Die Idee eines Selbstbestimmungsrechts der Völker besagt, dass Völker das Recht haben, einen Staat zu bilden, und selbst darüber entscheiden können, ob sie dieses Recht wahrnehmen oder nicht. Die erste Gesamtdarstellung seiner Geschichte zeigt, wie es den Totengräber für die europäischen Kolonialreiche und andere Imperien gespielt hat und seit 1989 auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern ist.
Entstanden aus dem Nationalismus und dem Antikolonialismus, erhebt das Selbstbestimmungsrecht der Völker den Anspruch, die internationalen Beziehungen auf eine herrschaftsfreie Grundlage zu stellen. Sprengstoff beinhaltet vor allem das damit verbundene Sezessionsrecht. Denn wer bestimmt, was ein Volk ist? Die Idee kollidiert hier schnell mit den machtpolitischen Realitäten und erweist sich als eine gefährliche, zum Missbrauch geradezu einladende Illusion, mit deren Domestizierung das Völkerrecht bis heute beschäftigt ist. Denn nicht nur Adolf Hitler verstand es meisterhaft, das Konzept für seine Zwecke zu instrumentalisieren. In einer souveränen Kombination von Begriffs-, Politik- und Kulturgeschichte durchmisst Jörg Fisch die Weltgeschichte und liefert eine anschaulich und prägnant geschriebene Darstellung dieser vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart äußerst wirkmächtigen Idee.
Entstanden aus dem Nationalismus und dem Antikolonialismus, erhebt das Selbstbestimmungsrecht der Völker den Anspruch, die internationalen Beziehungen auf eine herrschaftsfreie Grundlage zu stellen. Sprengstoff beinhaltet vor allem das damit verbundene Sezessionsrecht. Denn wer bestimmt, was ein Volk ist? Die Idee kollidiert hier schnell mit den machtpolitischen Realitäten und erweist sich als eine gefährliche, zum Missbrauch geradezu einladende Illusion, mit deren Domestizierung das Völkerrecht bis heute beschäftigt ist. Denn nicht nur Adolf Hitler verstand es meisterhaft, das Konzept für seine Zwecke zu instrumentalisieren. In einer souveränen Kombination von Begriffs-, Politik- und Kulturgeschichte durchmisst Jörg Fisch die Weltgeschichte und liefert eine anschaulich und prägnant geschriebene Darstellung dieser vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart äußerst wirkmächtigen Idee.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.03.2011Grenzen der Sezession
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist für den Historiker Jörg Fisch „ein Versprechen, das nicht eingelöst werden kann“
Dass es sich bei der Ausformung des Selbstbestimmungsrechts um eine der wichtigsten Entwicklungen im Völkerrecht der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts handelte, betonte der Internationale Gerichtshof im vergangenen Juli in seinem Rechtsgutachten zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. Was aber genau dieses Selbstbestimmungsrecht verbürgt, ob es einen Bevölkerungsteil in einem bestehenden Staat zur Sezession berechtigt – dazu wollten sich die Richter im Haager Friedenspalast nicht näher äußern. Schließlich seien sie von der Generalversammlung der Vereinten Nationen nur um eine Feststellung gebeten worden, ob der Akt der Unabhängigkeitserklärung als solcher das Völkerrecht verletzt habe.
Bruno Simma, der deutsche Richter am Haager Weltgericht, zeigte sich in einer dem Urteil beigefügten Erklärung unzufrieden mit der „unnötig engen und möglicherweise irreführenden“ Analyse des Gerichts. Bei einer weniger restriktiven Auslegung der vorgelegten Ausgangsfrage hätte das Gericht zu einer intellektuell befriedigenderen Entscheidung kommen können, mit größerer Relevanz für die Debatte um die Völkerrechtsordnung. Mit einem solchen Vorgehen hätte, so Simma, das Gericht Gespür für die „gegenwärtige Architektur des internationalen Rechts“ bewiesen. Stattdessen aber habe man sich eine „anachronistische, extrem konsensualistische Sicht des Völkerrechts“ zu Eigen gemacht. Der Gerichtshof hatte die Fiktion einer ausschließlich vom Willen souveräner Nationalstaaten geprägten Völkerrechtsordnung aufrechterhalten. Das heißt: Individuelle Akteure, deren Rechte, Freiheiten und autonome Selbstbestimmung, spielten für die Mehrheit der Richter keine entscheidungserhebliche Rolle. Die hoch umstrittene Frage nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit einer Sezession als ultima ratio zur Verwirklichung demokratischer Selbstregierung, blieb außen vor.
