Warschau nach dem deutschen Angriff 1939. Jakub Shapiro, früher Unterweltkönig der Stadt, kämpft als Soldat einen aussichtslosen Kampf. Sein Gangsterreich zerfällt, das luxuriöse Leben ist zu Ende. Während Shapiro seine Familie zu schützen versucht, macht er einen unverzeihlichen Fehler. Frau und Söhne verlassen ihn. Jakubs Geliebte Ryfka rettet ihn aus dem Ghetto in eine konspirative Wohnung. So ist es bald der halbwüchsige Sohn David, der das Überleben von Mutter und Bruder sichert, durch Schmuggel und Schwarzhandel; unter schon alltäglicher Todesgefahr erlebt er in bizarren Abenteuern einen Rausch von Jugend und Freiheit. Doch die Gräuel, Hunger und Verrat beherrschen die Stadt, umso mehr nach dem Ghettoaufstand. Und der Preis für ein Überleben ist so hoch, dass niemand die Schuld je tragen können wird. Als das Ghetto zerstört liegt, kämpft Ryfka bis aufs Blut für ihre und Jakubs Zukunft. Und David will Rache nehmen, an den Deutschen, an allen.
Szczepan Twardoch schildert kompromisslos einen gewaltigen Stoff: die deutsche Besatzung, die Warschauer Aufstände, das Ghetto. Er erzählt von Juden, Polen, Deutschen, von Opfern und Henkern, erzählt mit glänzender, eisiger Spannung von einer dunklen Zeit - und der schwersten aller Prüfungen, Mensch zu bleiben.
Szczepan Twardoch schildert kompromisslos einen gewaltigen Stoff: die deutsche Besatzung, die Warschauer Aufstände, das Ghetto. Er erzählt von Juden, Polen, Deutschen, von Opfern und Henkern, erzählt mit glänzender, eisiger Spannung von einer dunklen Zeit - und der schwersten aller Prüfungen, Mensch zu bleiben.
Die sehr bewegende Geschichte vom fast aussichtslosen Überlebenskampf der polnischen Juden ... und eine berührende Geschichte starker Frauen, zersetzter Familien und Lieben. Ein großer Wurf. René Zipperlen Badische Zeitung 20200916
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Frank Meyer ist fasziniert von Szczepan Twardochs Roman. Anknüpfend an den Vorgängerroman "Der Boxer" erzählt er hier aus der Perspektive der Geliebten und des Sohns des dortigen Protagonisten vom Überleben der Juden in Warschau, von polnischem Antisemitismus und von jüdisch-deutschen Kollaborationen. Dabei wähle der Autor eine Art metaphysische Perspektive, weil die Erzählstimmen in der Geschichte zwar alles erfahren, aber nicht handeln können, staunt Meyer, und lobt auch Twardochs komplexe Figuren. Einige Gewalt- und Sexszenen hält der Rezensent für etwas zu drastisch - trotzdem fesselt ihn Twardochs "riskanter" Roman mit seinem spektakulären Tonfall und "grellen Effekten".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Tarantino der polnischen Geschichtsschreibung
Szczepan Twardochs titelgemäß tiefdüsteres Epos "Das schwarze Königreich" malt im Weltkriegs-Warschau kaleidoskopisch die Hölle auf Erden aus.
Warschau zwischen dem deutschen Überfall, der Kapitulation und dem Kriegsende. Eine schwarze Epoche, in der auch der Vorkriegskönig Jakub Shapiro aus der polnischen Halbwelt ein König ohne Untertan ist. Dunkelste Schwärze herrscht auf Warschaus Straßen. Und so ist auch der, der jahrelang von Schutzgelderpressung, Auftragsmord und Straßenkriminalität lebte, am Ende.
Shapiro war bereits der Held des ersten Teils einer großen Erzählung von Szczepan Twardoch aus dem Warschau der Zwischenkriegszeit. Er war der titelgebende "Boxer" aus dem Judenviertel und später Teil der sozialistischen Mafia. Ein attraktiver Siegertyp und auch ein Krisengewinnler, der sich im allgemeinen Chaos der Inflationsjahre klug zu positionieren wusste. Ein Jude von ganz unten also, der es ohne politische Ansichten zu Geld, Ruhm, Ansehen und einer schönen Familie in einer schönen Stadtvilla gebracht hatte - und der doch ein von Komplexen geplagter Gewaltverbrecher geblieben war.
