Ein Mädchen verschwindet - genau an der Stelle, an der vor dreiunddreißig Jahren ein anderes Mädchen vergewaltigt und ermordet wurde. Das Verbrechen verstört nicht nur Polizei und Öffentlichkeit, sondern auch einen der beiden damaligen Täter ...
Niemand weiß besser als Kimmo Joentaa, wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen zu verlieren. Wenn die Angst der Gewissheit weicht, dass der andere fort ist. Für immer. Deshalb hütet sich der Kriminalkommissar aus Turku davor, den Eltern von Sinikka Vehkasalo zu widersprechen. Ihnen die Hoffnung zu nehmen, dass ihre Tochter noch leben könnte. Auch wenn er es besser weiß. Wissen muss. Denn die Parallelen sind zu offensichtlich. Wenn dreiunddreißig Jahre nach dem ungeklärten Mord an einem jungen Mädchen an genau der gleichen Stelle ein anderes Mädchen unter ähnlichen Umständen verschwindet, muss es einen Zusammenhang geben. Denkt nicht nur Kimmo, sondern auch sein in den Ruhestand verabschiedeter Kollege Ketola. Getrieben von der Hoffnung auf späte Antworten, nimmt er die Fährte seines ungelösten Falles wieder auf. Die beiden damaligen Täter beginnen, sich gegenseitig zu belauern. Und für einen von ihnen wird die Reise in die eigene Vergangenheit eine gnadenlose Auseinandersetzung mit der lange verdrängten Verantwortung ...
Niemand weiß besser als Kimmo Joentaa, wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen zu verlieren. Wenn die Angst der Gewissheit weicht, dass der andere fort ist. Für immer. Deshalb hütet sich der Kriminalkommissar aus Turku davor, den Eltern von Sinikka Vehkasalo zu widersprechen. Ihnen die Hoffnung zu nehmen, dass ihre Tochter noch leben könnte. Auch wenn er es besser weiß. Wissen muss. Denn die Parallelen sind zu offensichtlich. Wenn dreiunddreißig Jahre nach dem ungeklärten Mord an einem jungen Mädchen an genau der gleichen Stelle ein anderes Mädchen unter ähnlichen Umständen verschwindet, muss es einen Zusammenhang geben. Denkt nicht nur Kimmo, sondern auch sein in den Ruhestand verabschiedeter Kollege Ketola. Getrieben von der Hoffnung auf späte Antworten, nimmt er die Fährte seines ungelösten Falles wieder auf. Die beiden damaligen Täter beginnen, sich gegenseitig zu belauern. Und für einen von ihnen wird die Reise in die eigene Vergangenheit eine gnadenlose Auseinandersetzung mit der lange verdrängten Verantwortung ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2007Seelenhaushalt in finnischem Design
Mord als Déjà-vu: Bei Jan Costin Wagner schweigen die Streber
Von Oliver Jungen
Oh, verschwatzte Welt. Es zeichnet nicht zuletzt den Philosophen aus, dem Drang des Offenbarens zu widerstehen, Geheimnisse zu bewahren. Das Gerede bringt Licht in die Dinge, keine Frage, aber die Dinge sind eben oft nicht ansehnlich. Wenn überhaupt jemand zu schweigen vermag, wie es sonst nur Gräber tun, so sind das bekanntlich die Finnen. In die traumhafte Seenlandschaft Südfinnlands, seine zweite Heimat, hat der junge Autor Jan Costin Wagner bereits die Handlung seines Romans "Eismond" (2003) verlegt, was in erster Linie zu ulkigen Figurennamen führte. Kommissar Kimmo Joentaa hatte dabei nicht nur einen Serienmörder zur Strecke zu bringen, sondern auch den Krebstod seiner Frau Sanna zu verarbeiten. Das Buch war keineswegs nur Detektivroman, sondern auch eine schöne kleine Elegie auf die Todesnähe des Lebens.
