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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.08.2012

Vom Versuch, das Chaos mit Hilfe der künstlerischen Ordnung zu überleben

Lebensbeichte mit Geige: Jaume Cabrés katalanischer Roman "Das Schweigen des Sammlers" unternimmt den meisterlichen Versuch, die Wurzel des Bösen zu finden.

Nur die Geige war Zeuge. Wenn die Täter ihr blutiges Werk verrichten, glauben sie sich unbeobachtet. Nur eine kostbare Geige muss das mörderische Treiben miterleben - wieder und wieder, seit sie im achtzehnten Jahrhundert von dem Geigenbauer Lorenzo Storioni gefertigt wurde. Ihr Name "Vial" ist der eines Mörders: Guillaume-François Vial erschlug im Oktober 1764 in Paris seinen Onkel, den Violinisten Jean-Marie Leclair mit einem Schürhaken, um sich in den Besitz des wertvollen Stücks zu bringen. Ein historisch verbürgter musikalischer Mordfall, der nie restlos aufgeklärt wurde.

Deshalb eignet sich Jaume Cabrés Roman auch nicht zum Krimi. Zumal sein deutscher Titel "Das Schweigen des Sammlers" nahelegt, die mangelnde Auskunftsfreude des Instruments werde vom Besitzer geteilt. Das Opus kreist in immer neuen Inkarnationen und Facetten um das Morden, vom Zeitalter der Inquisition im katalanischen Girona über den Ersten Weltkrieg in Rom, die Vernichtungslager von Auschwitz und Birkenau bis hin ins Barcelona des Franco-Regimes, und schließlich ins einundzwanzigste Jahrhundert. Doch auch wenn Leichen den Weg des Erzählens und seiner heimlichen instrumentalen Hauptfigur pflastern, macht sich niemand daran, die Fälle aufzuklären. Vor allem, weil den Ermittlern die Täter bekannt sind. Nötig wäre nicht ihre Überführung, sondern ihre Bestrafung. Doch die bleibt aus. Bestraft werden allein die Angehörigen der Opfer. Was bleibt, ist eine unbefriedigte Sehnsucht nach Sühne - auch bei den Tätern und ihren Nachkommen.

Das mag erklären, warum Cabrés Roman der Form nach eine Beichte ist: "Jo confesso" - "Ich bekenne" - lautet der katalanische Originaltitel. Das Geständnis, das die Vielzahl der Figuren, Zeitebenen und Erzählstränge zu einem roten Faden bündelt, ist das von Adrià Ardévol. Verzweifelt versucht der Professor für Ideengeschichte, sich sein Gedächtnis von der Seele zu schreiben, bevor eine Erkrankung ihm die letzten Erinnerungen entreißt. Das daraus resultierende Schuldbekenntnis weitet sich rasch auf die Geschichte der ungesühnten Verbrechen der europäischen Zivilisation aus. Denn in zunächst unsichtbarerer Weise sind diese immer wieder mit seinem Leben verwoben. Die Meisterschaft von Cabrés Erzählen beweist sich darin, dass der Autor ein solch monumentales Unternehmen ganz schlicht anzugehen weiß: durch die sensibel und intim erzählte Familiengeschichte von Adrià Ardévol.

Am Anfang steht die Schilderung der ersten Liebe seines Vaters Félix, der sich als Novize im Rom des Ersten Weltkriegs in eine junge Einheimische verliebt und darüber die kirchliche Laufbahn in den Wind schießt. Ganz im Widerspruch dazu finden wir Félix bald als finsteren Antiquitätenhändler im Barcelona der vierziger Jahre wieder. Vor allem aber als kalten, verschlossenen Vater. Von seinem Sohn Adrià erwartet er, zum weltberühmten Gelehrten zu werden. Adrià flüchtet sich in eine Phantasiewelt. Deren Helden, Indianerhäuptling Schwarzer Adler und Sheriff Carson, sind seine Freunde. Intelligenz und sein Sprachtalent lassen ihn zwar ungewollt den Anforderungen des Vaters gerecht werden. Doch Adriàs Sehnsucht hintertreibt die väterlichen Pläne: sie gilt der Geige Vial, die Félix im Tresor hortet, obwohl er selbst kein Musiker ist und im Instrument nur das kostbare Wertobjekt begehrt. Der Junge erstreitet sich bei der Mutter das Recht auf Geigenunterricht. So lernt er den angehenden Musiker Bernal kennen. Gemeinsam stehlen sie dem Vater eines Tages leihweise die Storioni und tauschen sie gegen Adriàs Übungsgeige.