Den Zürcher Historiker Jörg Fisch dürfte das nicht verwundert haben. In seiner Studie zur Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker beschreibt er die „paradoxe Situation“ des aus seiner Sicht so illusionären wie riskanten Rechtstitels in der Gegenwart: „Seit der Kodifizierung besteht ein unbestrittenes und uneingeschränktes Recht aller Völker auf Selbstbestimmung im Sinne souveräner Staatlichkeit – ein Recht, das jedes Volk, letztlich sogar jedes Kollektiv, das sich selber als Volk versteht, für sich beanspruchen kann. Auf der anderen Seite hat sich im Verlauf von über zweihundert Jahren für die Praxis eine sehr viel restriktivere Auffassung eines Selbstbestimmungsrechts herausgebildet, das auf den einmaligen Akt der Entkolonisierung im Rahmen eines durch das uti possidetis vorgegebenen Territoriums beschränkt ist, abgesichert beziehungsweise eingeengt noch durch ein rigoroses Sezessionsverbot, das lediglich in Fällen der Entkolonisierung nicht gilt.“
Ein „Versprechen, das nicht eingelöst werden kann“ enthält für Fisch die Selbstbestimmungsformel – und ist damit schon in der Einleitung seines Buches diskreditiert. Die Begriffsanalyse, mit der der Koselleck-Schüler im ersten Teil der „Natur der Selbstbestimmung“ auf die Schliche kommen will, erweist sich als blutleer und wenig ergiebig. Wenig tiefenscharf wird hier ein Thema skizziert, zu dem die politische Theorie in der postnationalen Konstellation viel zu sagen hat. Zudem: Was Selbstbestimmung ist, wer ihr Träger sein kann, was ihre Voraussetzungen sind – das lässt sich auch bei einer exemplarischen Herangehensweise nur in einer historisch-theoretischen Gesamtschau ermitteln. Und die sollte sich auch um jenen komplizierten Fall nicht drücken, den Fisch als „atypisch“ zur Seite legt: den Nahen Osten.
Seine auf den ersten Blick bestechend klare, trennscharfe „Theorie der Selbstbestimmung“ vermag darum als abstrakter Vorspann nicht recht zu überzeugen – ganz im Unterschied zur im zweiten Teil behandelten „Praxis der Selbstbestimmung“, die einen kenntnisreichen Überblick über die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker bietet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr es mit der Aufnahme in die Charta der Vereinten Nationen und die beiden internationalen Menschenrechtspakte von 1966 eine Verrechtlichung und entfaltete in der Phase der Dekolonialisierung erhebliche Wirkungsmacht. Die Grenzen, die die Staatengemeinschaft dem Selbstbestimmungsrecht zog, hatten sich indes – wie Fisch überzeugend nachweist – bereits im ersten Entkolonisierungsprozess herausgebildet, im 19. Jahrhundert in Amerika. Das erste Instrument der Beschränkung, die Festschreibung bestehender (Verwaltungs-)Grenzen als neue Staatsgrenzen nach dem Prinzip des „uti possidetis“, hat sich bis heute durchgesetzt. Die ursprüngliche Beschränkung der Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts auf Konstellationen der Dekolonialisierung wurde indes nach dem Ende des Kalten Krieges in der Staatenpraxis aufgegeben, und das Fortbestehen eines ausnahmslosen völkerrechtlichen Sezessionsverbotes kann seit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawien und der Sowjetunion zumindest als umstritten gelten.