Die Zeiten seines Ruhmes aber sind im Jahr 1939 vorbei. Jakub Shapiro befand sich ein Jahr zuvor schon mit Frau und Kindern im Flugzeug nach Palästina. Dann hatte er plötzlich, von unklaren Stolzgefühlen überwältigt, den Piloten zur Umkehr gezwungen. Nun sitzen die Shapiros zusammen mit allen anderen polnischen Juden in der Falle. Zunächst im Warschauer Getto, wo Jakub einen Job bei der sogenannten Judenpolizei annimmt und somit zum Handlanger der Nazis wird. Später dann in verschiedenen Verstecken. Zuletzt in einer Kriegsruine an der Seite seiner lebenslangen Geliebten, der jüdischen Prostituierten Ryfka. Aus ihrer Perspektive ist ein Teil des Buchs geschrieben. Der andere folgt den Erinnerungen von Jakubs Sohn David.
Die Geschichte ist zynisch. Sie lässt den König von Warschau aus einer Hölle, deren Heizer er gewesen war, in eine Hölle ohne offene Führungsposition wechseln. Durch die allwissenden Augen der zum Überleben verdammten Ryfka und David wird vor dem Leser noch einmal die Geschichte des Warschauer Gettos erzählt, bis hin zu dessen Auflösung, von den Nazis als "Großaktion" mit Endziel Deportation bezeichnet. Und obwohl das alles süffig erzählt ist, stellen sich nicht die üblichen Skrupel gegenüber einem allzu lustvollen Umgang mit der deutschen Gewaltgeschichte ein. Denn Twardoch ist kein skrupellos lüsterner Schreiber. Sein Geschichtsbild ist, anders als seine Erzählsprache, nicht kinematographisch, sondern kaleidoskopisch. Wie in einem Prisma bricht sich das Licht des Jahrhunderts am einzelnen Fall und entfaltet eine Fliehkraft, die den Leser mitzieht in jeden erdenklichen Abgrund.
Dieses Verfahren gelang Twardoch besonders gut in seinem Roman "Drach" - einem Buch über die wechselvolle Geschichte der Schlesier, deren Nachfahre auch Twardoch ist. Einerseits gab es da die Perspektive des einzelnen Menschen in seinen Umständen, andererseits den kosmischen Blick einer allwissenden Erzählerin. Mit Gleichmut blickte sie auf die Brutalitäten des Jahrhunderts. Es war die Erde selbst, die in "Drach" erzählte und die sich erzählend das zurücknahm, was aus ihr gekommen war: menschliche Biomasse.
Twardoch-Skeptiker rügten ein gewisses Pathos, mit dem der zeitlos-kosmische Fatalismus der gleichgültigen Erde zelebriert wurde. Wie auch immer man dazu stehen mag: Das, was alle Bücher Twardochs so brillant inszenieren, ist der ewige Widerspruch zwischen dem ideologischen Überbau und dem verstrickten Einzelschicksal. Auch "Das schwarze Königreich" hat nicht den polnischen Antisemitismus zum Thema, sondern den Kampf zwischen dem, was sein soll, und dem, was der Einzelne daraus macht.
Twardoch ist mit dieser erzählerischen Gleitsichtbrille eine Art Tarantino der polnischen Geschichtsschreibung. In seinen Pageturnern gelingt es ihm, die gewaltsamen Umbrüche des zwanzigsten Jahrhunderts literarisch zu vergegenwärtigen. Dafür dürfen die Zutaten Blut, Sperma und Schweiß natürlich nicht fehlen.
Jakub, das wissen Leser von "Der Boxer", war ein Mann der Frauen. Er hatte davon viele. Darunter eine kluge, schöne Frau aus der besseren Gesellschaft, mit der er die Zwillingssöhne Daniel und David hat. Von Letzterem erfahren wir von den Vorkriegsjahren im Leben der Shapiros, von Jakubs Kampf in der polnischen Armee gegen die deutschen Besatzer, von seiner Enteignung als Villenbesitzer, von seinem Umzug ins Getto, von seinem Einsatz bei der jüdischen Polizei, davon, dass dieser Entschluss das Ende seiner Ehe besiegelt. Und von seiner Flucht aus dem Getto zusammen mit Ryfka. Die beiden finden Zuflucht bei einer polnischen Geliebten Jakubs, die Juden versteckt, allerdings auch mit den Deutschen paktiert. In ihrer Wohnung hausen die Flüchtlinge wie Käfigtiere. Die Ménage-à-trois wird schnell zu einer Übung in Unterwerfung. Auch hier wird irgendwann mit der Waffe entschieden. Denn verstrickt sind alle auf unauflösliche Weise. Der Tod macht sie einander wieder gleich.
