Boris Sawinkow - Terrorist, Schriftsteller, Kultautor!
Was bleibt einem noch, wenn man den Glauben an die Rechtmäßigkeit des eigenen Tuns verliert? Verzweifelt kämpft George im Russischen Bürgerkrieg gegen die bolschewistischen Machthaber, gegen Verräter und Deserteure. Später wechselt er selbst notgedrungen die Seiten und wird Zeuge furchtbarer Gräueltaten. Als sich eine junge Partisanin in ihn verliebt, gibt er ihr nach. Aber der Krieg duldet keine Erlösung..
Was bleibt einem noch, wenn man den Glauben an die Rechtmäßigkeit des eigenen Tuns verliert? Verzweifelt kämpft George im Russischen Bürgerkrieg gegen die bolschewistischen Machthaber, gegen Verräter und Deserteure. Später wechselt er selbst notgedrungen die Seiten und wird Zeuge furchtbarer Gräueltaten. Als sich eine junge Partisanin in ihn verliebt, gibt er ihr nach. Aber der Krieg duldet keine Erlösung..
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2017Poet und Henker
Seine Morde waren so präzise wie seine Literatur. Der Terrorist und Schriftsteller Boris Sawinkow ist vergessen. Ein Fehler
So wie er Menschen tötete, hat er geschrieben: ohne Moral, präzise, leidenschaftlich, kalt, entschlossen, ruhig. Boris Sawinkow war Terrorist und Schriftsteller. Ein Poet und ein Henker. Sawinkows Morde sind vergessen. Und seine Literatur? Auch sie vergessen. Dass das falsch ist, zeigt "Das schwarze Pferd", Sawinkows Tagebuchroman, der jetzt erstmals auf Deutsch erscheint. Ein altes Buch, geschrieben 1923, doch es trägt ein Gesicht von heute. Das Jetzt sieht man auf jeder Seite, so wie die Nachrichten das Jetzt nie zeigen. Man sieht den Krieg.
George heißt der Ich-Erzähler, er ist das nachgezeichnete Ich von Boris Sawinkow. Ein mordendes, ein geniales, ein abstoßendes Ich im Leben, geboren 1879 in Charkow, in der Ukraine. Der Vater Staatsanwalt, die Mutter Schriftstellerin. Sawinkow studiert Jura in St. Petersburg, berauscht sich an sozialdemokratischen Ideen - im Zarenrussland sind sie unerwünscht. Sawinkow muss deshalb ins Gefängnis und dann in die Verbannung. Er wird ein Radikaler und Mitglied einer Terroreinheit der Sozialrevolutionäre. Im Untergrund plant er Anschläge. 1904 ein Attentat auf den Innenminister. 1905 auf den Großfürsten, einen Zarenbruder. 1906 auf einen Generalleutnant: Der Anschlag scheitert. Sawinkow wird verhaftet, zum Tod verurteilt. Doch er kann fliehen. Ein Jahr später will er den Zaren töten. Ein Flugzeug mit Dynamit soll in die Residenz Zarskoje Selo stürzen. Die 9/11-Vision, einhundert Jahre früher. Nur: es fehlt an der Technik.
Sawinkow zieht nach Frankreich. Zu wenig Terror, zu viel Zeit, und er beginnt zu schreiben. Mit der kreativen Energie, mit der er Attentate plante, protokolliert Sawinkow die Sucht nach Terror in seinem Roman "Das fahle Pferd".
Es kommt zur Februarrevolution in Russland, und die Fronten verrutschen. Die Provisorische Regierung wird gebildet. Boris Sawinkow, erst Terrorist, dann Schriftsteller, wird zum Politiker, zum Stellvertreter des Kriegsministers. Bis zur Oktoberrevolution. Dann kämpft er für die Weißen, bis sie geschlagen sind, und wieder flieht Sawinkow. Nach Paris. Er schreibt "Das schwarze Pferd". Er muss sich ausdrücken, mal mit Romanen, mal mit Bomben. Sawinkow reicht das Schreiben nicht, das Leben im Exil, schon wieder will er kämpfen, eine antisowjetische Verschwörung ist geplant.