Am selben Tag wird Félix Ardévol ermordet aufgefunden - mit abgetrenntem Kopf, neben ihm die Trümmer der wertlosen Übungsgeige. Adrià ahnt, dass der Tod des Vaters durch ihn verursacht wurde. Sein Schuldbewusstsein wird ihn nicht verlassen, seine erste Liebe gilt der jüdischen Künstlerin Sara Voltés-Epstein, seine Studienjahre verbringt er bei Eugenio Coseriu in Tübingen, der hier mit einigen charismatischen Grenzübertritten als reale Figur aufwartet. Selbst auf dem Tübinger Friedhof stößt Adrià bei amourösen Spaziergängen auf Tote des Zweiten Weltkriegs, die ohne sein Wissen mit der Geschichte seiner Familie und seiner Geige in engstem Zusammenhang stehen.

Die Peripetien eines halben Jahrtausends aus einer einzelnen individuellen Geschichte heraus in einem Wirrwarr unterschiedlicher Handlungsstränge miteinander zu verweben, erweist auf den ersten Blick als unmögliches, ja, größenwahnsinniges Projekt. Dennoch gelingt Cabré dieser Kraftakt: da er sich aus einem unfreiwilligen Bekenntnis zur Imperfektion und Lückenhaftigkeit speist. Der Erzähler ist kein Allwissender, sondern ein an Alzheimer erkrankter, alternder Mann, der quasi eine Radiographie seines sich Tag für Tag abbauenden Gedächtnisses für die Menschen zu retten sucht, die er liebt.

Selbst die experimentellen Erzähltechniken des Romans gewinnen vor diesem Hintergrund eine mehr pathologisch begründete denn prätentiös avantgardistische Dimension. Scheinbar systematisch springt die Erzählperspektive zwischen den historischen Erzählebenen, verwischen sich die Zeitebenen innerhalb eines syntaktischen Gefüges und machen die Lektüre zuweilen zur konzentrationsintensiven Provokation: Gespräche eines Inquisitors werden nahtlos verwoben in die Konversationen eines Lageroffiziers in Birkenau. Auch das zweifelhafte Geschichtsmodell, das unter Vernachlässigung der jeweiligen historischen Hintergründe die Verbrechen der vergangenen Jahrhunderte plakativ auf ein abstrakt konstantes Prinzip menschlicher Schlechtigkeit zu reduzieren sucht, erhält seine Brüche vor dem Hintergrund der Krankheit des Erzählers. Dies ständige Gleiten ist immer auch Symptom der Unfähigkeit eines Alzheimerpatienten, Disparates auseinanderzuhalten.

Die Ratlosigkeit, wie die Unordnung der Welt zu bewältigen ist, verfolgt die Figuren jedoch bereits lang vor dem Auftauchen der ersten Krankheitssymptome: so als sei der Kampf gegen das degenerierende Gedächtnis eine Metapher der modernen Existenz. Manifest wird dies in den Dialogen der beiden Freunde Bernal und Adrià: "Bei dem, was du da sagst, wird einem ein bisschen schwindelig, findest du nicht?" - "Ja. Und deshalb versuchen wir, das Chaos mit Hilfe der künstlerischen Ordnung zu überleben." Doch dass die quasi-nietzscheanische Hoffnung auf ein "Artistenevangelium" Illusion bleibt, beweisen die Figuren des Romans durch ihre Handlungen. Trotz ihres Künstlertums reproduzieren sie ungewollt die Fehler der vorhergehenden Generationen, und sie führen vor, wie lernunfähig der Mensch stets bleibt.

Ein ernüchterndes Resümee. Dennoch erzeugt die narrative Virtuosität des Autors ein in der Gegenwartsliteratur selten anzutreffendes Glücksgefühl. Jaume Cabré hat ein poetisches Universum sui generis geschaffen, das stellenweise irritiert, aber immer wieder überrascht, und den wohlwichtigsten Roman Spaniens seit vielen Jahren.

FLORIAN BORCHMEYER

Jaume Cabré: "Das Schweigen des Sammlers". Roman.

Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt, Petra Zickmann. Insel Verlag, Berlin 2011. 847 S., geb., 24,95 [Euro].

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