Ryfka und Jakub, auch davon handelt die Geschichte, sind für einander bestimmt. Sie können ihre Herkunft vom unteren Rand der Gesellschaft nicht abstreifen. Das Stigma ihres Judentums, das einen echten Aufstieg in die polnische Gesellschaft verhindert, wird sie zusammenschweißen. Auch Jakub muss das einsehen. Nachdem seine Frau ihn vor die Tür gesetzt hat, nachdem er mit ihr auch seine Zwillingssöhne verloren hat, bleibt Jakub nur die Schwarzeseelenverwandte seiner Jugend.
Ryfka, so beginnt der Roman, füttert den halbtoten Jakub mit Essensrationen, die sie auf ihren nächtlichen Streifzügen durch das besetzte Warschau wie ein Wildtier erbeutet hat. Dabei begegnet sie einem Deserteur aus Schlesien. Auch hier menschelt es. Und auch seine unheilvolle Geschichte will erzählt sein: wie er in ein polnisches Exekutionskommando abkommandiert wird und in der Bukowina auf jüdische Frauen und deren Kinder schießen soll, was er nicht will und nicht erträgt, aber doch tut. Dort trifft er auf den Ukrainer Miron, der abbestellt ist, den jüdischen Leichen die Goldzähne herauszureißen. Er hat sich freiwillig gemeldet, weil in seiner Welt alles besser ist als die Kommunisten. Twardoch erzählt in "Das schwarze Königreich" auch diese Geschichte: wie Mirons Familie Opfer des Holodomor wird - der großen Hungersnot, die von Stalin strategisch zur Unterwerfung des ukrainischen Unabhängigkeitswillens genutzt wurde. Die Kollektivierer, worunter sich in Mirons Erinnerung auch etliche Juden befanden, haben die gesamte großbäuerliche Familie ausgelöscht. Mit aufgedunsenen Bäuchen sterben Mirons Frau und seine Töchter. Nun ist er bereit, taub an der Seele, seine grausame Pflicht zu erfüllen. Auch hier kennt der Roman keine Gnade. Der Krieg fordert seine Opfer mit kalter Gleichgültigkeit.
Szczepan Twardoch ist ein Autor der sogenannten dritten Generation, der man eine Ästhetisierung des nationalsozialistischen Horrors wieder zugesteht. Die Debatte um Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" hat vor knapp fünfzehn Jahren gezeigt, dass man sich einer literarischen Auseinandersetzung mit dem Judenmord nicht aus der Erinnerung, sondern aus der Überlieferung heraus stellen muss. Twardoch gelingt es als Vertreter dieser Generation, das große Geschichtsactionrad so geschickt zu drehen, dass die Opfer dabei nicht zum Spielmaterial einer zügellosen Phantasie werden.
KATHARINA TEUTSCH
Szczepan Twardoch:
"Das schwarze Königreich".
Roman.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 413 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Szczepan Twardochs titelgemäß tiefdüsteres Epos "Das schwarze Königreich" malt im Weltkriegs-Warschau kaleidoskopisch die Hölle auf Erden aus.
Warschau zwischen dem deutschen Überfall, der Kapitulation und dem Kriegsende. Eine schwarze Epoche, in der auch der Vorkriegskönig Jakub Shapiro aus der polnischen Halbwelt ein König ohne Untertan ist. Dunkelste Schwärze herrscht auf Warschaus Straßen. Und so ist auch der, der jahrelang von Schutzgelderpressung, Auftragsmord und Straßenkriminalität lebte, am Ende.
Shapiro war bereits der Held des ersten Teils einer großen Erzählung von Szczepan Twardoch aus dem Warschau der Zwischenkriegszeit. Er war der titelgebende "Boxer" aus dem Judenviertel und später Teil der sozialistischen Mafia. Ein attraktiver Siegertyp und auch ein Krisengewinnler, der sich im allgemeinen Chaos der Inflationsjahre klug zu positionieren wusste. Ein Jude von ganz unten also, der es ohne politische Ansichten zu Geld, Ruhm, Ansehen und einer schönen Familie in einer schönen Stadtvilla gebracht hatte - und der doch ein von Komplexen geplagter Gewaltverbrecher geblieben war.