Doch die Verschwörung ist eine der Tscheka, des Staatssicherheitsdienstes der Bolschewiken, um den Staatsfeind Sawinkow in das Land zu locken. Er reist nach Russland ein und wird verhaftet. In seinem Prozess erklärt er die Kapitulation vor der Sowjetmacht. Dann ist er tot, stürzt sich aus dem Gefängnisfenster. "Eine Totenmesse für den Terroristen - Kommunisten - Selbstmörder Sawinkow. Wie russisch das ist!", schreibt Marina Zwetajewa nach seinem Tod.
"Für Russland", schreibt Sawinkow immer wieder in "Das schwarze Pferd". "Für Russland" geht George, der Erzähler, in den Krieg. Er ist ein Weißer Oberst und kämpft mit letzten Männern, Kugeln, Pferden gegen die Roten. Sawinkows Tagebuchroman erzählt die Tage Georges, erzählt von Schlachten, von Feinden und von Freunden: Da ist der eitle, einfältige, einäugige Fedja, der gläubige und gestrige Jegorow oder der Leutnant Wrede, der Politik so sehr hasst wie die Mörder seines Vaters - es waren Rote. Der Alltag dieser Männer besteht aus Tod und Töten. Eine Exekution beschreibt George so: "Ich kehre zurück ins Zelt. Und höre ein Kreischen. So schreit kein Mensch. So kreischt ein angeschossener Hase." Manchmal schreibt er nur: "Gestern wurde in meinem Garten Nasarenko gehängt." Die Worte, mit denen heute oft Krieg beschrieben wird, im Südsudan, in Syrien, der Ukraine, Worte wie "unmenschlich" und "furchtbar", fehlen dem Vokabular Sawinkows. Die Lakonie macht alles stechend, alles grausam.
Die Tage sind Erzählungen. Sie handeln oft von Träumen. Fedja, er ist zentral für den Roman, träumt von einem Künstlerleben, der "Oberaufknüpfer" - so heißt er, weil er am liebsten mit dem Strick arbeitet -, er malt und will die Werke in Ausstellungen sehen. Ein anderer Soldat träumt von einem Bauernhof, holländische Kühe will er züchten. Und George? Er träumt von Moskau. Dorthin kehrt er zurück. Doch zuerst muss er kämpfen, Krieg führen, sich selbst, aber auch andere immer fragen: Warum? Die Frage ist der Motor des Romans.
Warum? "Für Russland", sagen die Soldaten. Doch die Motive sind verschieden, sind Geld und Rache und Religion oder auch nur die Lust am Töten. "Als wüssten wir, für wen wir kämpfen . . .", so sagt es einmal Fedja. Später schreibt George über seine Soldaten, über sich: "Von wegen Krieger in weißen Gewändern, nur Doppelgänger der eigenen Feinde." Und mit dem Satz kommt Isaak Babel in den Kopf. In Babels "Reiterarmee" kämpfen die Roten gegen Polen, der Sinn fehlt auch in diesem Kampf. "Aber der Pole hat getötet, mein lieber Herr, weil er die Konterrevolution ist. Ihr tötet, weil ihr die Revolution seid", sagt Babels Held Gedalje, der so wie George keinen Unterschied sieht zwischen Mördern.
Ein Weiser und ein Heiliger ist der Held von Sawinkow aber nicht. George ist besessen. Gierig schreibt er nach dem Erfolg in einer Schlacht: "Und jetzt erhebt sich in mir das Tier: Ich will bis aufs Blut kämpfen. Kämpfen, selbst wenn der Sieg unmöglich ist." Er ist kein Mensch, er ist ein Kriegsmensch. Als Leser verachtet man den Oberst oft, hasst mal die Lethargie, mal die Entschlossenheit, die glühende und blinde Leidenschaft für Russland. Man sieht in ihm aber auch den Getriebenen, versteht ihn, hofft geschichtsvergessen, dass diesen Krieg die Weißen doch gewinnen, dass George wieder ein Mensch wird.
Seine Situation ist aussichtslos. George flieht in einen Wald und führt dort eine Partisanentruppe an, die Grünen. Zuerst liebt er den Wald, er ist auch dort ein "Diener Russlands", glücklich. Es sind nur Augenblicke. Die Grausamkeit kriecht auch zwischen die Bäume. Jetzt werden Kommunisten nicht nur gehängt, werden verbrannt, werden gefoltert. Wieder das literarische Sawinkow-Grauen: "Die Linden blühen . . . Ein ersterbendes Piepsen. Und ich weiß: Im Wald wurde wieder gemordet."