Was die Selbstbestimmung dem Autor suspekt macht, sind die Machtspiele, die ihre Verrechtlichung evoziert. Fisch zeigt, wie US-Präsident Woodrow Wilson nach dem Ersten Weltkrieg die von Lenin geprägte Formel vom Selbstbestimmungsrecht als Propagandaformel ins Arsenal der Sieger aufnimmt. Schnell entpuppte es sich dort als Instrument der Schwachen, das eine wirkmächtige Begründung für die Schwächung der Sieger liefert. Dass es sich in der Hand mächtiger oder wiedererstarkter Verlierer als scharfe Waffe erwies, zeigt Fisch am Beispiel Deutschlands in der Zwischenkriegszeit. Gerade weil er nicht an das Selbstbestimmungsrecht der Völker glaubte, habe Hitler virtuos auf dem Instrument des Revisionismus zu spielen vermocht. „In der entscheidenden Phase der Jahre 1935-1939, als es ihm gelang, Deutschland territorial in erheblichem Maße auszuweiten, mit dem Saargebiet, Österreich und den Sudetengebieten, konnte er sich auf Selbstbestimmungsansprüche stützen und dadurch seine Gegner immer wieder in Begründungsnotstand bringen.“ Das sei gewissermaßen die Retourkutsche für Wilsons forschen Zugriff gewesen – und eine Instrumentalisierung, aus der die Sieger von 1945 Konsequenzen gezogen hätten. In der Tat stellten diese bei der Neuordnung der Welt auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen den Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten ins Zentrum, um den „potentiell anarchischen Charakter des Selbstbestimmungsrechts“ zu bändigen.
„Die Idee der Selbstbestimmung aller Völker bringt das Ideal der herrschaftsfreien internationalen Gesellschaft zum Ausdruck“, so Fisch. „Wäre sie verwirklicht, so würde ausschließlich der Wille der Betroffenen über die staatliche Einteilung der Welt entscheiden.“ Dem Autor ist das so wenig geheuer wie den USA, die das Selbstbestimmungsrecht bald wieder aus ihrem außenpolitischen Arsenal ausschieden. In Fischs Darstellung sind die USA Vorreiter einer machtpolitischen Bändigung des Selbstbestimmungsrechts, die sich bis in die jüngste Zeit fortsetzt: Die Interventionen in Afghanistan und im Irak erfolgten „nie im Namen eines zu sichernden oder wiederherzustellenden Selbstbestimmungsrechts oder gar mit dem Ziel, die Grenzen aufgrund von Plebisziten konsequent neu zu ziehen oder bestätigen zu lassen.“ Der auf Kontinuität bedachte Autor sieht in solch kalkulierter Zurückhaltung offenkundig eine kluge Form der „Domestizierung“ des riskanten Selbstbestimmungsrechts. Als „ein Wühler, der die immer wieder ungerecht werdende Stabilität des Besitzes stets aufs Neue untergräbt“ müsse dieses „immer wieder von neuem domestiziert“ werden.
Die prägnante Rede vom „Wühler“ ist übrigens, wie sich die Rezensentin erinnert, ursprünglich Bruno Simma zuzuschreiben. Im Februar 2008, just in den Tagen vor der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung, veranstaltete der Autor als Fellow am Münchner Historischen Kolleg eine Tagung zum völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrecht, aus der mancherlei Erträge in sein Buch eingeflossen scheinen – obgleich Ereignis und Referenten dort keine Erwähnung finden. Simma betonte damals, dass es sich beim völkerrechtlichen Selbstbestimmungsprinzip – wie bei den Menschenrechten – um „Wühler“ handele, um aufwühlende Begriffe, die dem Recht und der Politik wie ein pochender Zahnschmerz zusetzen und ihre Konstitution durchdringen, um heilsame Veränderungsprozesse in Gang zu bringen. Simmas Lesart des Begriffs macht deutlich, dass es in Fragen des Selbstbestimmungsrechts für den Völkerrechtler weniger um die von Jörg Fisch hervorgehobene „Stabilität des Besitzes“ geht, sondern vielmehr um die Frage staatlicher Grenzen im Völkerrecht. Und um das Spannungsverhältnis von deren politisch opportuner Stabilität und demokratietheoretisch gebotener, durch das Prinzip kollektiver wie individueller Selbstbestimmung geforderter Dynamik. ALEXANDRA KEMMERER
JÖRG FISCH: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. Verlag C. H. Beck, München 2010. 384 Seiten,24,95 Euro.
Von Woodrow Wilson bis zum
Kosovo: Die Selbstbestimmung
ist im Völkerrecht umstritten
Hitler spielte virtuos auf diesem
Instrument – muss es daher auch
heute „domestiziert“ werden?