Die Zeiten seines Ruhmes aber sind im Jahr 1939 vorbei. Jakub Shapiro befand sich ein Jahr zuvor schon mit Frau und Kindern im Flugzeug nach Palästina. Dann hatte er plötzlich, von unklaren Stolzgefühlen überwältigt, den Piloten zur Umkehr gezwungen. Nun sitzen die Shapiros zusammen mit allen anderen polnischen Juden in der Falle. Zunächst im Warschauer Getto, wo Jakub einen Job bei der sogenannten Judenpolizei annimmt und somit zum Handlanger der Nazis wird. Später dann in verschiedenen Verstecken. Zuletzt in einer Kriegsruine an der Seite seiner lebenslangen Geliebten, der jüdischen Prostituierten Ryfka. Aus ihrer Perspektive ist ein Teil des Buchs geschrieben. Der andere folgt den Erinnerungen von Jakubs Sohn David.
Die Geschichte ist zynisch. Sie lässt den König von Warschau aus einer Hölle, deren Heizer er gewesen war, in eine Hölle ohne offene Führungsposition wechseln. Durch die allwissenden Augen der zum Überleben verdammten Ryfka und David wird vor dem Leser noch einmal die Geschichte des Warschauer Gettos erzählt, bis hin zu dessen Auflösung, von den Nazis als "Großaktion" mit Endziel Deportation bezeichnet. Und obwohl das alles süffig erzählt ist, stellen sich nicht die üblichen Skrupel gegenüber einem allzu lustvollen Umgang mit der deutschen Gewaltgeschichte ein. Denn Twardoch ist kein skrupellos lüsterner Schreiber. Sein Geschichtsbild ist, anders als seine Erzählsprache, nicht kinematographisch, sondern kaleidoskopisch. Wie in einem Prisma bricht sich das Licht des Jahrhunderts am einzelnen Fall und entfaltet eine Fliehkraft, die den Leser mitzieht in jeden erdenklichen Abgrund.
Dieses Verfahren gelang Twardoch besonders gut in seinem Roman "Drach" - einem Buch über die wechselvolle Geschichte der Schlesier, deren Nachfahre auch Twardoch ist. Einerseits gab es da die Perspektive des einzelnen Menschen in seinen Umständen, andererseits den kosmischen Blick einer allwissenden Erzählerin. Mit Gleichmut blickte sie auf die Brutalitäten des Jahrhunderts. Es war die Erde selbst, die in "Drach" erzählte und die sich erzählend das zurücknahm, was aus ihr gekommen war: menschliche Biomasse.
Twardoch-Skeptiker rügten ein gewisses Pathos, mit dem der zeitlos-kosmische Fatalismus der gleichgültigen Erde zelebriert wurde. Wie auch immer man dazu stehen mag: Das, was alle Bücher Twardochs so brillant inszenieren, ist der ewige Widerspruch zwischen dem ideologischen Überbau und dem verstrickten Einzelschicksal. Auch "Das schwarze Königreich" hat nicht den polnischen Antisemitismus zum Thema, sondern den Kampf zwischen dem, was sein soll, und dem, was der Einzelne daraus macht.
Twardoch ist mit dieser erzählerischen Gleitsichtbrille eine Art Tarantino der polnischen Geschichtsschreibung. In seinen Pageturnern gelingt es ihm, die gewaltsamen Umbrüche des zwanzigsten Jahrhunderts literarisch zu vergegenwärtigen. Dafür dürfen die Zutaten Blut, Sperma und Schweiß natürlich nicht fehlen.
Jakub, das wissen Leser von "Der Boxer", war ein Mann der Frauen. Er hatte davon viele. Darunter eine kluge, schöne Frau aus der besseren Gesellschaft, mit der er die Zwillingssöhne Daniel und David hat. Von Letzterem erfahren wir von den Vorkriegsjahren im Leben der Shapiros, von Jakubs Kampf in der polnischen Armee gegen die deutschen Besatzer, von seiner Enteignung als Villenbesitzer, von seinem Umzug ins Getto, von seinem Einsatz bei der jüdischen Polizei, davon, dass dieser Entschluss das Ende seiner Ehe besiegelt. Und von seiner Flucht aus dem Getto zusammen mit Ryfka. Die beiden finden Zuflucht bei einer polnischen Geliebten Jakubs, die Juden versteckt, allerdings auch mit den Deutschen paktiert. In ihrer Wohnung hausen die Flüchtlinge wie Käfigtiere. Die Ménage-à-trois wird schnell zu einer Übung in Unterwerfung. Auch hier wird irgendwann mit der Waffe entschieden. Denn verstrickt sind alle auf unauflösliche Weise. Der Tod macht sie einander wieder gleich.
Ryfka und Jakub, auch davon handelt die Geschichte, sind für einander bestimmt. Sie können ihre Herkunft vom unteren Rand der Gesellschaft nicht abstreifen. Das Stigma ihres Judentums, das einen echten Aufstieg in die polnische Gesellschaft verhindert, wird sie zusammenschweißen. Auch Jakub muss das einsehen. Nachdem seine Frau ihn vor die Tür gesetzt hat, nachdem er mit ihr auch seine Zwillingssöhne verloren hat, bleibt Jakub nur die Schwarzeseelenverwandte seiner Jugend.