Gruscha, die Bäuerin und Partisanin aus dem Dorf Stolbzy, wird zuerst zur Geliebten Georges und dann entführt von Roten. George glaubt, dass sie in Rschew ist, dahin führt er die Partisanen. Doch die Geliebte ist verschwunden. Der Oberst befiehlt ein Massaker, beendet diesen Tag mit diesen Worten: "Für Moskau. Für Stolbzy. Für Gruscha." Zum ersten Mal wird der Roman wirklich pathetisch, zum ersten Mal sieht George wirklich einen Grund, warum er tötet.
Danach geht er nach Moskau, im Untergrund plant er Anschläge, Sabotageakte. Er bleibt ein Kriegsmensch bis zum Schluss. Und zum Schluss wieder das Warum. George weiß jetzt, dass er Krieg nicht für Russland führte, denn Russland zuckt verwundet: "Nicht nur sie haben es abgeknallt - wir auch. Ja, alle die ein Gewehr zur Hand hatten. Wer ist für Russland? Wer ist dagegen? . . . Wir? . . . Die? . . . Oder wir und die? . . ."
Nein, man muss "Das schwarze Pferd" nicht lesen, um die Geschichte Russlands zu verstehen. Oder um zu begreifen, wie grausam Krieg war, grausam Krieg ist. Man muss es lesen, um das Talent Sawinkows, die glühende Wucht der kalten Literatur zu spüren und sich daran die Hände, Stirn zu wärmen. Und man muss den Roman auch lesen, weil er das Heute so präzise zeigt, von einer Seite, die man selten sieht: Die Jetzt-Welt, sie ist so durcheinander wie Russland im Bürgerkrieg. Boris Sawinkow beschreibt ihn, doch er bewertet nicht. Erst ohne Schwarz und ohne Weiß, ohne ein Gut, ohne ein Böse, kann man mehr sehen als Bomben, Beschüsse und als Fronten. Man sieht den Unterschied zwischen einem Menschen und einem Kriegsmenschen. So sind Figuren, die George trifft, auch die Figuren aus den Kriegen heute. Einer kämpft für das Geld. Einer für Rache. Einer für die Religion. Einer fürs Vaterland. Motive machen aber keinen Unterschied. Der Mensch macht Unmenschliches. Und das Warum bohrt sich in alle. Sawinkows Frage bleibt: Wie geht das Töten für die gerechte Sache? Es geht nicht, sagt "Das schwarze Pferd", sagt Sawinkow, der Terrorist und Mörder.
Wie konnte so einer so etwas schreiben? Einen großen pazifistischen Roman? Weil Boris Sawinkow die Ideologie aussperrte aus der Literatur, weil er in ihr kein Ziel verfolgte, kein ideologisches Vorhaben, das er im Leben bis zum Tod verfolgte. "Das schwarze Pferd" ist nur deshalb universell, ist unvergänglich, und doch ist der Roman vergessen. Warum? Vielleicht musste Sawinkow literarisch sterben, weil er getötet hat. Vielleicht liebte Sawinkow sogar dieses Töten. In seinem ersten Buch "Das fahle Pferd" lässt der Schriftsteller seinen Helden sagen: "Ich bin ein Meister der roten Zunft. Ich will auch in Zukunft mein Handwerk ausüben. Tag für Tag. Stunde für Stunde werde ich Morde ausbrüten. Ich werde alles heimlich beobachten, werde allein vom Tod leben." Sogar Lermontows egoistischer, eiskalter Petschorin in "Ein Held unserer Zeit", dem Klassiker der russischen Literatur, wirkt wärmer als der Held Sawinkows.
"Das schwarze Pferd" kennt diese außerordentliche Mordlust nicht mehr. Doch ist es keine Läuterung des Terroristen Sawinkow. Er selbst war nie ein Pazifist. Nach der Veröffentlichung des Romans in Frankreich hätte Sawinkow in Ruhe leben können in Paris. Er aber wollte nochmals in den Kampf. Nur deshalb fiel er 1924 auf die Verschwörung der Bolschewiken herein und reiste ein nach Russland. Im Leben war er ein Verblendeter, ein Kampfsüchtiger. Die Literatur Boris Sawinkows war klüger als sein Leben.