Herrscht hier eine „anachronistische, konsensualistische Sicht des Völkerrechts“? Der Internationale Gerichtshof in Den Haag. Foto: oh
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Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist für den Historiker Jörg Fisch „ein Versprechen, das nicht eingelöst werden kann“
Dass es sich bei der Ausformung des Selbstbestimmungsrechts um eine der wichtigsten Entwicklungen im Völkerrecht der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts handelte, betonte der Internationale Gerichtshof im vergangenen Juli in seinem Rechtsgutachten zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo. Was aber genau dieses Selbstbestimmungsrecht verbürgt, ob es einen Bevölkerungsteil in einem bestehenden Staat zur Sezession berechtigt – dazu wollten sich die Richter im Haager Friedenspalast nicht näher äußern. Schließlich seien sie von der Generalversammlung der Vereinten Nationen nur um eine Feststellung gebeten worden, ob der Akt der Unabhängigkeitserklärung als solcher das Völkerrecht verletzt habe.
Bruno Simma, der deutsche Richter am Haager Weltgericht, zeigte sich in einer dem Urteil beigefügten Erklärung unzufrieden mit der „unnötig engen und möglicherweise irreführenden“ Analyse des Gerichts. Bei einer weniger restriktiven Auslegung der vorgelegten Ausgangsfrage hätte das Gericht zu einer intellektuell befriedigenderen Entscheidung kommen können, mit größerer Relevanz für die Debatte um die Völkerrechtsordnung. Mit einem solchen Vorgehen hätte, so Simma, das Gericht Gespür für die „gegenwärtige Architektur des internationalen Rechts“ bewiesen. Stattdessen aber habe man sich eine „anachronistische, extrem konsensualistische Sicht des Völkerrechts“ zu Eigen gemacht. Der Gerichtshof hatte die Fiktion einer ausschließlich vom Willen souveräner Nationalstaaten geprägten Völkerrechtsordnung aufrechterhalten. Das heißt: Individuelle Akteure, deren Rechte, Freiheiten und autonome Selbstbestimmung, spielten für die Mehrheit der Richter keine entscheidungserhebliche Rolle. Die hoch umstrittene Frage nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit einer Sezession als ultima ratio zur Verwirklichung demokratischer Selbstregierung, blieb außen vor.
Den Zürcher Historiker Jörg Fisch dürfte das nicht verwundert haben. In seiner Studie zur Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker beschreibt er die „paradoxe Situation“ des aus seiner Sicht so illusionären wie riskanten Rechtstitels in der Gegenwart: „Seit der Kodifizierung besteht ein unbestrittenes und uneingeschränktes Recht aller Völker auf Selbstbestimmung im Sinne souveräner Staatlichkeit – ein Recht, das jedes Volk, letztlich sogar jedes Kollektiv, das sich selber als Volk versteht, für sich beanspruchen kann. Auf der anderen Seite hat sich im Verlauf von über zweihundert Jahren für die Praxis eine sehr viel restriktivere Auffassung eines Selbstbestimmungsrechts herausgebildet, das auf den einmaligen Akt der Entkolonisierung im Rahmen eines durch das uti possidetis vorgegebenen Territoriums beschränkt ist, abgesichert beziehungsweise eingeengt noch durch ein rigoroses Sezessionsverbot, das lediglich in Fällen der Entkolonisierung nicht gilt.“
Ein „Versprechen, das nicht eingelöst werden kann“ enthält für Fisch die Selbstbestimmungsformel – und ist damit schon in der Einleitung seines Buches diskreditiert. Die Begriffsanalyse, mit der der Koselleck-Schüler im ersten Teil der „Natur der Selbstbestimmung“ auf die Schliche kommen will, erweist sich als blutleer und wenig ergiebig. Wenig tiefenscharf wird hier ein Thema skizziert, zu dem die politische Theorie in der postnationalen Konstellation viel zu sagen hat. Zudem: Was Selbstbestimmung ist, wer ihr Träger sein kann, was ihre Voraussetzungen sind – das lässt sich auch bei einer exemplarischen Herangehensweise nur in einer historisch-theoretischen Gesamtschau ermitteln. Und die sollte sich auch um jenen komplizierten Fall nicht drücken, den Fisch als „atypisch“ zur Seite legt: den Nahen Osten.
