.
Ein solches Bild, losgelöst von konkreten Orten, Wirtschaftssystemen und Regierungen, mochte nach der beispiellosen jüdischen Migrationswelle aus dem Zarenreich und dem Trauma der Shoah der Konsolidierung einer neuen jüdischen Gemeinschaft dienen - zu einer differenzierten Untersuchung des Schtetl-Phänomens in Osteuropa wird es kaum beitragen. Der Quellenwert autobiographischer Zeugnisse ist damit nicht grundsätzlich in Frage gestellt, nur sollten Geschichtszeit und -raum genau definiert sein. Selbst heute sind noch zahlreiche Memoirentexte neu zu entdecken, die das Leben in einzelnen Schtetln seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dokumentieren, wenn auch in seltenen alten Zeitschriften und in vielen Sprachen.
Ein Beispiel: Kopyl, Gouvernement Minsk, Weißrußland, um 1850: "In Kopyl war es keine Seltenheit, daß ein Mann seine Frau allein zurückließ, im Gegenteil: Es entsprach der Ordnung der Dinge. Manche fuhren weg, um sich in der Wissenschaft zu vervollkommnen, andere, um sich ein Auskommen zu suchen. So erschien Kopyl zehn Monate lang wie eine Stadt der Amazonen, genauer der jungen Händlerinnen, die ohne männliche Hilfe einen verzweifelten Kampf um die Existenz führten. Indes belebte sich Kopyl in der Zeit der Feiertage, zu Pessach und zum Laubhüttenfest . Die jungen Männer brachten zum einen Geld mit, den Verdienst eines halben Jahres, was von ökonomischer Bedeutung für die arme Stadt war, zum andern verkündeten sie interessante Neuigkeiten und berichteten vom Leben in fernen Gegenden; manchmal brachten sie auch neue Bücher mit - und Ideen."
Bei Abram Paperna (1840 bis 1919), dem Verfasser dieser Zeilen, findet sich keine Spur von Schtetl-Nostalgie. Die Protagonisten seiner Kindheit sind Teil einer geistig wie geographisch mobilen jüdischen Gesellschaft. Wo Familienleben keine Selbstverständlichkeit ist und Väter von Reisen verändert zurückkehren, fällt es schwer, Hierarchien und religiöse Werte aufrechtzuerhalten. Wer fände die Zeit zu kontrollieren, welche Lektüre die Jungen im Bethaus studieren, welches Buch der Vater aus Danzig mitgebracht hat? Dennoch vollzieht sich die Hinwendung zu Werken der jüdischen Aufklärung und weltlichen Literatur Westeuropas im verborgenen, da eine unbedachte Provokation der Gemeindeautoritäten bis in die 1850er Jahre schwere Folgen hat. Diese beschreibt Arkadij Kovner (1842 bis 1909), ein Zeitgenosse Papernas aus dem Gouvernement Wilna: "Wenn sich jemand etwas europäisch kleidete, sich Schläfenlocken und Bart geringfügig stutzte, gestärkte Wäsche und geputzte Stiefel trug, nicht ganz so inbrünstig wie die anderen betete, deutsche Bücher las, gelegentlich Theater oder Konzert besuchte, dann galt er bei den orthodoxen Juden als Glaubensabtrünniger, als Epikureer. Das Leben eines solchen konnte bisweilen unerträglich werden. Fromme Juden gingen ihm aus dem Weg, mieden jegliche Beziehung und räumten ihm mitunter alle erdenklichen Hindernisse in den Weg: sie verwehrten ihm den Zugang zum Bethaus, beerdigten ihn ohne die angemessenen Ehren, schickten ihn außer der Reihe zum Militärdienst." Allein die Drohung solcher Sanktionen, insbesondere des Soldatenschicksals, welches unter Nikolaj I. kaum zu durchstehende fünfundzwanzig Jahre währt, läßt die jungen Reformhungrigen verstummen und garantiert den Gemeinden einen oberflächlichen Frieden.
Im autokratischen Russischen Reich sind auch dem jüdischen Sozialgefüge demokratische Strukturen fremd. Welthungrige Heranwachsende leiden zunächst unter jüdischen Hierarchien und erst Jahrzehnte später unter der russischen Herrschaft. So wächst die Anhängerschaft der jüdischen Aufklärung beinahe lautlos, verbunden durch ein Netzwerk heimlich kursierender Literatur. Erstmals werden auf den Seiten der neuen hebräischen Zeitschriften weltliche Themen behandelt; Frauen begeistern sich für frühe Autoren des Jiddischen, welches noch nicht als vollwertige Literatursprache, sondern als Jargon des profanen Alltags gilt. Unbeeindruckt vom Aufruhr in der Ideenwelt, fügt sich der Lebenskreis harten ökonomischen Notwendigkeiten. Auch dem brennenden Anhänger Moses Mendelssohns sucht die Familie spätestens im achtzehnten Lebensjahr eine Braut aus, die zu ihren Vorfahren nicht unbedingt Talmudgelehrte rechnet, dafür aber die materielle Basis der künftigen Familie sichert. Die Eheanbahnung ist unter den Wohlhabenden ein professionell betriebenes Geschäft, welches durch einen Vertrag besiegelt wird. Die romantische Liebesheirat käme einem Bankrott gleich. Von Pragmatismus durchdrungen sind selbst die Ehrenämter der Gemeinde. So verdingt sich der geachtete Kantor auch als Schächter und Notar, da sein spärliches Gehalt allein den Lebensunterhalt nicht decken könnte. Ein geschlossenes Berufsbild kennt das Schtetl nicht, sondern lebt nach dem Prinzip der Multifunktionalität.
