Es ist nicht möglich, Leben und Werk Erich Mühsams zu trennen. Er war Bohemien, Dichter, Anarchist, Humorist, politischer Publizist, Dramatiker, bisexueller Erotomane, Revolutionär, selbst in größter Not unbeirrbarer Menschenfreund und schließlich eines der ersten prominenten Opfer der Nazis. 1933 wurde er noch in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet und nach monatelanger Folter im KZ Oranienburg ermordet. Aufgabe dieses Lesebuchs soll es sein, Mühsams lebenslangen Kampf 'für Gerechtigkeit und Kultur' mit Texten aus seinem reichhaltigen Werk nachzuerzählen, die bis heute nichts an ihrer politischen Aktualität verloren haben. Neben einigen Mühsam-Klassikern enthält diese Sammlung auch bislang unveröffentlichte Gedichte, Auszüge aus längeren Werken, ausgewählte Briefe und die Beschreibung seiner letzten Tage aus der Feder seiner Frau Zenzl.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Erich Mühsam war der wohl "beredteste und lebendigste der deutschen Anarchisten", ein schreibwütiger Schriftsteller, "Gefangener dreier Regimes" - und damit beim Verbrecher-Verlag wohl gut aufgehoben, wie Burkhard Müller einschiebt - und wurde schließlich Opfer der nationalsozialistischen Konzentrationslager, fasst der Rezensent zusammen. Mit Realpolitik wollte Mühsam nichts zu tun haben, denn die hieße, "das Dach flicken, wo der Unterbau morsch ist", er befand, das "Schlechte nicht ändern können, heißt das Gute nicht ernsthaft wollen", zitiert Müller. Jetzt gibt es im Lesebuch "Das seid ihr Hunde wert!" diesen Autor und Menschen wiederzuentdecken, und der Rezensent legt die Lektüre allen, aber vor allem jenen ans Herz, die vergessen haben, dass es damals auch eine linke Alternative zum Staatskommunismus gab.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.07.2014Wer aufwärts will
Nach 80 Jahren: Ein Lesebuch
zum Werk von Erich Mühsam
Erich Mühsam: Das ist der Mann, der im Handstreich die achthundert Jahre alte Wittelsbacher-Dynastie aus Bayern hinwegfegte, der dafür fünf Jahre in den Gefängnissen der Weimarer Republik saß und der schließlich von den Faschisten, die ihn aus tiefster Seele hassten, im KZ bestialisch umgebracht wurde. Das war vor achtzig Jahren, am 10. Juli 1934.
Erich Mühsam ist der bedeutendste, jedenfalls der beredteste und lebendigste der deutschen Anarchisten, und sein Dasein schillerte in vielen Farben. Bohémien war er, der sich sein Abendessen zusammenbettelte, und politischer Agitator, der binnen Minuten eine Volksversammlung zur Tat begeisterte, Prophet der freien Liebe und treuer Ehemann seiner Zenzl, ein Münchner und Kosmopolit. Er reite wie ein Zirkusartist stehend auf zwei Gäulen zugleich, hatte sein Freund Frank Wedekind ihm bescheinigt; aber diese Gäule strebten nach verschiedenen Richtungen und würden ihn am Ende zerreißen. Worauf Mühsam erwiderte: „Wenn ich einen laufen lasse, verliere ich die Balance und breche mir das Genick.“
Mühsam hat sein ganzes Leben wie ein Wahnsinniger geschrieben, Zeitschriften, die er ganz allein herausgab, Artikel verteilt über tausend Publikationsorte, wie er sie kriegen konnte. Das alles ist zerstoben wie die tagespolitischen Konstellationen, denen er sich nie entzog. Der Verbrecher-Verlag, der seinem Namen hier wirklich alle Ehre macht, indem er sich des Gefangenen dreier Regimes annimmt, hat schon viel für Mühsam getan, indem er eine 15-bändige Edition der Tagebücher in Angriff genommen und auch bereits rund zur Hälfte fertiggestellt hat.