An die Handlung jenes Buchs schließt Wagner nun mit seinem vierten Roman an. Wieder ermittelt Kimmo Joentaa, der - ein Jahr ist vergangen - weiterhin am Tod Sannas laboriert. Doch gilt die Aufmerksamkeit nun einer weiteren Person: dem soeben aus dem Polizeidienst ausgeschiedenen Antsi Ketola. Als Pensionär kommt er zu seinem letzten Fall, der zugleich einer seiner ersten war: Es scheint sich nämlich ein unaufgeklärtes, dreiunddreißig Jahre zurückliegendes Verbrechen, die Vergewaltigung und Ermordung eines jungen Mädchens, an derselben Stelle und auf dieselbe Weise wiederholt zu haben. Nur die Leiche ist im gegenwärtigen Fall nicht aufzufinden.
Psychologie von Tätern und Opfern "Das Schweigen" hat alle Ingredienzien einer guten Kriminalgeschichte, doch schnell wird deutlich, dass der Roman zugleich einem anderen Genre verbunden ist: dem psychologischen Roman. Durch dieses "double bind" gerät das Muster aus den Fugen. So kennt der Leser beispielsweise die Täter der früheren Tat von der ersten Seite an, zwei junge Männer, der eine eher passiv, der andere dominant. Der unaufgeklärte Mord wird detailliert im Vorspann geschildert: "Pärssinen beugte sich über das Mädchen und drückte ihm die Kehle zu. Das Mädchen reagierte kaum." Doch wirkt der Tonfall des Präludiums etwas zu manieriert, zu sehr an Thomas Bernhard orientiert: "und er hatte gespürt, dass Pärssinen wusste, was er tat, obwohl Pärssinen versichert hatte, so etwas noch nie gemacht zu haben, und dass erst ihre Bekanntschaft, ihre Begegnung, ihr Zusammenfinden, wie er es ganz am Ende einmal genannt hatte, ihm klargemacht hätte, dass es sein müsse, dass es verdammt noch mal sein müsse und dass es keinen Sinn hätte, dagegen anzugehen, sondern dass sie es tun würden, gemeinsam tun würden". Gleich im Anschluss an die Tat folgt der Sprung in die Gegenwart. Hier findet Wagner sofort zu seinem überzeugenden, nüchtern-prägnanten und extrem personalen Stil.
Dass sich die Geschichte auch weiterhin genau so entwickelt, wie man es (bereits nach dem Klappentext) erwartet, tut ihrer Qualität keinen Abbruch. Am wenigsten irritiert durch die Nachahmungstat scheint nämlich auffälligerweise der Kommissar im Ruhestand. Schon besorgter zeigen sich seine aktiven Kollegen. Am stärksten verstört ist einer der beiden früheren Täter, Timo Korvensuo, inzwischen fürsorglicher Familienvater mit reizender Familie - und gleichwohl ein stilles Wasser. Zwischen den Figuren entwickelt sich ein Kräftemessen im Geheimnisbewahren. Ketola bleibt undurchschaubar. Korvensuo kommt mehr und mehr die Selbstbeherrschung abhanden, während sein ehemaliger Komplize, den er der neuen Tat verdächtigt, eine Ruhe ausstrahlt, wie sie nur Finnen und Schildkröten auszustrahlen vermögen. Einer wird das lange Schweigen schließlich brechen - zugunsten eines ewigen Schweigens.
Dem Leser bleibt das bei allem äußeren Stoizismus aufgewühlte Innenleben der Figuren keineswegs verborgen. Er wird vielmehr auf Schritt und Tritt mit den Gedanken, den Erinnerungen, den Träumen und Ängsten aller Personen - Täter, Opfer, Polizeibeamte - konfrontiert, wodurch die Erzählhierarchien verschwimmen. Erneut hat Wagner mit diesem Roman bewiesen, was für ein genauer und stilistisch sicherer Erzähler er ist. Nebenbei hat er Kriminalistik und Psychologie einander angenähert, was allmählich in Vergessenheit zu geraten schien, weil reihenweise Schlaumeier-Detektive knifflige Fälle wie Mathematikaufgaben lösten. Nichts von dieser Streberhaftigkeit und Weltfremdheit ist in Wagners Buch zu finden, das dagegen fast schon philosophisch zu nennen ist, denn so sehr es in die Seelentiefen seiner Protagonisten eindringt, so wenig schwatzt es Geheimnisse aus, die besser Geheimnisse bleiben.