Kindheit und Jugend von Abram Paperna wie Arkadij Kovner sind fest eingebettet im jüdischen Milieu. Zwar zählen zu den zirka 3000 Einwohnern Kopyls neben Juden auch Weißrussen und Tataren, und Wilna ist seit langem auch Zentrum polnischer Kultur, doch besteht außerhalb pragmatischer Geschäftskontakte keine Überschneidung der in Religion, Kultur und Broterwerb sehr unterschiedlichen Lebenskreise. Die Beziehungen bleiben friedlich, nicht etwa aus einem multikulturellen Ideal heraus, sondern weil man nicht in wirtschaftlicher Konkurrenz steht.
Solange ein junger Jude den Weg des traditionellen Religionsstudiums geht, erfährt er die umfassende, wenn auch kärgliche Unterstützung des jüdischen Bildungs- und Wohltätigkeitssystems. Über seinen Vater berichtet Kovner, was er selbst noch zwanzig Jahre später erlebt: "Wie alle anderen armen Burschen in den kleinen jüdischen Schtetl der nordwestlichen Gouvernements schlug er sich bis zu seiner ersten Hochzeit durch, indem er in Bethäusern lebte und sich bei verschiedenen Wohltätern ernährte, welche die jungen Leute nach alter Sitte an je einem festgesetzten Tag der Woche durchfütterten."
Ein Elfjähriger, der sich auf eine solche mehrjährige Wanderschaft begibt, zählt nicht mehr zu den Kindern und entfernt sich in einer Zeit ohne Eisenbahnen schnell aus der elterlichen Obhut, soweit diese überhaupt existiert. Dagegen nimmt die Prägung durch das direkte, beständig wechselnde Lebensumfeld zu; eine zentrale Rolle spielen die "sieben Gastgeber", welche stets zu den Reichsten des Schtetls gehören. Woher rührt ihr Reichtum? Zumeist aus größeren Handelsgeschäften, die ein hohes Maß an Mobilität und Sprachkenntnissen, aber auch Abstriche bei den Religionsgesetzen erfordern. Ausgerechnet in solche Häuser kommen die jungen Talmudstudenten, die doch zu Hütern der Tradition herangezogen werden sollen, und erhaschen die Ahnung eines alternativen Lebenswegs. Christliche Nachbarn und russische Institutionen, bisher lediglich als Streiflichter an der Peripherie wahrgenommen, gewinnen schärfere Konturen, wenn es um den Eintritt in ein staatliches Gymnasium geht. Mangelnde Russischkenntnisse müssen Paperna wie Kovner in kurzer Zeit kompensieren und können hierbei keineswegs auf das Wohltätigkeitssystem ihrer Gemeinden zählen, die allem weltlichen Lernen erbitterten Widerstand entgegensetzen. So wird Paperna auf der Reise zum Wilnaer Rabbinerseminar, einem frühen Zentrum der Russifizierung, von Traditionswächtern seiner Gemeinde abgefangen. Einem ähnlichen Mißgeschick beugt Kovner vor, indem er sich wie ein Dieb aus seinem Schtetl zum Studium nach Kiew stiehlt. Seine junge Frau und ein Säugling bleiben ungefragt zurück.
Doch überdauern die Strukturen des jüdischen Sozialgefüges weder eingefroren das gesamte neunzehnte Jahrhundert, noch sind sie überall gleich. Der Begriff "Schtetl" suggeriert für ganz Mittel- und Osteuropa eine Gleichförmigkeit jüdischer Kultur jenseits von Raum und Zeit, die der Prüfung aus der Nähe nicht standhält. Davon zeugen die Erinnerungen Genrich Sliozbergs (1863 bis 1937), der zum einen zwanzig Jahre nach Paperna und Kovner auf die Welt kommt und darüber hinaus in einer anderen Grenzregion des Zarenreiches aufwächst: im südrussischen Poltava.
Dieses Gouvernement wie auch das benachbarte Neurußland sind für jüdische Ansiedlung erst durch eine Verfügung Alexanders I. von 1804 freigegeben. Die Tradition der jüdischen Selbstverwaltung, welche die Juden Weißrußlands und Litauens aus der Zeit polnischer Herrschaft mitbringen, bleibt hier unbekannt, da für jüdische Untertanen seit Beginn der Ansiedlung, vom Kultus abgesehen, die allgemeinen Landesgesetze gelten. Den Umgang mit der christlichen Bevölkerung empfindet der junge Sliozberg in den 1870er Jahren als Selbstverständlichkeit: "Die heimischen Juden sprachen ausgezeichnet Kleinrussisch; die christliche Bevölkerung hatte sich an die Juden gewöhnt, sich in solchem Maße auf sie eingestellt, daß sie sich mit dem gänzlichen Unterlassen des Handels an Samstagen abgefunden hatte, da mit wenigen Ausnahmen alle Handelseinrichtungen jüdisch waren. Gern ging man als Hausdiener zu Juden (jüdische Dienstboten gab es in Poltava gar nicht). Jene Familien, die sich Personal leisten konnten, verließen sich sogar in Küchenangelegenheiten auf christliche Dienstboten. Die Köchinnen wußten, daß das Fleisch zu salzen und das Milchgeschirr vom Fleischgeschirr zu trennen ist, und bemühten sich, ihre Hausherren nicht zur Sünde zu verleiten."