Ryfka, so beginnt der Roman, füttert den halbtoten Jakub mit Essensrationen, die sie auf ihren nächtlichen Streifzügen durch das besetzte Warschau wie ein Wildtier erbeutet hat. Dabei begegnet sie einem Deserteur aus Schlesien. Auch hier menschelt es. Und auch seine unheilvolle Geschichte will erzählt sein: wie er in ein polnisches Exekutionskommando abkommandiert wird und in der Bukowina auf jüdische Frauen und deren Kinder schießen soll, was er nicht will und nicht erträgt, aber doch tut. Dort trifft er auf den Ukrainer Miron, der abbestellt ist, den jüdischen Leichen die Goldzähne herauszureißen. Er hat sich freiwillig gemeldet, weil in seiner Welt alles besser ist als die Kommunisten. Twardoch erzählt in "Das schwarze Königreich" auch diese Geschichte: wie Mirons Familie Opfer des Holodomor wird - der großen Hungersnot, die von Stalin strategisch zur Unterwerfung des ukrainischen Unabhängigkeitswillens genutzt wurde. Die Kollektivierer, worunter sich in Mirons Erinnerung auch etliche Juden befanden, haben die gesamte großbäuerliche Familie ausgelöscht. Mit aufgedunsenen Bäuchen sterben Mirons Frau und seine Töchter. Nun ist er bereit, taub an der Seele, seine grausame Pflicht zu erfüllen. Auch hier kennt der Roman keine Gnade. Der Krieg fordert seine Opfer mit kalter Gleichgültigkeit.
Szczepan Twardoch ist ein Autor der sogenannten dritten Generation, der man eine Ästhetisierung des nationalsozialistischen Horrors wieder zugesteht. Die Debatte um Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" hat vor knapp fünfzehn Jahren gezeigt, dass man sich einer literarischen Auseinandersetzung mit dem Judenmord nicht aus der Erinnerung, sondern aus der Überlieferung heraus stellen muss. Twardoch gelingt es als Vertreter dieser Generation, das große Geschichtsactionrad so geschickt zu drehen, dass die Opfer dabei nicht zum Spielmaterial einer zügellosen Phantasie werden.
KATHARINA TEUTSCH
Szczepan Twardoch:
"Das schwarze Königreich".
Roman.
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 413 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Twardoch ist mit dieser erzählerischen Gleitsichtbrille eine Art Tarantino der polnischen Geschichtsschreibung. In seinen Pageturnern gelingt es ihm, die gewaltsamen Umbrüche des zwanzigsten Jahrhunderts literarisch zu vergegenwärtigen. Katharina Teutsch Frankfurter Allgemeine Zeitung 20201010
Die besseren Patrioten
Szczepan Twardoch erzählt in Retro-Noir-Ästhetik, wie ein Unterweltkönig im besetzten Warschau ums Überleben kämpft
Im Vorgängerroman „Król“ (deutsch „Der Boxer“, 2018) hatte Szczepan Twardoch ein turbulentes Vorkriegs-Warschau entworfen, über das der jüdische Boxer und Bandit Jakob Shapiro gleichsam als König (polnisch „Król“) herrschte. Es war eine brutale Männerwelt mit reichlich Blut, Schweiß, Koks und Sex, und mit jeder Menge politischer Faustkämpfe, bei denen Shapiro seine Feinde, polnische Faschisten zumal, regelrecht demütigte. Als 1937 der Boden für Shapiro und seine Familie allmählich zu heiß wird, organisiert er die Ausreise nach Palästina. Schon in der Luft, erzwingt Shapiro auf einmal die Umkehr, was niemand versteht, schon gar nicht seine Familie.
Die jetzt vorliegende Fortsetzung, „Das Schwarze Königreich“, lässt das Bleibemotiv deutlicher hervortreten. Es waren nicht so sehr die vielen Geliebten, die Shapiro an Warschau ketteten. Die gefährdete Stadt, so soll man begreifen, war selbst seine Geliebte. Polen mag den Polen gehört haben, so etwa die Botschaft, aber die wahren Patrioten von Warschau waren die Juden, Leute wie Jakob Shapiro.