- Jan Costin Wagner: "Das Schweigen". Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007. 286 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mord als Déjà-vu: Bei Jan Costin Wagner schweigen die Streber
Von Oliver Jungen
Oh, verschwatzte Welt. Es zeichnet nicht zuletzt den Philosophen aus, dem Drang des Offenbarens zu widerstehen, Geheimnisse zu bewahren. Das Gerede bringt Licht in die Dinge, keine Frage, aber die Dinge sind eben oft nicht ansehnlich. Wenn überhaupt jemand zu schweigen vermag, wie es sonst nur Gräber tun, so sind das bekanntlich die Finnen. In die traumhafte Seenlandschaft Südfinnlands, seine zweite Heimat, hat der junge Autor Jan Costin Wagner bereits die Handlung seines Romans "Eismond" (2003) verlegt, was in erster Linie zu ulkigen Figurennamen führte. Kommissar Kimmo Joentaa hatte dabei nicht nur einen Serienmörder zur Strecke zu bringen, sondern auch den Krebstod seiner Frau Sanna zu verarbeiten. Das Buch war keineswegs nur Detektivroman, sondern auch eine schöne kleine Elegie auf die Todesnähe des Lebens.
An die Handlung jenes Buchs schließt Wagner nun mit seinem vierten Roman an. Wieder ermittelt Kimmo Joentaa, der - ein Jahr ist vergangen - weiterhin am Tod Sannas laboriert. Doch gilt die Aufmerksamkeit nun einer weiteren Person: dem soeben aus dem Polizeidienst ausgeschiedenen Antsi Ketola. Als Pensionär kommt er zu seinem letzten Fall, der zugleich einer seiner ersten war: Es scheint sich nämlich ein unaufgeklärtes, dreiunddreißig Jahre zurückliegendes Verbrechen, die Vergewaltigung und Ermordung eines jungen Mädchens, an derselben Stelle und auf dieselbe Weise wiederholt zu haben. Nur die Leiche ist im gegenwärtigen Fall nicht aufzufinden.
Psychologie von Tätern und Opfern "Das Schweigen" hat alle Ingredienzien einer guten Kriminalgeschichte, doch schnell wird deutlich, dass der Roman zugleich einem anderen Genre verbunden ist: dem psychologischen Roman. Durch dieses "double bind" gerät das Muster aus den Fugen. So kennt der Leser beispielsweise die Täter der früheren Tat von der ersten Seite an, zwei junge Männer, der eine eher passiv, der andere dominant. Der unaufgeklärte Mord wird detailliert im Vorspann geschildert: "Pärssinen beugte sich über das Mädchen und drückte ihm die Kehle zu. Das Mädchen reagierte kaum." Doch wirkt der Tonfall des Präludiums etwas zu manieriert, zu sehr an Thomas Bernhard orientiert: "und er hatte gespürt, dass Pärssinen wusste, was er tat, obwohl Pärssinen versichert hatte, so etwas noch nie gemacht zu haben, und dass erst ihre Bekanntschaft, ihre Begegnung, ihr Zusammenfinden, wie er es ganz am Ende einmal genannt hatte, ihm klargemacht hätte, dass es sein müsse, dass es verdammt noch mal sein müsse und dass es keinen Sinn hätte, dagegen anzugehen, sondern dass sie es tun würden, gemeinsam tun würden". Gleich im Anschluss an die Tat folgt der Sprung in die Gegenwart. Hier findet Wagner sofort zu seinem überzeugenden, nüchtern-prägnanten und extrem personalen Stil.
Dass sich die Geschichte auch weiterhin genau so entwickelt, wie man es (bereits nach dem Klappentext) erwartet, tut ihrer Qualität keinen Abbruch. Am wenigsten irritiert durch die Nachahmungstat scheint nämlich auffälligerweise der Kommissar im Ruhestand. Schon besorgter zeigen sich seine aktiven Kollegen. Am stärksten verstört ist einer der beiden früheren Täter, Timo Korvensuo, inzwischen fürsorglicher Familienvater mit reizender Familie - und gleichwohl ein stilles Wasser. Zwischen den Figuren entwickelt sich ein Kräftemessen im Geheimnisbewahren. Ketola bleibt undurchschaubar. Korvensuo kommt mehr und mehr die Selbstbeherrschung abhanden, während sein ehemaliger Komplize, den er der neuen Tat verdächtigt, eine Ruhe ausstrahlt, wie sie nur Finnen und Schildkröten auszustrahlen vermögen. Einer wird das lange Schweigen schließlich brechen - zugunsten eines ewigen Schweigens.