Im Gegensatz zu den armen weißrussischen und litauischen Städten und Dörfern sind die wachsenden Industrie- und Handelszentren des Gouvernements Poltava sowie Neurußlands eine Zuwanderungsregion. Von den knapp 30000 Einwohnern Poltavas sind lediglich 16 Prozent Juden, so daß konzentrierte jüdische Nachbarschaften als Ausnahme gelten. Selbst der jiddische Wortschatz enthält hier einen wesentlich höheren russischen Anteil als im Nordwesten. Obwohl die Jüdische Gemeinde verhältnismäßig klein ist, kann sie sich eine imposante Choralsynagoge mit über tausend Plätzen leisten. Wer bezahlt und füllt diesen Raum? Poltava floriert bis in die 1870er Jahre hinein dank seiner großen sommerlichen Messe, die unter anderem zahlreiche wolhynische und polnische Juden anzieht. Dieser saisonale Aufschwung ermöglicht der ständigen Bevölkerung auch über den Rest des Jahres ein Leben in relativem Wohlstand. Tagelöhner und Bettler, die in Litauen und Weißrußland zum Straßenbild gehören, gibt es unter den Juden Poltavas kaum, da die meisten zumindest den Status von Handwerkern, Händlern oder Schankwirten erreichen. Die Nähe zur christlichen Bevölkerung und die Begegnung mit dem Messepublikum hinterlassen Spuren: Der traditionelle Kaftan und der chassidische Hut weichen allgemeiner städtischer Kleidung; Schläfenlocken und Bärte fallen. Dem schreibt Sliozberg eine tiefere Bedeutung zu: "Im allgemeinen hielten sie die Religionsgesetze streng ein und standen an Frömmigkeit äußerlich auf keinen Fall den litauischen Juden nach. Diese äußerliche Frömmigkeit hatte jedoch keinen inneren Gehalt. Die Frömmigkeit war kalt, unbeseelt; der Sinn der Zeremonien und religiösen Vorschriften, welche einen jeden Schritt eines Juden regulieren, blieb dunkel, und deshalb war auch die Form ihrer Ausführung oft entstellt."
Dieses harte Urteil rührt hauptsächlich aus dem Vergleich, denn Sliozbergs Familie zählt zu jener Schar Talmudgelehrter aus dem litauischen und weißrussischen Raum, die von der Armut in den Süden getrieben wurde. Dort gleichen sie den akuten Mangel an Religionslehrern so lange aus, bis auch sie sich in Kaufleute oder Akademiker verwandelt haben. Genrich Sliozberg tritt in ein russisches Gymnasium ein und absolviert später die Juristische Fakultät der Petersburger Universität.
Seine Memoiren schreibt er, gleich Paperna und Kovner, auf russisch. Alle drei hätten die sprachlichen Fähigkeiten, ihre Lebensgeschichte auch hebräisch oder jiddisch zu erzählen. Warum tun sie es nicht? Sie schreiben aus der Distanz jener, die das Schtetl verlassen haben: Paperna besucht zwei russischsprachige Rabbinerseminare, Kovner arbeitet als Bankangestellter und Publizist in St. Petersburg, wo er zur russischen Orthodoxie konvertiert, und am selben Ort agiert Sliozberg bis zur Oktoberrevolution als angesehener Jurist. Da keiner der Memoirenschreiber das Schtetl grundsätzlich verdammt, wirkt die Wahl der russischen Sprache für die Beschreibung eines überwiegend jüdischen Umfelds wie ein Versuch, dem russischen Publikum eine fremde Welt nahezubringen.
Die drei Autobiographien sind mittlerweile in Rußland neu herausgegeben worden; das deutsche Publikum jedoch steht vor einer Sprachbarriere. Bereits überwunden haben diese immerhin jene russischsprachigen Memoirentexte, die zur Zeit der Niederschrift mit ihren Autoren den Weg in die Sprachen des Exils fanden. Hierzu zählen die Erinnerungen Jacob Teitels (1850 bis 1939), deren deutsche Version schon 1929 in Berlin erschienen ist und seit einiger Zeit in einer sorgfältigen neuen Edition vorliegt. Unter allen erwähnten Autoren ist Teitel sicher jener, der sich schon lange vor dem deutschen Exil am weitesten vom Schtetl-Alltag entfernt, indem er als einer der wenigen jüdischen Juristen im Staatsdienst quasi in eine russische Haut schlüpft. So verkörpert er, der Angehörige einer religiösen Minderheit, für andere religiöse und ethnische Minderheiten im zentralrussischen Samara fast dreißig Jahre lang als Untersuchungsrichter die Zarenmacht - ein einmaliger und konfliktreicher Rollentausch.