Szczepan Twardoch ist weder Warschauer noch Jude, er ist (polnischer) Schlesier, eine komplexe Herkunft, die ebenfalls ihre Spuren im Roman hinterlässt. Twardoch schreibt historische Romane, die gegenwärtig Erregung auslösen sollen, weil die Erinnerung an ihre Orte und Themen noch nicht erkaltet, sondern, im Gegenteil, strittiger ist denn je. Hier geht es nicht um Faktografie, Zeugenschaft und Dokumentation, wenngleich seine Romane von gründlichen Recherchen zeugen. Sondern um starke Affekte und Effekte, oder anders, um die Erzeugung einer gegenwärtigen Erregung über die Vergangenheit. Kein Thema eignet sich dafür besser als der Zweite Weltkrieg, hier insbesondere die polnisch-jüdische Dimension.
Damit die affektive Überwältigung der Leserschaft gelingt, sind populäre Wirkungsmittel erforderlich. Wie schon „Der Boxer“ soll auch dieser Roman sein Publikum umwerfen, und er tut es in der Kombination einer eingängigen, ein wenig an „Babylon Berlin“ erinnernden Retro-Noir-Ästhetik mit einer auch nicht sehr subtilen, aber provokanten Botschaft an neue polnische Nationalisten: Ihr seid vielleicht gute Nationalisten, aber die Juden waren die besseren Patrioten.
Im „Schwarzen Königreich“ wird erzählt, was aus dem Boxer und den Seinen wurde, in den Warschauer Schreckensjahren zwischen 1939 und 1944. Anfangs meldet sich Shapiro frohgemut zur polnischen Armee, um das geliebte Warschau zu verteidigen. Nach der schnellen Niederlage stürzt auch sein Königreich zusammen.
Erging sich der frühere Roman noch im Lobpreis boxender Männlichkeit, so erleben wir den geschwächten König nun in der Obhut fürsorglicher Frauen. Wenn keine Hilfe von Frauen käme, auch das eine Kernbotschaft, wäre der alternde Boxer in seiner ganzen fatalen Heldenhaftigkeit noch viel früher erledigt. Einst war er der Schrecken von Warschau, dann gewannen Alkohol und Wohlleben die Oberhand, jetzt wird dem Boxer ein Alter in Würde von ganz neuen Feinden verwehrt. Bei den Polen hatte Shapiro sich stets Respekt verschafft, gegen die Deutschen hingegen ist mit den Waffen eines Boxers nichts auszurichten.
Erzählt wird das abwechselnd von Ryfka, der lebensklugen Puffmutter und Ex-Geliebten, und von David, Shapiros halbwüchsigem Sohn, der sich als jüdischer Krieger, Codename „Ares“, durch das verwüstete Warschau schlägt. Wohl ein Dutzend Mal nennt sich Ryfka „das Nachtungeheuer“, und genauso oft schimpft David seinen Vater einen „bösen Menschen“. Mit der Kraft der Wiederholung will Twardoch das Romangeschehen ins Mythische dehnen. Nuancen sind seine Sache nicht, alles soll stark oder schwach sein, hell oder dunkel, gut oder böse. Das erinnert manchmal eher an Games und Comics und gewinnt eben aus solchen Simplifikationen seine Reichweite.
Twardochs Ehrgeiz geht über das Erzählen spannender Geschichten mit politischer Botschaft noch ein Stück hinaus. Die alternierenden Erzählpersonen, die im besetzten und zerstörten Warschau um ihr Leben kämpfen, sind ausersehen, ein viel größeres Panorama von den Gräueln des Weltkriegs zu entwerfen. Twardoch bedient sich des Kunstgriffs, sie aus einer Art Jenseits (dem „Hiermals“, wie es im Gegensatz zum „Damals“ genannt wird) erzählen zu lassen, nicht nur als überlebende, sondern auch als allwissend gewordene Berichterstatter. Damit rücken dann die Lebenserzählungen von Leuten ins Bild, die im Roman selbst nur eine Nebenrolle spielen: vom schlesischen Wehrmachtsdeserteur oder vom ukrainischen Nazi-Kollaborateur. Das Wissen um diese handlungsfernen biografischen Hintergründe legt Twardoch seinen Figuren ebenso auf die Schultern wie seine eigenen, oft klugen Gedanken über die kulturelle Situation Schlesiens oder über die Nation als eingebildete Größe. Eigentlich haben die Figuren ja aktuell mit dem Überleben alle Hände voll zu tun, aber sie sollen auch Twardochs essayistische Ambitionen mit im Blick behalten. Solche Ungereimtheiten im Erzählkonzept übertönt Twardoch mit seinem suggestiven, wilden Stil, der gelegentlich auch ins Splatterhafte entgleitet. So etwa, als der junge, aber lernfähige David einem jüdischen Mitkämpfer mal eben auf dessen Bitte das entzündete Bein abnimmt, ohne Narkose natürlich.