Seine auf den ersten Blick bestechend klare, trennscharfe „Theorie der Selbstbestimmung“ vermag darum als abstrakter Vorspann nicht recht zu überzeugen – ganz im Unterschied zur im zweiten Teil behandelten „Praxis der Selbstbestimmung“, die einen kenntnisreichen Überblick über die Geschichte des Selbstbestimmungsrechts der Völker bietet. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr es mit der Aufnahme in die Charta der Vereinten Nationen und die beiden internationalen Menschenrechtspakte von 1966 eine Verrechtlichung und entfaltete in der Phase der Dekolonialisierung erhebliche Wirkungsmacht. Die Grenzen, die die Staatengemeinschaft dem Selbstbestimmungsrecht zog, hatten sich indes – wie Fisch überzeugend nachweist – bereits im ersten Entkolonisierungsprozess herausgebildet, im 19. Jahrhundert in Amerika. Das erste Instrument der Beschränkung, die Festschreibung bestehender (Verwaltungs-)Grenzen als neue Staatsgrenzen nach dem Prinzip des „uti possidetis“, hat sich bis heute durchgesetzt. Die ursprüngliche Beschränkung der Anwendbarkeit des Selbstbestimmungsrechts auf Konstellationen der Dekolonialisierung wurde indes nach dem Ende des Kalten Krieges in der Staatenpraxis aufgegeben, und das Fortbestehen eines ausnahmslosen völkerrechtlichen Sezessionsverbotes kann seit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawien und der Sowjetunion zumindest als umstritten gelten.
Was die Selbstbestimmung dem Autor suspekt macht, sind die Machtspiele, die ihre Verrechtlichung evoziert. Fisch zeigt, wie US-Präsident Woodrow Wilson nach dem Ersten Weltkrieg die von Lenin geprägte Formel vom Selbstbestimmungsrecht als Propagandaformel ins Arsenal der Sieger aufnimmt. Schnell entpuppte es sich dort als Instrument der Schwachen, das eine wirkmächtige Begründung für die Schwächung der Sieger liefert. Dass es sich in der Hand mächtiger oder wiedererstarkter Verlierer als scharfe Waffe erwies, zeigt Fisch am Beispiel Deutschlands in der Zwischenkriegszeit. Gerade weil er nicht an das Selbstbestimmungsrecht der Völker glaubte, habe Hitler virtuos auf dem Instrument des Revisionismus zu spielen vermocht. „In der entscheidenden Phase der Jahre 1935-1939, als es ihm gelang, Deutschland territorial in erheblichem Maße auszuweiten, mit dem Saargebiet, Österreich und den Sudetengebieten, konnte er sich auf Selbstbestimmungsansprüche stützen und dadurch seine Gegner immer wieder in Begründungsnotstand bringen.“ Das sei gewissermaßen die Retourkutsche für Wilsons forschen Zugriff gewesen – und eine Instrumentalisierung, aus der die Sieger von 1945 Konsequenzen gezogen hätten. In der Tat stellten diese bei der Neuordnung der Welt auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen den Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten ins Zentrum, um den „potentiell anarchischen Charakter des Selbstbestimmungsrechts“ zu bändigen.
„Die Idee der Selbstbestimmung aller Völker bringt das Ideal der herrschaftsfreien internationalen Gesellschaft zum Ausdruck“, so Fisch. „Wäre sie verwirklicht, so würde ausschließlich der Wille der Betroffenen über die staatliche Einteilung der Welt entscheiden.“ Dem Autor ist das so wenig geheuer wie den USA, die das Selbstbestimmungsrecht bald wieder aus ihrem außenpolitischen Arsenal ausschieden. In Fischs Darstellung sind die USA Vorreiter einer machtpolitischen Bändigung des Selbstbestimmungsrechts, die sich bis in die jüngste Zeit fortsetzt: Die Interventionen in Afghanistan und im Irak erfolgten „nie im Namen eines zu sichernden oder wiederherzustellenden Selbstbestimmungsrechts oder gar mit dem Ziel, die Grenzen aufgrund von Plebisziten konsequent neu zu ziehen oder bestätigen zu lassen.“ Der auf Kontinuität bedachte Autor sieht in solch kalkulierter Zurückhaltung offenkundig eine kluge Form der „Domestizierung“ des riskanten Selbstbestimmungsrechts. Als „ein Wühler, der die immer wieder ungerecht werdende Stabilität des Besitzes stets aufs Neue untergräbt“ müsse dieses „immer wieder von neuem domestiziert“ werden.
