Einen erschütternden Bericht über die Willkür eines totalitären und menschenverachtenden Regimes lieferte der in der Mark Brandenburg aufgewachsene Autor Dietrich Garstka (1939-2018) mit seinem 2006 erstmals veröffentlichten und seitdem mehrfach neu aufgelegten Buch „Das schweigende Klassenzimmer“.
Zur Uraufführung des gleichnamigen Films auf der diesjährigen Berlinale erschien im Februar eine…mehrEinen erschütternden Bericht über die Willkür eines totalitären und menschenverachtenden Regimes lieferte der in der Mark Brandenburg aufgewachsene Autor Dietrich Garstka (1939-2018) mit seinem 2006 erstmals veröffentlichten und seitdem mehrfach neu aufgelegten Buch „Das schweigende Klassenzimmer“. Zur Uraufführung des gleichnamigen Films auf der diesjährigen Berlinale erschien im Februar eine aktuelle Taschenbuch-Neuausgabe beim Ullstein-Verlag.
Garstka berichtet in seiner sorgfältig recherchierten Dokumentation aus eigenem Erleben, der Sichtung amtlicher Unterlagen und den Erinnerungen vieler Beteiligter in der Nach-Wende-Zeit über die Erlebnisse einer Abiturklasse, der er selbst als Schüler angehörte, im November 1956 im märkischen Storkow.
Auf die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes reagierten die angehenden Abiturienten damals zu Beginn einer Unterrichtsstunde spontan mit einer Schweigeminute. Die für diesen DDR-Bezirk zuständigen Parteifunktionäre suchten deren Rädelsführer vergeblich. Sogar der DDR-Bildungsminister schaltete sich ein, um die Verantwortlichen zu ermitteln, und machte den Vorgang zu seiner persönlichen Angelegenheit. Doch trotz aller Drohungen und Erpressungen hielten Schüler und Eltern zusammen. Sogar die Drohung, das Gymnasium verlassen zu müssen und auf keinem DDR-Gymnasium das Abitur machen zu dürfen, damit sich den beruflichen Lebensweg zu verbauen, schüchterte die Schüler nicht ein, sondern schweißte die Abiturienten sogar noch enger zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen.
Bald kam der Plan zur Flucht nach West-Berlin auf, was damals - zur Zeit vor dem Mauerbau - noch mit dem Übergang von Ost- nach West-Berlin am Bahnhof Friedrichstraße vergleichsweise leicht möglich war. Das gegenseitige Vertrauen unter den Schülern und deren Eltern war so stark, dass sogar Mitschülerinnen, die die DDR nicht verlassen wollten, die Fluchtpläne ihrer Klassenkameraden trotz möglicher Repressalien geheim hielten. Nachdem allen 16 fluchtwilligen Abiturienten der Übergang nach West-Berlin und anschließend in die Bundesrepublik gelungen war, machten sie als Klassengemeinschaft im Westen ihr Abitur.
Der Autor Dietrich Garstka, der zu den Wortführern der Gruppe gehörte und als Erster geflohen war, gibt in seiner Dokumentation einen eindrucksvollen Bericht über den Alltag und das Zusammenleben in der DDR zur Zeit des Kalten Krieges, als Partei und Staatssicherheit meinten, den noch jungen Sozialismus gegen die Gefährdungen des westlichen Kapitalismus verteidigen und in allen Kritikern nur Staatsfeinde erkennen zu müssen. Garstka schildert die Dramatik der Geschehnisse in ihren Einzelheiten sowohl durch Wiedergabe offizieller Protokolle als auch durch Erlebnisberichte der Schüler, ihrer Eltern und der damaligen Lehrer. Es ist ein dramatischer Bericht über die Wirklichkeit der DDR-Diktatur in jenen Jahren, die nicht mit dem Jahrzehnt vor der Wende vergleichbar ist.
Gerade deshalb ist diese authentische Dokumentation ehemals junger Menschen, die sowohl die DDR in ihren Anfängen als auch später als Erwachsene die Bundesrepublik kannten, eine spannende, beklemmende und informative Lektüre nicht nur für Erwachsene. Dieses Buch ist vor allem Heranwachsenden zu empfehlen, die nur die Jahre nach der Wiedervereinigung kennen und für die die DDR nur Geschichte ist. Aus dieser Lektüre erfährt man vieles hautnah über die Willkür der DDR und vergleichbarer totalitärer Systeme.
In heutiger Zeit kommt die Neuauflage dieses Buches gerade recht: Auch wenn unsere Demokratie gelegentlich fehlerhaft sein oder Schwächen aufzeigen mag, lehrt uns dieses Buch doch immerhin, dass es lohnt, unsere demokratischen Freiheiten zu schätzen, was den Abiturienten von Storkow damals und den DDR-Bürgern in späteren Jahrzehnten niemals vergönnt war und von ihnen - damals wie 1989 - nur unter Repressalien und Entbehrungen, unter Verzicht auf Familie und Heimat erkämpft werden musste.