ANNA PRIZKAU
Boris Sawinkow: "Das schwarze Pferd. Roman aus dem Russischen Bürgerkrieg". Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg. Galiani Berlin, 272 Seiten, 23 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seine Morde waren so präzise wie seine Literatur. Der Terrorist und Schriftsteller Boris Sawinkow ist vergessen. Ein Fehler
So wie er Menschen tötete, hat er geschrieben: ohne Moral, präzise, leidenschaftlich, kalt, entschlossen, ruhig. Boris Sawinkow war Terrorist und Schriftsteller. Ein Poet und ein Henker. Sawinkows Morde sind vergessen. Und seine Literatur? Auch sie vergessen. Dass das falsch ist, zeigt "Das schwarze Pferd", Sawinkows Tagebuchroman, der jetzt erstmals auf Deutsch erscheint. Ein altes Buch, geschrieben 1923, doch es trägt ein Gesicht von heute. Das Jetzt sieht man auf jeder Seite, so wie die Nachrichten das Jetzt nie zeigen. Man sieht den Krieg.
George heißt der Ich-Erzähler, er ist das nachgezeichnete Ich von Boris Sawinkow. Ein mordendes, ein geniales, ein abstoßendes Ich im Leben, geboren 1879 in Charkow, in der Ukraine. Der Vater Staatsanwalt, die Mutter Schriftstellerin. Sawinkow studiert Jura in St. Petersburg, berauscht sich an sozialdemokratischen Ideen - im Zarenrussland sind sie unerwünscht. Sawinkow muss deshalb ins Gefängnis und dann in die Verbannung. Er wird ein Radikaler und Mitglied einer Terroreinheit der Sozialrevolutionäre. Im Untergrund plant er Anschläge. 1904 ein Attentat auf den Innenminister. 1905 auf den Großfürsten, einen Zarenbruder. 1906 auf einen Generalleutnant: Der Anschlag scheitert. Sawinkow wird verhaftet, zum Tod verurteilt. Doch er kann fliehen. Ein Jahr später will er den Zaren töten. Ein Flugzeug mit Dynamit soll in die Residenz Zarskoje Selo stürzen. Die 9/11-Vision, einhundert Jahre früher. Nur: es fehlt an der Technik.
Sawinkow zieht nach Frankreich. Zu wenig Terror, zu viel Zeit, und er beginnt zu schreiben. Mit der kreativen Energie, mit der er Attentate plante, protokolliert Sawinkow die Sucht nach Terror in seinem Roman "Das fahle Pferd".
Es kommt zur Februarrevolution in Russland, und die Fronten verrutschen. Die Provisorische Regierung wird gebildet. Boris Sawinkow, erst Terrorist, dann Schriftsteller, wird zum Politiker, zum Stellvertreter des Kriegsministers. Bis zur Oktoberrevolution. Dann kämpft er für die Weißen, bis sie geschlagen sind, und wieder flieht Sawinkow. Nach Paris. Er schreibt "Das schwarze Pferd". Er muss sich ausdrücken, mal mit Romanen, mal mit Bomben. Sawinkow reicht das Schreiben nicht, das Leben im Exil, schon wieder will er kämpfen, eine antisowjetische Verschwörung ist geplant.
Doch die Verschwörung ist eine der Tscheka, des Staatssicherheitsdienstes der Bolschewiken, um den Staatsfeind Sawinkow in das Land zu locken. Er reist nach Russland ein und wird verhaftet. In seinem Prozess erklärt er die Kapitulation vor der Sowjetmacht. Dann ist er tot, stürzt sich aus dem Gefängnisfenster. "Eine Totenmesse für den Terroristen - Kommunisten - Selbstmörder Sawinkow. Wie russisch das ist!", schreibt Marina Zwetajewa nach seinem Tod.