Die prägnante Rede vom „Wühler“ ist übrigens, wie sich die Rezensentin erinnert, ursprünglich Bruno Simma zuzuschreiben. Im Februar 2008, just in den Tagen vor der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung, veranstaltete der Autor als Fellow am Münchner Historischen Kolleg eine Tagung zum völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrecht, aus der mancherlei Erträge in sein Buch eingeflossen scheinen – obgleich Ereignis und Referenten dort keine Erwähnung finden. Simma betonte damals, dass es sich beim völkerrechtlichen Selbstbestimmungsprinzip – wie bei den Menschenrechten – um „Wühler“ handele, um aufwühlende Begriffe, die dem Recht und der Politik wie ein pochender Zahnschmerz zusetzen und ihre Konstitution durchdringen, um heilsame Veränderungsprozesse in Gang zu bringen. Simmas Lesart des Begriffs macht deutlich, dass es in Fragen des Selbstbestimmungsrechts für den Völkerrechtler weniger um die von Jörg Fisch hervorgehobene „Stabilität des Besitzes“ geht, sondern vielmehr um die Frage staatlicher Grenzen im Völkerrecht. Und um das Spannungsverhältnis von deren politisch opportuner Stabilität und demokratietheoretisch gebotener, durch das Prinzip kollektiver wie individueller Selbstbestimmung geforderter Dynamik. ALEXANDRA KEMMERER
JÖRG FISCH: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. Verlag C. H. Beck, München 2010. 384 Seiten,24,95 Euro.
Von Woodrow Wilson bis zum
Kosovo: Die Selbstbestimmung
ist im Völkerrecht umstritten
Hitler spielte virtuos auf diesem
Instrument – muss es daher auch
heute „domestiziert“ werden?
Herrscht hier eine „anachronistische, konsensualistische Sicht des Völkerrechts“? Der Internationale Gerichtshof in Den Haag. Foto: oh
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2011Ein bloßes Ideal
Selbstbestimmungsrecht zwischen Anspruch und Realität
Das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts propagierte und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich als Recht anerkannte Prinzip der Selbstbestimmung der Völker verspricht mehr, als es zu halten vermag. Der mit ihm verbundene Anspruch lässt sich nicht vollständig einlösen. Das ist die zentrale These von Jörg Fischs lesenwerter Schrift über die Geschichte dieses völkerrechtlichen Rechtstitels. In das propagandistische Arsenal der Staaten, auch der mächtigen, aufgenommen, ist es doch in erster Linie ein Instrument ohnmächtiger Völker und Volksgruppen, deren Forderung nach souveräner Eigenstaatlichkeit unerfüllt geblieben ist. Ernst genommen, droht das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Staatenwelt zu atomisieren, ja aufzulösen: "Wenn jedes Kollektiv, das beansprucht, ein Volk zu sein, befugt war, einen souveränen Staat zu gründen, dann bestand weltweit die Gefahr der Anarchie."
Die Geister, die sie mit der grundsätzlichen Anerkennung des Selbstbestimmungsprinzips auf den Plan gerufen hatten, konnten die Staaten nicht mehr verscheuchen. Sie haben daher Gegenstrategien entwickelt, die das Gefährdungspotential der zum Ordnungsprinzip der internationalen Beziehungen erhobenen Idee der Selbstbestimmung der Völker für die auf die Bewahrung des Status quo ausgerichtete, strukturkonservative Staatengesellschaft entschärfen sollen. So haben sich die Staaten von Anfang an aus Machtgründen geweigert, sich auf eine allgemeine Definition des Kreises der Träger der Selbstbestimmung zu verständigen, "weil sie dann nicht mehr in jedem Falle eigenständig darüber hätten entscheiden können, wer denn nun ein Recht auf Selbstbestimmung hatte". Vor allem aber haben sie dem Selbstbestimmungsanspruch eines Volkes auf den eigenen Staat enge Grenzen gesetzt.
Das erste und wichtigste Instrument war die Beschränkung auf Fälle der Entkolonialisierung, das zweite ein flankierendes Sezessionsverbot, das dritte die Festschreibung der kolonialen (Verwaltungs-)Grenzen als neue Staatsgrenzen nach dem Prinzip des uti possidetis. Jörg Fisch weist nach, dass sich diese Einschränkungen schon im ersten Entkolonisierungsprozess in Amerika (1776-1826) durchsetzten. Darauf konnte in der Phase der zweiten Entkolonisierung nach 1945 zurückgegriffen werden, als die afrikanischen und asiatischen Kolonialvölker die universelle Geltung des Selbstbestimmungsrechts einforderten und ihr Recht auf unabhängige Staaten durchsetzten, deren territoriale Integrität, so willkürlich die Grenzziehung auch sein mochte, fortan strikt zu beachten war.