Dem Leser bleibt das bei allem äußeren Stoizismus aufgewühlte Innenleben der Figuren keineswegs verborgen. Er wird vielmehr auf Schritt und Tritt mit den Gedanken, den Erinnerungen, den Träumen und Ängsten aller Personen - Täter, Opfer, Polizeibeamte - konfrontiert, wodurch die Erzählhierarchien verschwimmen. Erneut hat Wagner mit diesem Roman bewiesen, was für ein genauer und stilistisch sicherer Erzähler er ist. Nebenbei hat er Kriminalistik und Psychologie einander angenähert, was allmählich in Vergessenheit zu geraten schien, weil reihenweise Schlaumeier-Detektive knifflige Fälle wie Mathematikaufgaben lösten. Nichts von dieser Streberhaftigkeit und Weltfremdheit ist in Wagners Buch zu finden, das dagegen fast schon philosophisch zu nennen ist, denn so sehr es in die Seelentiefen seiner Protagonisten eindringt, so wenig schwatzt es Geheimnisse aus, die besser Geheimnisse bleiben.
- Jan Costin Wagner: "Das Schweigen". Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007. 286 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.07.2007Diese Arglist dient einer guten Sache
Es geht nicht um Aufklärung, ist aber trotzdem spannend: Jan Costin Wagners Kriminalroman „Das Schweigen”
Jan Costin Wagner hat seine Magisterarbeit über Adalbert Stifter geschrieben, und das ist für einen Kriminalschriftsteller nicht die schlechteste Schule. Wo sich auf der Außenhaut der Wirklichkeit die Dinge nur leicht kräuseln, wenn im Inneren sich schon Abgründe auftun, wo das Drama zwischen den Zeilen schläft, statt Oberflächenspannung freizusetzen, da gibt es für Spannungsautoren etwas abzuschauen. Wagner jedenfalls hat in seinen nunmehr vier Romanen einen Ton entwickelt, den man in Anlehnung an Stifters „Bergkristall” als kristallin bezeichnen kann. Hier wird nicht Spannung „erzeugt”, sie ist immer schon da. Hier wird nichts erklärt und auch nur das Notwendige erzählt. So schlackenlos, reduziert und in seiner Effektarmut zuletzt effektvoll geht Wagner in seinem jüngsten Roman zu Werke, dass man glaubt, es gebe für den hier verhandelten Fall keine bessere Sprachform als diese.
Zur Schweigsamkeit seines Stils (die ihn nicht unbedingt mit Stifter verbindet) passt es, dass der Roman in Finnland spielt. In Finnland, seiner zweiten Heimat, hatte Wagner bereits den Roman „Nachtmond” angesiedelt und dabei die Galerie nordischer Kommissare um Kimmo Joentaa bereichert, der nunmehr seinen zweiten Fall absolviert. Wen wundert es, dass dieser Joentaa ein Schweiger ist? Schließlich ist unser knappes Wissen von Finnland um die Annahme gruppiert, dass Finnen so ausgiebig schweigen wie trinken können, dass sie zu fortgeschrittener Stunde Tango tanzen oder Wittgensteins Sprachphilosophie gesungen darbieten, und dass sie ansonsten gern in die Sauna gehen und angelnd am See sitzen. Kimmo Joentaa ist also ein Schweiger, und außerdem ein Phlegmatiker, und seitdem seine Frau an Krebs gestorben ist, macht ihm die Einsamkeit zu schaffen. Nicht dass er darum Worte machen würde, er macht um gar nichts viele Worte, auch nicht um den Kriminalfall, der seinen lang gedienten Kollegen Ketola ausgerechnet am Tage seiner Verabschiedung in Beschlag nimmt. Ein junges Mädchen ist verschwunden, was in Turku so selten vorkommt, dass die Nachricht sogleich in die Abendnachrichten gelangt – und dass der Fall den alten Polizisten an eine 33 Jahre zurückliegende Geschichte erinnert, die bis heute unaufgeklärt geblieben ist.