Jetzt legt der Verlag ein Mühsam-Lesebuch vor: eine Entscheidung, für die man sehr dankbar ist, macht sie es doch möglich, den Menschen und Autor (diese beiden Dinge lassen sich bei Mühsam gar nicht voneinander trennen) in ebenso handlicher wie umfassender Form kennen zu lernen. Selbst wer keine besonderen Sympathien für ihn hegt (es gibt immer noch Leute, die ihm verübeln, dass es einige Wochen lang so etwas wie ein „Sowjetbayern“ gab), wird doch kaum eine farbigere Quelle finden: für das, was Schwabing einmal war, ehe es zur bloßen Immobilie mutierte; wie es im turbulenten Jahr 1919 zuging; und nicht zuletzt, wie die Nazis, lang ehe sie zum systematischen Völkermord griffen, mit einem umgingen, dem sie persönlich grollten.
Vor allem aber rufen Person und Werk Erichs Mühsams, wie sie hier Gestalt gewinnen, das so ziemlich verschollene Faktum ins Gedächtnis, dass die revolutionäre Linke einst zwiegespalten war: dass es neben den Kommunisten, wie sie in Russland siegten und alsbald den Staat schrecklicher denn je wiederaufleben ließen, auch eine Alternative gab. Mühsam misstraute der trockenen Theorie, doch ebenso einer Pragmatik, die immerzu die Notwendigkeit bewies, dass auch in der erlösten Welt wieder Menschen über Menschen herrschen müssten, wie von alters her. Freiheit begriff er als unmittelbare Forderung, von keiner historischen Dialektik auf die lange Bank zu schieben, immer zur Hand, wenn man sie nur ausstrecken wollte.
Mitten im Ersten Weltkrieg, als die normative Kraft des Faktischen noch weit stärker war, als man es uns in unseren vergleichsweise entspannten Zuständen weismachen will, schrieb Mühsam das Folgende: „Das Schlechte nicht ändern können, heißt das Gute nicht ernsthaft wollen. (. . .) Ich lege den stärksten Wert darauf, Utopist zu sein. Denn das heißt, Zielen nachstreben, die im Gegenwärtigen noch keine Wurzeln haben, heißt also, Wurzeln legen für etwas anderes, Höheres, Besseres, als wir haben. Ich bin kein ‚Realpolitiker‘, will keiner sein und rede nicht zu solchen, die es sind. Realpolitik treiben, heißt, an Bestehendes anbauen, heißt, Verzicht leisten auf Abbruch und Erneuerung, heißt, das Dach flicken, wo der Unterbau morsch ist. (. . .) Sicher ist, dass die künftige Gesellschaft anders aussehen wird, als ich sie mir träume, oder doch, dass noch viele Revolutionen nötig sein werden, bis sie nach meinem Bilde dastehen wird. Aber wer aufwärts will, trachte nach dem Gipfel.“
Mühsam ist jetzt achtzig Jahre tot. Doch wenn es zu einer ernsthaften Krise der bestehenden Verhältnisse kommen sollte, könnte er sehr plötzlich wieder auferstehen. Darum als Empfehlung schon jetzt: Lest Mühsam!
BURKHARD MÜLLER
Erich Mühsam: Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch. Hrsg. von Markus Liske und Manja Präkels. Verbrecher Verlag, Berlin 2014, 352 Seiten, 16 Euro.
„Realpolitik treiben,
heißt Verzicht leisten . . .“
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Nach 80 Jahren: Ein Lesebuch
zum Werk von Erich Mühsam
Erich Mühsam: Das ist der Mann, der im Handstreich die achthundert Jahre alte Wittelsbacher-Dynastie aus Bayern hinwegfegte, der dafür fünf Jahre in den Gefängnissen der Weimarer Republik saß und der schließlich von den Faschisten, die ihn aus tiefster Seele hassten, im KZ bestialisch umgebracht wurde. Das war vor achtzig Jahren, am 10. Juli 1934.