In Auseinandersetzungen gerät Teitel nicht etwa mit der bäuerlichen Bevölkerung, sondern mit altgedienten lokalen Beamten und Adligen, denen er als Verfechter der Justizreform von 1864 äußerst unwillkommen ist. Sein Bemühen um eine intensive Befragung der Angeklagten und eine genaue Beweisführung ist sachlich nicht angreifbar, um so mehr seine Position als Jude in einem hohen Amt. In den restaurativen 1890er Jahren mehrfach vor die Wahl gestellt, durch Konversion zum Christentum weiter im Amt aufzusteigen oder aber als letzter jüdischer Richter seinen Abschied zu nehmen, entscheidet er sich für die jüdische Gemeinschaft.
Dies ist nicht mißzuverstehen als Bekenntnis zur jüdischen Religion, deren Gesetze er gleich vielen Akademikern weitgehend ignoriert, sondern als Identifikation mit einer diskriminierten Minderheit. Zeigt Teitel soziales Engagement zunächst regional und überkonfessionell, so wird er um die Jahrhundertwende zunehmend von der Arbeit der ersten weltlichen jüdischen Organisationen in Petersburg absorbiert, die sich der Verbreitung moderner Bildung, handwerklicher und landwirtschaftlicher Kenntnisse widmen. Im Jahr 1912 bricht Teitel im Auftrag der Jewish Territorial Organization nach Lissabon auf, um mit prominenten portugiesischen Juden die Übersiedlung russischer Juden nach Angola abzuwägen. Vorbehalte der portugiesischen Regierung und schließlich der Erste Weltkrieg vereiteln eine weitere Konkretisierung der Pläne, doch ungeachtet dessen sind sie Beleg für den regen Austausch zwischen Juden aus Ost und West in einer Zeit, die oft irrtümlich als Phase der Isolation gilt.
Zurück ins Schtetl führen Pauline Wengeroffs (1833 bis 1916) zweibändige, episch erzählte "Memoiren einer Großmutter", erstmals 1908 und 1910 in deutscher Sprache erschienen und in kurzer Folge mehrfach aufgelegt. Bereits der Untertitel "Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Rußlands im 19. Jahrhundert" verrät einen Blick, der weit über eine Chronik des eigenen Lebens hinausgeht. Von bleibender Prägung für die Autorin ist der talmudische Geist ihres Elternhauses im litauischen Brest, der sie als Maßstab auf sämtlichen späteren Lebensstationen begleitet. Derer gibt es nach ihrer Heirat mit einem Geschäftsmann viele: unter anderem Konotop in der Ukraine, Kowno und Wilna in Litauen und schließlich St. Petersburg. Pauline Wengeroff erfährt, oft an vermeintlich banalen Details, wie jüdische Tradition von Ort zu Ort variiert. Was unter den Brester Jüdinnen Sitte ist, erregt in der Ukraine Aufsehen: "Die Frauen in Konotop trugen auch noch keine Unterröcke, sondern das Kleid direkt über dem Hemd. Unterröcke zu tragen wurde schon als ,christlich' betrachtet. Von der Mode wußte man hier nicht viel. Meine Sachen wurden bewundert; ich selbst, sooft ich durch die Straßen ging, angestaunt; und nach kurzer Zeit galt ich in Modesachen für tonangebend." Doch die Autorin steht nur vorübergehend auf der Seite des Fortschritts. In den späten 1850er Jahren findet sie sich unter den verweltlichten Juden Kownos als Hüterin der Tradition wieder, die mühsam erduldet, wenn jüdische Familienväter ihre Zigaretten am Sabbatlicht anzünden. Die Entfremdung von ihrem eigenen Ehemann setzt ein, als dieser alte jüdische Bräuche wie Ballast abwirft und gleiches von seiner Frau verlangt. In der Hauptstadt des Zarenreiches ist 1871 der Höhepunkt erreicht: "Hier in Petersburg war es, wo ich nach heftigstem Widerstand die koschere Küche abschaffte und allmählich eine schöne, alte Sitte nach der anderen aus meinem Haus vertrieb."
Die Memoiren Pauline Wengeroffs sind das Aufbegehren einer Großmutter, die über drei Generationen enorme Umwälzungen im jüdischen Wertesystem beobachtet hat und ihm im Moment der unaufhaltsamen Zersplitterung ein Denkmal setzt. Gerade weil Tradition hier als ein wandelbarer Faktor in Erscheinung tritt, bilden ihre Betrachtungen eine bedeutende Quellengrundlage für eine Revision des osteuropäischen Schtetls in seiner historischen Vielfalt und Dynamik.
Yvonne Kleinmann ist Historikerin und Slawistin. Sie forscht über die jüdische Bevölkerung von Petersburg und Moskau im neunzehnten Jahrhundert.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sprengsatz der Mobilität: Die zerstörte Welt des Schtetl war kein homogener Kosmos, wie der Blick auf Autobiographien russischer Juden zeigt / Von Yvonne Kleinmann
Das Universum des Schtetls ist ein ungebrochenes Kontinuum. Vom frühen Altertum bis heute gibt es keinen wirklichen Bruch in der Tradition." Oder: "Die osteuropäischen Juden hatten eine lebendige Kultur, die im wesentlichen aus einem Stück war, ob sie nun in Polen, Ungarn oder Rußland ihre Steuern zahlten." Diese und ähnlich verallgemeinernde Thesen finden sich in Mark Zborowskis und Elizabeth Herzogs Studie "Das Schtetl" aus dem Jahr 1952, die in populären wie wissenschaftlichen Arbeiten als Standardwerk zitiert wird. Eine Gruppe nordamerikanischer Anthropologen und Soziologen hatte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg jüdische Emigranten in erster und zweiter Generation nach ihrem Leben in Osteuropa befragt; erweitert wurde die mündliche Quellenbasis durch das Studium von historiographischen Untersuchungen, Belletristik und Bilddokumenten.