Der Prolog des Romans rollt das Geschehen von damals wieder auf. Zwei Männer mit pädophilen Neigungen hatten ein Mädchen vergewaltigt und ermordet. Den alten Ketola hat der Fall nie losgelassen, und so kommt es, dass er das damals von der Polizei gebastelte Plastikmodell vom Tatort als Requisit mit in den Ruhestand nimmt. Das Déjà-vu am letzten Arbeitstag hat zur Folge, dass Ketola, nun schon als Privatier, die Ermittlung fortsetzen und dem diensthabenden Kollegen Joentaa ziemlich in die Quere kommen wird. Ein paar Kilometer entfernt, im Abendidyll am finnischen See, beschleicht den Familienvater Timo Korvensuo, ein Gefühl der Unruhe. Das Fernsehen zeigt ein Fahrrad neben einem Kreuz auf einem Feld, den Tatort von 1974. „Korvensuo nickte vor sich hin und konzentrierte sich auf das Lachen der Kinder, die unten am Steg ein Kartenspiel spielten. Das Flimmern vor seinen Augen war schwächer geworden, dafür rieselte jetzt wieder, ganz leicht, aber stetig, Sand durch seinen Körper.” Von jetzt an wird sich Timo Korvensuo sehr sonderbar benehmen, fast so, als wolle er mit Macht die Polizei auf seine Spur lenken oder als wolle er endlich seinen Seelenfrieden finden. Die Polizei hat indessen jemand anderen im Visier, Pärssinen, der heute als jovialer Hausmeister die Gärten seiner Mieter pflegt und seine dunklen Gelüste sorgsam von der Umwelt abschirmt. Am Ende des Romans ist einer der beiden Täter von damals tot, der andere dagegen geht gut gelaunt seiner Wege – kein Ende, das den Leser moralisch zufriedenstellt.
Alles über den Fernseher
Wieder ganz in der Nähe, in einem hellgrünen Haus, fürchten Ruth und Kalevi Vehkasalo, dass ihre Tochter Sinikka einem ähnlichen Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Hat der Mörder von damals wieder zugeschlagen – nach 33 Jahren eine kühne Hypothese –, oder ist womöglich ein Nachahmungstäter am Werk? Ein merkwürdiges Polizistenduo macht sich an die Arbeit: der eine frisch pensioniert und plötzlich mit der Chance konfrontiert, den Kriminalfall seines Lebens zu lösen, der andere wortkarg und lethargisch wie immer, und obendrein in Gedanken die ganze Zeit bei seiner verstorbenen Frau. Während Joentaa nur fallweise aus seiner Art Teilnahmslosigkeit erwacht, hat sich der Kollege Ketola den großen Auftritt erwählt. Mit Elina Lehtinen, der Mutter der damals ermordeten Pia, tritt er in einer TV-Talkshow auf und verspricht, den oder die Mörder zur Strecke zu bringen – und weil es in Finnland bis heute offenbar nur ein Fernsehprogramm gibt (dass Täter und Zeugen übers Fernsehen auf dem Laufenden gehalten werden, scheint bis heute eine dramaturgisch unentbehrliche Bedingung des Kriminalgenres), schauen und hören alle mit.
Eigentlich ist es Ketola, der Joentaa in diesem Roman die Schau stiehlt, sodass von einem Joentaa-Roman füglich nicht gesprochen werden kann, von einem Ketola-Roman freilich auch nicht, denn der Roman ist nicht wirklich um die Aufklärung des Falles zentriert. Vielmehr wird hier wenig aufgeklärt, sondern es geht der eine Täter straffrei aus, während sich der andere nach einem bizarren Wiedereintritt in die eigene Vergangenheit selbst richtet. Und was ist mit der Verschollenen, mit Sinikka Vehkasalo? Sie sitzt eines Abends bei Ketola auf der Terrasse, als wäre nichts gewesen. Und Ketola, der Mann mit dem Modell, hat offenbar schon die ganze Zeit Schicksal gespielt, damit die Polizei endlich seinen Lebensfall, den Mord an Pia Lehtinen, aufklärt. Eine Rechnung, die voll aufgegangen ist. Und die mit der Sorge der Angehörigen und auch der des mitfühlenden Lesers ein ziemlich übles Spiel treibt. Ein ziemlich hinterlistiges Spiel haben sich der Veteran Ketola und sein Erfinder Jan Costin Wagner da ausgedacht. Gut nur, dass die Arglist, kriminalistisch wie literarisch, einer guten Sache dient.CHRISTOPH BARTMANN
JAN COSTIN WAGNER: Das Schweigen. Roman. Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2007. 286 Seiten, 19,95 Euro.