"Für Russland", schreibt Sawinkow immer wieder in "Das schwarze Pferd". "Für Russland" geht George, der Erzähler, in den Krieg. Er ist ein Weißer Oberst und kämpft mit letzten Männern, Kugeln, Pferden gegen die Roten. Sawinkows Tagebuchroman erzählt die Tage Georges, erzählt von Schlachten, von Feinden und von Freunden: Da ist der eitle, einfältige, einäugige Fedja, der gläubige und gestrige Jegorow oder der Leutnant Wrede, der Politik so sehr hasst wie die Mörder seines Vaters - es waren Rote. Der Alltag dieser Männer besteht aus Tod und Töten. Eine Exekution beschreibt George so: "Ich kehre zurück ins Zelt. Und höre ein Kreischen. So schreit kein Mensch. So kreischt ein angeschossener Hase." Manchmal schreibt er nur: "Gestern wurde in meinem Garten Nasarenko gehängt." Die Worte, mit denen heute oft Krieg beschrieben wird, im Südsudan, in Syrien, der Ukraine, Worte wie "unmenschlich" und "furchtbar", fehlen dem Vokabular Sawinkows. Die Lakonie macht alles stechend, alles grausam.
Die Tage sind Erzählungen. Sie handeln oft von Träumen. Fedja, er ist zentral für den Roman, träumt von einem Künstlerleben, der "Oberaufknüpfer" - so heißt er, weil er am liebsten mit dem Strick arbeitet -, er malt und will die Werke in Ausstellungen sehen. Ein anderer Soldat träumt von einem Bauernhof, holländische Kühe will er züchten. Und George? Er träumt von Moskau. Dorthin kehrt er zurück. Doch zuerst muss er kämpfen, Krieg führen, sich selbst, aber auch andere immer fragen: Warum? Die Frage ist der Motor des Romans.
Warum? "Für Russland", sagen die Soldaten. Doch die Motive sind verschieden, sind Geld und Rache und Religion oder auch nur die Lust am Töten. "Als wüssten wir, für wen wir kämpfen . . .", so sagt es einmal Fedja. Später schreibt George über seine Soldaten, über sich: "Von wegen Krieger in weißen Gewändern, nur Doppelgänger der eigenen Feinde." Und mit dem Satz kommt Isaak Babel in den Kopf. In Babels "Reiterarmee" kämpfen die Roten gegen Polen, der Sinn fehlt auch in diesem Kampf. "Aber der Pole hat getötet, mein lieber Herr, weil er die Konterrevolution ist. Ihr tötet, weil ihr die Revolution seid", sagt Babels Held Gedalje, der so wie George keinen Unterschied sieht zwischen Mördern.
Ein Weiser und ein Heiliger ist der Held von Sawinkow aber nicht. George ist besessen. Gierig schreibt er nach dem Erfolg in einer Schlacht: "Und jetzt erhebt sich in mir das Tier: Ich will bis aufs Blut kämpfen. Kämpfen, selbst wenn der Sieg unmöglich ist." Er ist kein Mensch, er ist ein Kriegsmensch. Als Leser verachtet man den Oberst oft, hasst mal die Lethargie, mal die Entschlossenheit, die glühende und blinde Leidenschaft für Russland. Man sieht in ihm aber auch den Getriebenen, versteht ihn, hofft geschichtsvergessen, dass diesen Krieg die Weißen doch gewinnen, dass George wieder ein Mensch wird.
Seine Situation ist aussichtslos. George flieht in einen Wald und führt dort eine Partisanentruppe an, die Grünen. Zuerst liebt er den Wald, er ist auch dort ein "Diener Russlands", glücklich. Es sind nur Augenblicke. Die Grausamkeit kriecht auch zwischen die Bäume. Jetzt werden Kommunisten nicht nur gehängt, werden verbrannt, werden gefoltert. Wieder das literarische Sawinkow-Grauen: "Die Linden blühen . . . Ein ersterbendes Piepsen. Und ich weiß: Im Wald wurde wieder gemordet."
Gruscha, die Bäuerin und Partisanin aus dem Dorf Stolbzy, wird zuerst zur Geliebten Georges und dann entführt von Roten. George glaubt, dass sie in Rschew ist, dahin führt er die Partisanen. Doch die Geliebte ist verschwunden. Der Oberst befiehlt ein Massaker, beendet diesen Tag mit diesen Worten: "Für Moskau. Für Stolbzy. Für Gruscha." Zum ersten Mal wird der Roman wirklich pathetisch, zum ersten Mal sieht George wirklich einen Grund, warum er tötet.