Zborowski und Herzog konstruierten daraus ein Schtetl-Bild, wie es harmonischer und statischer kaum sein könnte: Religiöse Autoritäten, Bräuche und Bildungsinstitutionen stehen ebenso unverrückbar wie soziale Hierarchien. Nichtjüdische Einwirkung von außen und Reformstreben von innen erscheinen lediglich als Prüfung und Stärkung der Wertegemeinschaft. Auf soziale Konflikte deutet lediglich das Leitmotiv der Armut, doch selbst dieses entgeht dem ebenso folkloristischen wie verharmlosenden Grundton nicht.
Ein solches Bild, losgelöst von konkreten Orten, Wirtschaftssystemen und Regierungen, mochte nach der beispiellosen jüdischen Migrationswelle aus dem Zarenreich und dem Trauma der Shoah der Konsolidierung einer neuen jüdischen Gemeinschaft dienen - zu einer differenzierten Untersuchung des Schtetl-Phänomens in Osteuropa wird es kaum beitragen. Der Quellenwert autobiographischer Zeugnisse ist damit nicht grundsätzlich in Frage gestellt, nur sollten Geschichtszeit und -raum genau definiert sein. Selbst heute sind noch zahlreiche Memoirentexte neu zu entdecken, die das Leben in einzelnen Schtetln seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dokumentieren, wenn auch in seltenen alten Zeitschriften und in vielen Sprachen.
Ein Beispiel: Kopyl, Gouvernement Minsk, Weißrußland, um 1850: "In Kopyl war es keine Seltenheit, daß ein Mann seine Frau allein zurückließ, im Gegenteil: Es entsprach der Ordnung der Dinge. Manche fuhren weg, um sich in der Wissenschaft zu vervollkommnen, andere, um sich ein Auskommen zu suchen. So erschien Kopyl zehn Monate lang wie eine Stadt der Amazonen, genauer der jungen Händlerinnen, die ohne männliche Hilfe einen verzweifelten Kampf um die Existenz führten. Indes belebte sich Kopyl in der Zeit der Feiertage, zu Pessach und zum Laubhüttenfest . Die jungen Männer brachten zum einen Geld mit, den Verdienst eines halben Jahres, was von ökonomischer Bedeutung für die arme Stadt war, zum andern verkündeten sie interessante Neuigkeiten und berichteten vom Leben in fernen Gegenden; manchmal brachten sie auch neue Bücher mit - und Ideen."
Bei Abram Paperna (1840 bis 1919), dem Verfasser dieser Zeilen, findet sich keine Spur von Schtetl-Nostalgie. Die Protagonisten seiner Kindheit sind Teil einer geistig wie geographisch mobilen jüdischen Gesellschaft. Wo Familienleben keine Selbstverständlichkeit ist und Väter von Reisen verändert zurückkehren, fällt es schwer, Hierarchien und religiöse Werte aufrechtzuerhalten. Wer fände die Zeit zu kontrollieren, welche Lektüre die Jungen im Bethaus studieren, welches Buch der Vater aus Danzig mitgebracht hat? Dennoch vollzieht sich die Hinwendung zu Werken der jüdischen Aufklärung und weltlichen Literatur Westeuropas im verborgenen, da eine unbedachte Provokation der Gemeindeautoritäten bis in die 1850er Jahre schwere Folgen hat. Diese beschreibt Arkadij Kovner (1842 bis 1909), ein Zeitgenosse Papernas aus dem Gouvernement Wilna: "Wenn sich jemand etwas europäisch kleidete, sich Schläfenlocken und Bart geringfügig stutzte, gestärkte Wäsche und geputzte Stiefel trug, nicht ganz so inbrünstig wie die anderen betete, deutsche Bücher las, gelegentlich Theater oder Konzert besuchte, dann galt er bei den orthodoxen Juden als Glaubensabtrünniger, als Epikureer. Das Leben eines solchen konnte bisweilen unerträglich werden. Fromme Juden gingen ihm aus dem Weg, mieden jegliche Beziehung und räumten ihm mitunter alle erdenklichen Hindernisse in den Weg: sie verwehrten ihm den Zugang zum Bethaus, beerdigten ihn ohne die angemessenen Ehren, schickten ihn außer der Reihe zum Militärdienst." Allein die Drohung solcher Sanktionen, insbesondere des Soldatenschicksals, welches unter Nikolaj I. kaum zu durchstehende fünfundzwanzig Jahre währt, läßt die jungen Reformhungrigen verstummen und garantiert den Gemeinden einen oberflächlichen Frieden.