Wo lauert das Böse, wenn das Sonnenlicht flimmert? Foto: picture-alliance/dpa
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Es geht nicht um Aufklärung, ist aber trotzdem spannend: Jan Costin Wagners Kriminalroman „Das Schweigen”
Jan Costin Wagner hat seine Magisterarbeit über Adalbert Stifter geschrieben, und das ist für einen Kriminalschriftsteller nicht die schlechteste Schule. Wo sich auf der Außenhaut der Wirklichkeit die Dinge nur leicht kräuseln, wenn im Inneren sich schon Abgründe auftun, wo das Drama zwischen den Zeilen schläft, statt Oberflächenspannung freizusetzen, da gibt es für Spannungsautoren etwas abzuschauen. Wagner jedenfalls hat in seinen nunmehr vier Romanen einen Ton entwickelt, den man in Anlehnung an Stifters „Bergkristall” als kristallin bezeichnen kann. Hier wird nicht Spannung „erzeugt”, sie ist immer schon da. Hier wird nichts erklärt und auch nur das Notwendige erzählt. So schlackenlos, reduziert und in seiner Effektarmut zuletzt effektvoll geht Wagner in seinem jüngsten Roman zu Werke, dass man glaubt, es gebe für den hier verhandelten Fall keine bessere Sprachform als diese.
Zur Schweigsamkeit seines Stils (die ihn nicht unbedingt mit Stifter verbindet) passt es, dass der Roman in Finnland spielt. In Finnland, seiner zweiten Heimat, hatte Wagner bereits den Roman „Nachtmond” angesiedelt und dabei die Galerie nordischer Kommissare um Kimmo Joentaa bereichert, der nunmehr seinen zweiten Fall absolviert. Wen wundert es, dass dieser Joentaa ein Schweiger ist? Schließlich ist unser knappes Wissen von Finnland um die Annahme gruppiert, dass Finnen so ausgiebig schweigen wie trinken können, dass sie zu fortgeschrittener Stunde Tango tanzen oder Wittgensteins Sprachphilosophie gesungen darbieten, und dass sie ansonsten gern in die Sauna gehen und angelnd am See sitzen. Kimmo Joentaa ist also ein Schweiger, und außerdem ein Phlegmatiker, und seitdem seine Frau an Krebs gestorben ist, macht ihm die Einsamkeit zu schaffen. Nicht dass er darum Worte machen würde, er macht um gar nichts viele Worte, auch nicht um den Kriminalfall, der seinen lang gedienten Kollegen Ketola ausgerechnet am Tage seiner Verabschiedung in Beschlag nimmt. Ein junges Mädchen ist verschwunden, was in Turku so selten vorkommt, dass die Nachricht sogleich in die Abendnachrichten gelangt – und dass der Fall den alten Polizisten an eine 33 Jahre zurückliegende Geschichte erinnert, die bis heute unaufgeklärt geblieben ist.
Der Prolog des Romans rollt das Geschehen von damals wieder auf. Zwei Männer mit pädophilen Neigungen hatten ein Mädchen vergewaltigt und ermordet. Den alten Ketola hat der Fall nie losgelassen, und so kommt es, dass er das damals von der Polizei gebastelte Plastikmodell vom Tatort als Requisit mit in den Ruhestand nimmt. Das Déjà-vu am letzten Arbeitstag hat zur Folge, dass Ketola, nun schon als Privatier, die Ermittlung fortsetzen und dem diensthabenden Kollegen Joentaa ziemlich in die Quere kommen wird. Ein paar Kilometer entfernt, im Abendidyll am finnischen See, beschleicht den Familienvater Timo Korvensuo, ein Gefühl der Unruhe. Das Fernsehen zeigt ein Fahrrad neben einem Kreuz auf einem Feld, den Tatort von 1974. „Korvensuo nickte vor sich hin und konzentrierte sich auf das Lachen der Kinder, die unten am Steg ein Kartenspiel spielten. Das Flimmern vor seinen Augen war schwächer geworden, dafür rieselte jetzt wieder, ganz leicht, aber stetig, Sand durch seinen Körper.” Von jetzt an wird sich Timo Korvensuo sehr sonderbar benehmen, fast so, als wolle er mit Macht die Polizei auf seine Spur lenken oder als wolle er endlich seinen Seelenfrieden finden. Die Polizei hat indessen jemand anderen im Visier, Pärssinen, der heute als jovialer Hausmeister die Gärten seiner Mieter pflegt und seine dunklen Gelüste sorgsam von der Umwelt abschirmt. Am Ende des Romans ist einer der beiden Täter von damals tot, der andere dagegen geht gut gelaunt seiner Wege – kein Ende, das den Leser moralisch zufriedenstellt.