In Europa hätte es bei strikter Anlegung dieser Kriterien gar keinen Anwendungsbereich für das Selbstbestimmungsrecht geben können. Nachdem es gleichwohl auch hier - propagandistisch - eingeführt war, seine Verwirklichung sich nach dem Ersten Weltkrieg aber machtpolitisch als unmöglich erwiesen hatte, was unerwünschte revisionistischem Forderungen Legitimation verlieh, wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst hintangestellt. Erst der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens setzte das Selbstbestimmungsrecht wieder auf die Tagesordnung der Weltpolitik. Dabei wurde die Auflösung der beiden Föderationen so behandelt, "als wären sie Kolonialreiche": Unabhängigkeit blieb den Gliedstaaten vorbehalten, deren territorialer Besitzstand durch Anwendung des Uti-possidetis-Prinzips zugleich gegen weitere Sezessionen abgesichert wurde. Alle übrigen Volksgruppen mussten sich mit Minderheitenschutz innerhalb der neuen Staaten zufriedengegeben. Die Analogie zur Entkolonialisierung ließ sich allerdings, wie der Fall des Kosovo zeigen sollte, auf dem Balkan letztlich nicht durchhalten.
Für Fisch ergibt sich daraus für die Gegenwart "eine paradoxe Situation: Seit der Kodifizierung besteht ein unbestrittenes und uneingeschränktes Recht aller Völker auf Selbstbestimmung im Sinne souveräner Staatlichkeit . . . Auf der anderen Seite hat sich im Verlauf von über zweihundert Jahren für die Praxis eine sehr viel restriktivere Auffassung eines Selbstbestimmungsrechts herausgebildet", die das Selbstbestimmungsrecht nach dem Abschluss der Entkolonialisierung praktisch obsolet macht. Der Völkerrechtler wird dem Historiker Fisch entgegenhalten, dass das Selbstbestimmungsprinzip als Völkerrecht nach der maßgebenden Staatenpraxis immer nur eingeschränkt galt und regelmäßig nicht zur Sezession berechtigt(e). Es geht folglich weniger um eine Diskrepanz zwischen der Rechtslage und den Machtverhältnissen als vielmehr zwischen einem Idealbegriff und dem, was die Staaten (rechtlich wie machtpolitisch) nur zu konzedieren bereit sind. Aber auch als bloßes Ideal bleibt das Selbstbestimmungsrecht wirkmächtig, als "ein Wühler, der die immer wieder ungerecht werdende Stabilität des Besitzes stets aufs Neue untergräbt".
CHRISTIAN HILLGRUBER
Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. Verlag C.H. Beck, München 2010. 384 S. 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Selbstbestimmungsrecht zwischen Anspruch und Realität
Das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts propagierte und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich als Recht anerkannte Prinzip der Selbstbestimmung der Völker verspricht mehr, als es zu halten vermag. Der mit ihm verbundene Anspruch lässt sich nicht vollständig einlösen. Das ist die zentrale These von Jörg Fischs lesenwerter Schrift über die Geschichte dieses völkerrechtlichen Rechtstitels. In das propagandistische Arsenal der Staaten, auch der mächtigen, aufgenommen, ist es doch in erster Linie ein Instrument ohnmächtiger Völker und Volksgruppen, deren Forderung nach souveräner Eigenstaatlichkeit unerfüllt geblieben ist. Ernst genommen, droht das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Staatenwelt zu atomisieren, ja aufzulösen: "Wenn jedes Kollektiv, das beansprucht, ein Volk zu sein, befugt war, einen souveränen Staat zu gründen, dann bestand weltweit die Gefahr der Anarchie."
Die Geister, die sie mit der grundsätzlichen Anerkennung des Selbstbestimmungsprinzips auf den Plan gerufen hatten, konnten die Staaten nicht mehr verscheuchen. Sie haben daher Gegenstrategien entwickelt, die das Gefährdungspotential der zum Ordnungsprinzip der internationalen Beziehungen erhobenen Idee der Selbstbestimmung der Völker für die auf die Bewahrung des Status quo ausgerichtete, strukturkonservative Staatengesellschaft entschärfen sollen. So haben sich die Staaten von Anfang an aus Machtgründen geweigert, sich auf eine allgemeine Definition des Kreises der Träger der Selbstbestimmung zu verständigen, "weil sie dann nicht mehr in jedem Falle eigenständig darüber hätten entscheiden können, wer denn nun ein Recht auf Selbstbestimmung hatte". Vor allem aber haben sie dem Selbstbestimmungsanspruch eines Volkes auf den eigenen Staat enge Grenzen gesetzt.