Im autokratischen Russischen Reich sind auch dem jüdischen Sozialgefüge demokratische Strukturen fremd. Welthungrige Heranwachsende leiden zunächst unter jüdischen Hierarchien und erst Jahrzehnte später unter der russischen Herrschaft. So wächst die Anhängerschaft der jüdischen Aufklärung beinahe lautlos, verbunden durch ein Netzwerk heimlich kursierender Literatur. Erstmals werden auf den Seiten der neuen hebräischen Zeitschriften weltliche Themen behandelt; Frauen begeistern sich für frühe Autoren des Jiddischen, welches noch nicht als vollwertige Literatursprache, sondern als Jargon des profanen Alltags gilt. Unbeeindruckt vom Aufruhr in der Ideenwelt, fügt sich der Lebenskreis harten ökonomischen Notwendigkeiten. Auch dem brennenden Anhänger Moses Mendelssohns sucht die Familie spätestens im achtzehnten Lebensjahr eine Braut aus, die zu ihren Vorfahren nicht unbedingt Talmudgelehrte rechnet, dafür aber die materielle Basis der künftigen Familie sichert. Die Eheanbahnung ist unter den Wohlhabenden ein professionell betriebenes Geschäft, welches durch einen Vertrag besiegelt wird. Die romantische Liebesheirat käme einem Bankrott gleich. Von Pragmatismus durchdrungen sind selbst die Ehrenämter der Gemeinde. So verdingt sich der geachtete Kantor auch als Schächter und Notar, da sein spärliches Gehalt allein den Lebensunterhalt nicht decken könnte. Ein geschlossenes Berufsbild kennt das Schtetl nicht, sondern lebt nach dem Prinzip der Multifunktionalität.
Kindheit und Jugend von Abram Paperna wie Arkadij Kovner sind fest eingebettet im jüdischen Milieu. Zwar zählen zu den zirka 3000 Einwohnern Kopyls neben Juden auch Weißrussen und Tataren, und Wilna ist seit langem auch Zentrum polnischer Kultur, doch besteht außerhalb pragmatischer Geschäftskontakte keine Überschneidung der in Religion, Kultur und Broterwerb sehr unterschiedlichen Lebenskreise. Die Beziehungen bleiben friedlich, nicht etwa aus einem multikulturellen Ideal heraus, sondern weil man nicht in wirtschaftlicher Konkurrenz steht.
Solange ein junger Jude den Weg des traditionellen Religionsstudiums geht, erfährt er die umfassende, wenn auch kärgliche Unterstützung des jüdischen Bildungs- und Wohltätigkeitssystems. Über seinen Vater berichtet Kovner, was er selbst noch zwanzig Jahre später erlebt: "Wie alle anderen armen Burschen in den kleinen jüdischen Schtetl der nordwestlichen Gouvernements schlug er sich bis zu seiner ersten Hochzeit durch, indem er in Bethäusern lebte und sich bei verschiedenen Wohltätern ernährte, welche die jungen Leute nach alter Sitte an je einem festgesetzten Tag der Woche durchfütterten."
Ein Elfjähriger, der sich auf eine solche mehrjährige Wanderschaft begibt, zählt nicht mehr zu den Kindern und entfernt sich in einer Zeit ohne Eisenbahnen schnell aus der elterlichen Obhut, soweit diese überhaupt existiert. Dagegen nimmt die Prägung durch das direkte, beständig wechselnde Lebensumfeld zu; eine zentrale Rolle spielen die "sieben Gastgeber", welche stets zu den Reichsten des Schtetls gehören. Woher rührt ihr Reichtum? Zumeist aus größeren Handelsgeschäften, die ein hohes Maß an Mobilität und Sprachkenntnissen, aber auch Abstriche bei den Religionsgesetzen erfordern. Ausgerechnet in solche Häuser kommen die jungen Talmudstudenten, die doch zu Hütern der Tradition herangezogen werden sollen, und erhaschen die Ahnung eines alternativen Lebenswegs. Christliche Nachbarn und russische Institutionen, bisher lediglich als Streiflichter an der Peripherie wahrgenommen, gewinnen schärfere Konturen, wenn es um den Eintritt in ein staatliches Gymnasium geht. Mangelnde Russischkenntnisse müssen Paperna wie Kovner in kurzer Zeit kompensieren und können hierbei keineswegs auf das Wohltätigkeitssystem ihrer Gemeinden zählen, die allem weltlichen Lernen erbitterten Widerstand entgegensetzen. So wird Paperna auf der Reise zum Wilnaer Rabbinerseminar, einem frühen Zentrum der Russifizierung, von Traditionswächtern seiner Gemeinde abgefangen. Einem ähnlichen Mißgeschick beugt Kovner vor, indem er sich wie ein Dieb aus seinem Schtetl zum Studium nach Kiew stiehlt. Seine junge Frau und ein Säugling bleiben ungefragt zurück.
Doch überdauern die Strukturen des jüdischen Sozialgefüges weder eingefroren das gesamte neunzehnte Jahrhundert, noch sind sie überall gleich. Der Begriff "Schtetl" suggeriert für ganz Mittel- und Osteuropa eine Gleichförmigkeit jüdischer Kultur jenseits von Raum und Zeit, die der Prüfung aus der Nähe nicht standhält. Davon zeugen die Erinnerungen Genrich Sliozbergs (1863 bis 1937), der zum einen zwanzig Jahre nach Paperna und Kovner auf die Welt kommt und darüber hinaus in einer anderen Grenzregion des Zarenreiches aufwächst: im südrussischen Poltava.