Alles über den Fernseher
Wieder ganz in der Nähe, in einem hellgrünen Haus, fürchten Ruth und Kalevi Vehkasalo, dass ihre Tochter Sinikka einem ähnlichen Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Hat der Mörder von damals wieder zugeschlagen – nach 33 Jahren eine kühne Hypothese –, oder ist womöglich ein Nachahmungstäter am Werk? Ein merkwürdiges Polizistenduo macht sich an die Arbeit: der eine frisch pensioniert und plötzlich mit der Chance konfrontiert, den Kriminalfall seines Lebens zu lösen, der andere wortkarg und lethargisch wie immer, und obendrein in Gedanken die ganze Zeit bei seiner verstorbenen Frau. Während Joentaa nur fallweise aus seiner Art Teilnahmslosigkeit erwacht, hat sich der Kollege Ketola den großen Auftritt erwählt. Mit Elina Lehtinen, der Mutter der damals ermordeten Pia, tritt er in einer TV-Talkshow auf und verspricht, den oder die Mörder zur Strecke zu bringen – und weil es in Finnland bis heute offenbar nur ein Fernsehprogramm gibt (dass Täter und Zeugen übers Fernsehen auf dem Laufenden gehalten werden, scheint bis heute eine dramaturgisch unentbehrliche Bedingung des Kriminalgenres), schauen und hören alle mit.
Eigentlich ist es Ketola, der Joentaa in diesem Roman die Schau stiehlt, sodass von einem Joentaa-Roman füglich nicht gesprochen werden kann, von einem Ketola-Roman freilich auch nicht, denn der Roman ist nicht wirklich um die Aufklärung des Falles zentriert. Vielmehr wird hier wenig aufgeklärt, sondern es geht der eine Täter straffrei aus, während sich der andere nach einem bizarren Wiedereintritt in die eigene Vergangenheit selbst richtet. Und was ist mit der Verschollenen, mit Sinikka Vehkasalo? Sie sitzt eines Abends bei Ketola auf der Terrasse, als wäre nichts gewesen. Und Ketola, der Mann mit dem Modell, hat offenbar schon die ganze Zeit Schicksal gespielt, damit die Polizei endlich seinen Lebensfall, den Mord an Pia Lehtinen, aufklärt. Eine Rechnung, die voll aufgegangen ist. Und die mit der Sorge der Angehörigen und auch der des mitfühlenden Lesers ein ziemlich übles Spiel treibt. Ein ziemlich hinterlistiges Spiel haben sich der Veteran Ketola und sein Erfinder Jan Costin Wagner da ausgedacht. Gut nur, dass die Arglist, kriminalistisch wie literarisch, einer guten Sache dient.CHRISTOPH BARTMANN
JAN COSTIN WAGNER: Das Schweigen. Roman. Eichborn Berlin Verlag, Berlin 2007. 286 Seiten, 19,95 Euro.
Wo lauert das Böse, wenn das Sonnenlicht flimmert? Foto: picture-alliance/dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Christoph Bartmann hat seine Freude an diesem ausgesprochen abgründigen Kriminalroman, bei dem er die Auflösung des Verbrechens eher nebensächlich findet. Besonders die Sprache, die Autor Jan Costin Wagner für seine Erzählung gefunden hat, hat es Bartmann angetan: "so schlackenlos, reduziert und in seiner Effektarmut zuletzt effektvoll". Er nennt diesen Erzählstil "kristallin". Dass man bei dieser Geschichte, anders als sonst bei Costin, eigentlich kaum von einem Joentaa-Roman sprechen kann - die interessantere Rolle spielt diesmal sein gerade pensionierter Kollege Ketola - stört auch nicht, denn diese Geschichte ist in den Augen des Rezensenten einfach rund.
© Perlentaucher Medien GmbH
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