Erich Mühsam ist der bedeutendste, jedenfalls der beredteste und lebendigste der deutschen Anarchisten, und sein Dasein schillerte in vielen Farben. Bohémien war er, der sich sein Abendessen zusammenbettelte, und politischer Agitator, der binnen Minuten eine Volksversammlung zur Tat begeisterte, Prophet der freien Liebe und treuer Ehemann seiner Zenzl, ein Münchner und Kosmopolit. Er reite wie ein Zirkusartist stehend auf zwei Gäulen zugleich, hatte sein Freund Frank Wedekind ihm bescheinigt; aber diese Gäule strebten nach verschiedenen Richtungen und würden ihn am Ende zerreißen. Worauf Mühsam erwiderte: „Wenn ich einen laufen lasse, verliere ich die Balance und breche mir das Genick.“
Mühsam hat sein ganzes Leben wie ein Wahnsinniger geschrieben, Zeitschriften, die er ganz allein herausgab, Artikel verteilt über tausend Publikationsorte, wie er sie kriegen konnte. Das alles ist zerstoben wie die tagespolitischen Konstellationen, denen er sich nie entzog. Der Verbrecher-Verlag, der seinem Namen hier wirklich alle Ehre macht, indem er sich des Gefangenen dreier Regimes annimmt, hat schon viel für Mühsam getan, indem er eine 15-bändige Edition der Tagebücher in Angriff genommen und auch bereits rund zur Hälfte fertiggestellt hat.
Jetzt legt der Verlag ein Mühsam-Lesebuch vor: eine Entscheidung, für die man sehr dankbar ist, macht sie es doch möglich, den Menschen und Autor (diese beiden Dinge lassen sich bei Mühsam gar nicht voneinander trennen) in ebenso handlicher wie umfassender Form kennen zu lernen. Selbst wer keine besonderen Sympathien für ihn hegt (es gibt immer noch Leute, die ihm verübeln, dass es einige Wochen lang so etwas wie ein „Sowjetbayern“ gab), wird doch kaum eine farbigere Quelle finden: für das, was Schwabing einmal war, ehe es zur bloßen Immobilie mutierte; wie es im turbulenten Jahr 1919 zuging; und nicht zuletzt, wie die Nazis, lang ehe sie zum systematischen Völkermord griffen, mit einem umgingen, dem sie persönlich grollten.
Vor allem aber rufen Person und Werk Erichs Mühsams, wie sie hier Gestalt gewinnen, das so ziemlich verschollene Faktum ins Gedächtnis, dass die revolutionäre Linke einst zwiegespalten war: dass es neben den Kommunisten, wie sie in Russland siegten und alsbald den Staat schrecklicher denn je wiederaufleben ließen, auch eine Alternative gab. Mühsam misstraute der trockenen Theorie, doch ebenso einer Pragmatik, die immerzu die Notwendigkeit bewies, dass auch in der erlösten Welt wieder Menschen über Menschen herrschen müssten, wie von alters her. Freiheit begriff er als unmittelbare Forderung, von keiner historischen Dialektik auf die lange Bank zu schieben, immer zur Hand, wenn man sie nur ausstrecken wollte.
Mitten im Ersten Weltkrieg, als die normative Kraft des Faktischen noch weit stärker war, als man es uns in unseren vergleichsweise entspannten Zuständen weismachen will, schrieb Mühsam das Folgende: „Das Schlechte nicht ändern können, heißt das Gute nicht ernsthaft wollen. (. . .) Ich lege den stärksten Wert darauf, Utopist zu sein. Denn das heißt, Zielen nachstreben, die im Gegenwärtigen noch keine Wurzeln haben, heißt also, Wurzeln legen für etwas anderes, Höheres, Besseres, als wir haben. Ich bin kein ‚Realpolitiker‘, will keiner sein und rede nicht zu solchen, die es sind. Realpolitik treiben, heißt, an Bestehendes anbauen, heißt, Verzicht leisten auf Abbruch und Erneuerung, heißt, das Dach flicken, wo der Unterbau morsch ist. (. . .) Sicher ist, dass die künftige Gesellschaft anders aussehen wird, als ich sie mir träume, oder doch, dass noch viele Revolutionen nötig sein werden, bis sie nach meinem Bilde dastehen wird. Aber wer aufwärts will, trachte nach dem Gipfel.“
Mühsam ist jetzt achtzig Jahre tot. Doch wenn es zu einer ernsthaften Krise der bestehenden Verhältnisse kommen sollte, könnte er sehr plötzlich wieder auferstehen. Darum als Empfehlung schon jetzt: Lest Mühsam!
BURKHARD MÜLLER
Erich Mühsam: Das seid ihr Hunde wert! Ein Lesebuch. Hrsg. von Markus Liske und Manja Präkels. Verbrecher Verlag, Berlin 2014, 352 Seiten, 16 Euro.
„Realpolitik treiben,
heißt Verzicht leisten . . .“
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