Dieses Gouvernement wie auch das benachbarte Neurußland sind für jüdische Ansiedlung erst durch eine Verfügung Alexanders I. von 1804 freigegeben. Die Tradition der jüdischen Selbstverwaltung, welche die Juden Weißrußlands und Litauens aus der Zeit polnischer Herrschaft mitbringen, bleibt hier unbekannt, da für jüdische Untertanen seit Beginn der Ansiedlung, vom Kultus abgesehen, die allgemeinen Landesgesetze gelten. Den Umgang mit der christlichen Bevölkerung empfindet der junge Sliozberg in den 1870er Jahren als Selbstverständlichkeit: "Die heimischen Juden sprachen ausgezeichnet Kleinrussisch; die christliche Bevölkerung hatte sich an die Juden gewöhnt, sich in solchem Maße auf sie eingestellt, daß sie sich mit dem gänzlichen Unterlassen des Handels an Samstagen abgefunden hatte, da mit wenigen Ausnahmen alle Handelseinrichtungen jüdisch waren. Gern ging man als Hausdiener zu Juden (jüdische Dienstboten gab es in Poltava gar nicht). Jene Familien, die sich Personal leisten konnten, verließen sich sogar in Küchenangelegenheiten auf christliche Dienstboten. Die Köchinnen wußten, daß das Fleisch zu salzen und das Milchgeschirr vom Fleischgeschirr zu trennen ist, und bemühten sich, ihre Hausherren nicht zur Sünde zu verleiten."
Im Gegensatz zu den armen weißrussischen und litauischen Städten und Dörfern sind die wachsenden Industrie- und Handelszentren des Gouvernements Poltava sowie Neurußlands eine Zuwanderungsregion. Von den knapp 30000 Einwohnern Poltavas sind lediglich 16 Prozent Juden, so daß konzentrierte jüdische Nachbarschaften als Ausnahme gelten. Selbst der jiddische Wortschatz enthält hier einen wesentlich höheren russischen Anteil als im Nordwesten. Obwohl die Jüdische Gemeinde verhältnismäßig klein ist, kann sie sich eine imposante Choralsynagoge mit über tausend Plätzen leisten. Wer bezahlt und füllt diesen Raum? Poltava floriert bis in die 1870er Jahre hinein dank seiner großen sommerlichen Messe, die unter anderem zahlreiche wolhynische und polnische Juden anzieht. Dieser saisonale Aufschwung ermöglicht der ständigen Bevölkerung auch über den Rest des Jahres ein Leben in relativem Wohlstand. Tagelöhner und Bettler, die in Litauen und Weißrußland zum Straßenbild gehören, gibt es unter den Juden Poltavas kaum, da die meisten zumindest den Status von Handwerkern, Händlern oder Schankwirten erreichen. Die Nähe zur christlichen Bevölkerung und die Begegnung mit dem Messepublikum hinterlassen Spuren: Der traditionelle Kaftan und der chassidische Hut weichen allgemeiner städtischer Kleidung; Schläfenlocken und Bärte fallen. Dem schreibt Sliozberg eine tiefere Bedeutung zu: "Im allgemeinen hielten sie die Religionsgesetze streng ein und standen an Frömmigkeit äußerlich auf keinen Fall den litauischen Juden nach. Diese äußerliche Frömmigkeit hatte jedoch keinen inneren Gehalt. Die Frömmigkeit war kalt, unbeseelt; der Sinn der Zeremonien und religiösen Vorschriften, welche einen jeden Schritt eines Juden regulieren, blieb dunkel, und deshalb war auch die Form ihrer Ausführung oft entstellt."
Dieses harte Urteil rührt hauptsächlich aus dem Vergleich, denn Sliozbergs Familie zählt zu jener Schar Talmudgelehrter aus dem litauischen und weißrussischen Raum, die von der Armut in den Süden getrieben wurde. Dort gleichen sie den akuten Mangel an Religionslehrern so lange aus, bis auch sie sich in Kaufleute oder Akademiker verwandelt haben. Genrich Sliozberg tritt in ein russisches Gymnasium ein und absolviert später die Juristische Fakultät der Petersburger Universität.
Seine Memoiren schreibt er, gleich Paperna und Kovner, auf russisch. Alle drei hätten die sprachlichen Fähigkeiten, ihre Lebensgeschichte auch hebräisch oder jiddisch zu erzählen. Warum tun sie es nicht? Sie schreiben aus der Distanz jener, die das Schtetl verlassen haben: Paperna besucht zwei russischsprachige Rabbinerseminare, Kovner arbeitet als Bankangestellter und Publizist in St. Petersburg, wo er zur russischen Orthodoxie konvertiert, und am selben Ort agiert Sliozberg bis zur Oktoberrevolution als angesehener Jurist. Da keiner der Memoirenschreiber das Schtetl grundsätzlich verdammt, wirkt die Wahl der russischen Sprache für die Beschreibung eines überwiegend jüdischen Umfelds wie ein Versuch, dem russischen Publikum eine fremde Welt nahezubringen.
Die drei Autobiographien sind mittlerweile in Rußland neu herausgegeben worden; das deutsche Publikum jedoch steht vor einer Sprachbarriere. Bereits überwunden haben diese immerhin jene russischsprachigen Memoirentexte, die zur Zeit der Niederschrift mit ihren Autoren den Weg in die Sprachen des Exils fanden. Hierzu zählen die Erinnerungen Jacob Teitels (1850 bis 1939), deren deutsche Version schon 1929 in Berlin erschienen ist und seit einiger Zeit in einer sorgfältigen neuen Edition vorliegt. Unter allen erwähnten Autoren ist Teitel sicher jener, der sich schon lange vor dem deutschen Exil am weitesten vom Schtetl-Alltag entfernt, indem er als einer der wenigen jüdischen Juristen im Staatsdienst quasi in eine russische Haut schlüpft. So verkörpert er, der Angehörige einer religiösen Minderheit, für andere religiöse und ethnische Minderheiten im zentralrussischen Samara fast dreißig Jahre lang als Untersuchungsrichter die Zarenmacht - ein einmaliger und konfliktreicher Rollentausch.