Danach geht er nach Moskau, im Untergrund plant er Anschläge, Sabotageakte. Er bleibt ein Kriegsmensch bis zum Schluss. Und zum Schluss wieder das Warum. George weiß jetzt, dass er Krieg nicht für Russland führte, denn Russland zuckt verwundet: "Nicht nur sie haben es abgeknallt - wir auch. Ja, alle die ein Gewehr zur Hand hatten. Wer ist für Russland? Wer ist dagegen? . . . Wir? . . . Die? . . . Oder wir und die? . . ."
Nein, man muss "Das schwarze Pferd" nicht lesen, um die Geschichte Russlands zu verstehen. Oder um zu begreifen, wie grausam Krieg war, grausam Krieg ist. Man muss es lesen, um das Talent Sawinkows, die glühende Wucht der kalten Literatur zu spüren und sich daran die Hände, Stirn zu wärmen. Und man muss den Roman auch lesen, weil er das Heute so präzise zeigt, von einer Seite, die man selten sieht: Die Jetzt-Welt, sie ist so durcheinander wie Russland im Bürgerkrieg. Boris Sawinkow beschreibt ihn, doch er bewertet nicht. Erst ohne Schwarz und ohne Weiß, ohne ein Gut, ohne ein Böse, kann man mehr sehen als Bomben, Beschüsse und als Fronten. Man sieht den Unterschied zwischen einem Menschen und einem Kriegsmenschen. So sind Figuren, die George trifft, auch die Figuren aus den Kriegen heute. Einer kämpft für das Geld. Einer für Rache. Einer für die Religion. Einer fürs Vaterland. Motive machen aber keinen Unterschied. Der Mensch macht Unmenschliches. Und das Warum bohrt sich in alle. Sawinkows Frage bleibt: Wie geht das Töten für die gerechte Sache? Es geht nicht, sagt "Das schwarze Pferd", sagt Sawinkow, der Terrorist und Mörder.
Wie konnte so einer so etwas schreiben? Einen großen pazifistischen Roman? Weil Boris Sawinkow die Ideologie aussperrte aus der Literatur, weil er in ihr kein Ziel verfolgte, kein ideologisches Vorhaben, das er im Leben bis zum Tod verfolgte. "Das schwarze Pferd" ist nur deshalb universell, ist unvergänglich, und doch ist der Roman vergessen. Warum? Vielleicht musste Sawinkow literarisch sterben, weil er getötet hat. Vielleicht liebte Sawinkow sogar dieses Töten. In seinem ersten Buch "Das fahle Pferd" lässt der Schriftsteller seinen Helden sagen: "Ich bin ein Meister der roten Zunft. Ich will auch in Zukunft mein Handwerk ausüben. Tag für Tag. Stunde für Stunde werde ich Morde ausbrüten. Ich werde alles heimlich beobachten, werde allein vom Tod leben." Sogar Lermontows egoistischer, eiskalter Petschorin in "Ein Held unserer Zeit", dem Klassiker der russischen Literatur, wirkt wärmer als der Held Sawinkows.
"Das schwarze Pferd" kennt diese außerordentliche Mordlust nicht mehr. Doch ist es keine Läuterung des Terroristen Sawinkow. Er selbst war nie ein Pazifist. Nach der Veröffentlichung des Romans in Frankreich hätte Sawinkow in Ruhe leben können in Paris. Er aber wollte nochmals in den Kampf. Nur deshalb fiel er 1924 auf die Verschwörung der Bolschewiken herein und reiste ein nach Russland. Im Leben war er ein Verblendeter, ein Kampfsüchtiger. Die Literatur Boris Sawinkows war klüger als sein Leben.
ANNA PRIZKAU
Boris Sawinkow: "Das schwarze Pferd. Roman aus dem Russischen Bürgerkrieg". Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg. Galiani Berlin, 272 Seiten, 23 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit der Wiederentdeckung der Bücher Boris Sawinkows durch den Galiani Verlag - hundert Jahre nach der Oktoberrevolution - kann man nun einen spannenden, literarisch durchaus faszinierenden und historisch einzigartigen Blick auf die Bürgerkriegszeit in Russland werfen und mit Sawinkow einen zwiespältigen Akteur dieser Epoche kennenlernen, der sich die paradoxe Suche nach dem Sinn der Geschichte zu seiner Aufgabe gemacht hat. Ulrich Rüdenauer MDR Kultur