Das sind keine einzelnen Eskapaden: Twardochs ganze Herangehensweise an sein Thema ist fragwürdig, und man darf annehmen, er weiß es und lässt sich von Einwänden nicht beirren.
Am Ende geht der Roman dann allerdings auch für den aufgeschlossenen Twardoch-Leser über die rote Linie. Frau und Söhne des Boxers sind, letztes Zeugnis für die Schwäche des „Königs“, nach Treblinka deportiert worden. Dem einen Sohn gelingt noch die Flucht aus dem Güterwagen, die Mutter und der andere Sohn werden im Lager sterben. Twardoch gewährt Emilia, der Mutter, einen Schlussmonolog, den man nur obszön finden kann: „Alles wird gut, mein Mäuschen. Kein Grund zur Angst. Alles nicht so schlimm, mein Liebes.“ Das ist dann der Moment, in dem sich Twardochs ambivalenter Wagemut in ziemlich eindeutigen Kitsch verwandelt.
CHRISTOPH BARTMANN
Szczepan Twardoch: Das schwarze Königreich. Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020, 416 Seiten, 24 Euro.
Ihr seid vielleicht gute
Nationalisten, aber die Juden
waren die besseren Patrioten
Am Ende geht der Roman auch
für den aufgeschlossenen Leser
über die rote Linie
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Szczepan Twardoch erzählt in Retro-Noir-Ästhetik, wie ein Unterweltkönig im besetzten Warschau ums Überleben kämpft
Im Vorgängerroman „Król“ (deutsch „Der Boxer“, 2018) hatte Szczepan Twardoch ein turbulentes Vorkriegs-Warschau entworfen, über das der jüdische Boxer und Bandit Jakob Shapiro gleichsam als König (polnisch „Król“) herrschte. Es war eine brutale Männerwelt mit reichlich Blut, Schweiß, Koks und Sex, und mit jeder Menge politischer Faustkämpfe, bei denen Shapiro seine Feinde, polnische Faschisten zumal, regelrecht demütigte. Als 1937 der Boden für Shapiro und seine Familie allmählich zu heiß wird, organisiert er die Ausreise nach Palästina. Schon in der Luft, erzwingt Shapiro auf einmal die Umkehr, was niemand versteht, schon gar nicht seine Familie.
Die jetzt vorliegende Fortsetzung, „Das Schwarze Königreich“, lässt das Bleibemotiv deutlicher hervortreten. Es waren nicht so sehr die vielen Geliebten, die Shapiro an Warschau ketteten. Die gefährdete Stadt, so soll man begreifen, war selbst seine Geliebte. Polen mag den Polen gehört haben, so etwa die Botschaft, aber die wahren Patrioten von Warschau waren die Juden, Leute wie Jakob Shapiro.
Szczepan Twardoch ist weder Warschauer noch Jude, er ist (polnischer) Schlesier, eine komplexe Herkunft, die ebenfalls ihre Spuren im Roman hinterlässt. Twardoch schreibt historische Romane, die gegenwärtig Erregung auslösen sollen, weil die Erinnerung an ihre Orte und Themen noch nicht erkaltet, sondern, im Gegenteil, strittiger ist denn je. Hier geht es nicht um Faktografie, Zeugenschaft und Dokumentation, wenngleich seine Romane von gründlichen Recherchen zeugen. Sondern um starke Affekte und Effekte, oder anders, um die Erzeugung einer gegenwärtigen Erregung über die Vergangenheit. Kein Thema eignet sich dafür besser als der Zweite Weltkrieg, hier insbesondere die polnisch-jüdische Dimension.
Damit die affektive Überwältigung der Leserschaft gelingt, sind populäre Wirkungsmittel erforderlich. Wie schon „Der Boxer“ soll auch dieser Roman sein Publikum umwerfen, und er tut es in der Kombination einer eingängigen, ein wenig an „Babylon Berlin“ erinnernden Retro-Noir-Ästhetik mit einer auch nicht sehr subtilen, aber provokanten Botschaft an neue polnische Nationalisten: Ihr seid vielleicht gute Nationalisten, aber die Juden waren die besseren Patrioten.
Im „Schwarzen Königreich“ wird erzählt, was aus dem Boxer und den Seinen wurde, in den Warschauer Schreckensjahren zwischen 1939 und 1944. Anfangs meldet sich Shapiro frohgemut zur polnischen Armee, um das geliebte Warschau zu verteidigen. Nach der schnellen Niederlage stürzt auch sein Königreich zusammen.