In Auseinandersetzungen gerät Teitel nicht etwa mit der bäuerlichen Bevölkerung, sondern mit altgedienten lokalen Beamten und Adligen, denen er als Verfechter der Justizreform von 1864 äußerst unwillkommen ist. Sein Bemühen um eine intensive Befragung der Angeklagten und eine genaue Beweisführung ist sachlich nicht angreifbar, um so mehr seine Position als Jude in einem hohen Amt. In den restaurativen 1890er Jahren mehrfach vor die Wahl gestellt, durch Konversion zum Christentum weiter im Amt aufzusteigen oder aber als letzter jüdischer Richter seinen Abschied zu nehmen, entscheidet er sich für die jüdische Gemeinschaft.
Dies ist nicht mißzuverstehen als Bekenntnis zur jüdischen Religion, deren Gesetze er gleich vielen Akademikern weitgehend ignoriert, sondern als Identifikation mit einer diskriminierten Minderheit. Zeigt Teitel soziales Engagement zunächst regional und überkonfessionell, so wird er um die Jahrhundertwende zunehmend von der Arbeit der ersten weltlichen jüdischen Organisationen in Petersburg absorbiert, die sich der Verbreitung moderner Bildung, handwerklicher und landwirtschaftlicher Kenntnisse widmen. Im Jahr 1912 bricht Teitel im Auftrag der Jewish Territorial Organization nach Lissabon auf, um mit prominenten portugiesischen Juden die Übersiedlung russischer Juden nach Angola abzuwägen. Vorbehalte der portugiesischen Regierung und schließlich der Erste Weltkrieg vereiteln eine weitere Konkretisierung der Pläne, doch ungeachtet dessen sind sie Beleg für den regen Austausch zwischen Juden aus Ost und West in einer Zeit, die oft irrtümlich als Phase der Isolation gilt.
Zurück ins Schtetl führen Pauline Wengeroffs (1833 bis 1916) zweibändige, episch erzählte "Memoiren einer Großmutter", erstmals 1908 und 1910 in deutscher Sprache erschienen und in kurzer Folge mehrfach aufgelegt. Bereits der Untertitel "Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Rußlands im 19. Jahrhundert" verrät einen Blick, der weit über eine Chronik des eigenen Lebens hinausgeht. Von bleibender Prägung für die Autorin ist der talmudische Geist ihres Elternhauses im litauischen Brest, der sie als Maßstab auf sämtlichen späteren Lebensstationen begleitet. Derer gibt es nach ihrer Heirat mit einem Geschäftsmann viele: unter anderem Konotop in der Ukraine, Kowno und Wilna in Litauen und schließlich St. Petersburg. Pauline Wengeroff erfährt, oft an vermeintlich banalen Details, wie jüdische Tradition von Ort zu Ort variiert. Was unter den Brester Jüdinnen Sitte ist, erregt in der Ukraine Aufsehen: "Die Frauen in Konotop trugen auch noch keine Unterröcke, sondern das Kleid direkt über dem Hemd. Unterröcke zu tragen wurde schon als ,christlich' betrachtet. Von der Mode wußte man hier nicht viel. Meine Sachen wurden bewundert; ich selbst, sooft ich durch die Straßen ging, angestaunt; und nach kurzer Zeit galt ich in Modesachen für tonangebend." Doch die Autorin steht nur vorübergehend auf der Seite des Fortschritts. In den späten 1850er Jahren findet sie sich unter den verweltlichten Juden Kownos als Hüterin der Tradition wieder, die mühsam erduldet, wenn jüdische Familienväter ihre Zigaretten am Sabbatlicht anzünden. Die Entfremdung von ihrem eigenen Ehemann setzt ein, als dieser alte jüdische Bräuche wie Ballast abwirft und gleiches von seiner Frau verlangt. In der Hauptstadt des Zarenreiches ist 1871 der Höhepunkt erreicht: "Hier in Petersburg war es, wo ich nach heftigstem Widerstand die koschere Küche abschaffte und allmählich eine schöne, alte Sitte nach der anderen aus meinem Haus vertrieb."
Die Memoiren Pauline Wengeroffs sind das Aufbegehren einer Großmutter, die über drei Generationen enorme Umwälzungen im jüdischen Wertesystem beobachtet hat und ihm im Moment der unaufhaltsamen Zersplitterung ein Denkmal setzt. Gerade weil Tradition hier als ein wandelbarer Faktor in Erscheinung tritt, bilden ihre Betrachtungen eine bedeutende Quellengrundlage für eine Revision des osteuropäischen Schtetls in seiner historischen Vielfalt und Dynamik.
Yvonne Kleinmann ist Historikerin und Slawistin. Sie forscht über die jüdische Bevölkerung von Petersburg und Moskau im neunzehnten Jahrhundert.
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