Erging sich der frühere Roman noch im Lobpreis boxender Männlichkeit, so erleben wir den geschwächten König nun in der Obhut fürsorglicher Frauen. Wenn keine Hilfe von Frauen käme, auch das eine Kernbotschaft, wäre der alternde Boxer in seiner ganzen fatalen Heldenhaftigkeit noch viel früher erledigt. Einst war er der Schrecken von Warschau, dann gewannen Alkohol und Wohlleben die Oberhand, jetzt wird dem Boxer ein Alter in Würde von ganz neuen Feinden verwehrt. Bei den Polen hatte Shapiro sich stets Respekt verschafft, gegen die Deutschen hingegen ist mit den Waffen eines Boxers nichts auszurichten.
Erzählt wird das abwechselnd von Ryfka, der lebensklugen Puffmutter und Ex-Geliebten, und von David, Shapiros halbwüchsigem Sohn, der sich als jüdischer Krieger, Codename „Ares“, durch das verwüstete Warschau schlägt. Wohl ein Dutzend Mal nennt sich Ryfka „das Nachtungeheuer“, und genauso oft schimpft David seinen Vater einen „bösen Menschen“. Mit der Kraft der Wiederholung will Twardoch das Romangeschehen ins Mythische dehnen. Nuancen sind seine Sache nicht, alles soll stark oder schwach sein, hell oder dunkel, gut oder böse. Das erinnert manchmal eher an Games und Comics und gewinnt eben aus solchen Simplifikationen seine Reichweite.
Twardochs Ehrgeiz geht über das Erzählen spannender Geschichten mit politischer Botschaft noch ein Stück hinaus. Die alternierenden Erzählpersonen, die im besetzten und zerstörten Warschau um ihr Leben kämpfen, sind ausersehen, ein viel größeres Panorama von den Gräueln des Weltkriegs zu entwerfen. Twardoch bedient sich des Kunstgriffs, sie aus einer Art Jenseits (dem „Hiermals“, wie es im Gegensatz zum „Damals“ genannt wird) erzählen zu lassen, nicht nur als überlebende, sondern auch als allwissend gewordene Berichterstatter. Damit rücken dann die Lebenserzählungen von Leuten ins Bild, die im Roman selbst nur eine Nebenrolle spielen: vom schlesischen Wehrmachtsdeserteur oder vom ukrainischen Nazi-Kollaborateur. Das Wissen um diese handlungsfernen biografischen Hintergründe legt Twardoch seinen Figuren ebenso auf die Schultern wie seine eigenen, oft klugen Gedanken über die kulturelle Situation Schlesiens oder über die Nation als eingebildete Größe. Eigentlich haben die Figuren ja aktuell mit dem Überleben alle Hände voll zu tun, aber sie sollen auch Twardochs essayistische Ambitionen mit im Blick behalten. Solche Ungereimtheiten im Erzählkonzept übertönt Twardoch mit seinem suggestiven, wilden Stil, der gelegentlich auch ins Splatterhafte entgleitet. So etwa, als der junge, aber lernfähige David einem jüdischen Mitkämpfer mal eben auf dessen Bitte das entzündete Bein abnimmt, ohne Narkose natürlich.
Das sind keine einzelnen Eskapaden: Twardochs ganze Herangehensweise an sein Thema ist fragwürdig, und man darf annehmen, er weiß es und lässt sich von Einwänden nicht beirren.
Am Ende geht der Roman dann allerdings auch für den aufgeschlossenen Twardoch-Leser über die rote Linie. Frau und Söhne des Boxers sind, letztes Zeugnis für die Schwäche des „Königs“, nach Treblinka deportiert worden. Dem einen Sohn gelingt noch die Flucht aus dem Güterwagen, die Mutter und der andere Sohn werden im Lager sterben. Twardoch gewährt Emilia, der Mutter, einen Schlussmonolog, den man nur obszön finden kann: „Alles wird gut, mein Mäuschen. Kein Grund zur Angst. Alles nicht so schlimm, mein Liebes.“ Das ist dann der Moment, in dem sich Twardochs ambivalenter Wagemut in ziemlich eindeutigen Kitsch verwandelt.
CHRISTOPH BARTMANN
Szczepan Twardoch: Das schwarze Königreich. Roman. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020, 416 Seiten, 24 Euro.
Ihr seid vielleicht gute
Nationalisten, aber die Juden
waren die besseren Patrioten
Am Ende geht der Roman auch
für den aufgeschlossenen Leser
über die rote Linie
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