Das erste und wichtigste Instrument war die Beschränkung auf Fälle der Entkolonialisierung, das zweite ein flankierendes Sezessionsverbot, das dritte die Festschreibung der kolonialen (Verwaltungs-)Grenzen als neue Staatsgrenzen nach dem Prinzip des uti possidetis. Jörg Fisch weist nach, dass sich diese Einschränkungen schon im ersten Entkolonisierungsprozess in Amerika (1776-1826) durchsetzten. Darauf konnte in der Phase der zweiten Entkolonisierung nach 1945 zurückgegriffen werden, als die afrikanischen und asiatischen Kolonialvölker die universelle Geltung des Selbstbestimmungsrechts einforderten und ihr Recht auf unabhängige Staaten durchsetzten, deren territoriale Integrität, so willkürlich die Grenzziehung auch sein mochte, fortan strikt zu beachten war.
In Europa hätte es bei strikter Anlegung dieser Kriterien gar keinen Anwendungsbereich für das Selbstbestimmungsrecht geben können. Nachdem es gleichwohl auch hier - propagandistisch - eingeführt war, seine Verwirklichung sich nach dem Ersten Weltkrieg aber machtpolitisch als unmöglich erwiesen hatte, was unerwünschte revisionistischem Forderungen Legitimation verlieh, wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst hintangestellt. Erst der Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens setzte das Selbstbestimmungsrecht wieder auf die Tagesordnung der Weltpolitik. Dabei wurde die Auflösung der beiden Föderationen so behandelt, "als wären sie Kolonialreiche": Unabhängigkeit blieb den Gliedstaaten vorbehalten, deren territorialer Besitzstand durch Anwendung des Uti-possidetis-Prinzips zugleich gegen weitere Sezessionen abgesichert wurde. Alle übrigen Volksgruppen mussten sich mit Minderheitenschutz innerhalb der neuen Staaten zufriedengegeben. Die Analogie zur Entkolonialisierung ließ sich allerdings, wie der Fall des Kosovo zeigen sollte, auf dem Balkan letztlich nicht durchhalten.
Für Fisch ergibt sich daraus für die Gegenwart "eine paradoxe Situation: Seit der Kodifizierung besteht ein unbestrittenes und uneingeschränktes Recht aller Völker auf Selbstbestimmung im Sinne souveräner Staatlichkeit . . . Auf der anderen Seite hat sich im Verlauf von über zweihundert Jahren für die Praxis eine sehr viel restriktivere Auffassung eines Selbstbestimmungsrechts herausgebildet", die das Selbstbestimmungsrecht nach dem Abschluss der Entkolonialisierung praktisch obsolet macht. Der Völkerrechtler wird dem Historiker Fisch entgegenhalten, dass das Selbstbestimmungsprinzip als Völkerrecht nach der maßgebenden Staatenpraxis immer nur eingeschränkt galt und regelmäßig nicht zur Sezession berechtigt(e). Es geht folglich weniger um eine Diskrepanz zwischen der Rechtslage und den Machtverhältnissen als vielmehr zwischen einem Idealbegriff und dem, was die Staaten (rechtlich wie machtpolitisch) nur zu konzedieren bereit sind. Aber auch als bloßes Ideal bleibt das Selbstbestimmungsrecht wirkmächtig, als "ein Wühler, der die immer wieder ungerecht werdende Stabilität des Besitzes stets aufs Neue untergräbt".
CHRISTIAN HILLGRUBER
Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. Verlag C.H. Beck, München 2010. 384 S. 24,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rudolf Walther weiß Jörg Fischs Studie über das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" zu schätzen. Er attestiert dem Zürcher Historiker, dieses Recht einer genauen Analyse zu unterziehen. Ausführlich geht Walther auf die Entwicklung des Begriffs "Selbstbestimmungsrecht der Völker" ein, der, wie der Autor belegt, zu den "erfolgreichsten Schlagworten der Gegenwart" gehört. Der systematische erste Teil der Arbeit scheint Walther wegen der stringenten Argumentation schlicht brillant. Der zweite historische Teil zeichnet sich für ihn durch seine profunde Darstellung des politischen Umgangs mit den "Illusionen und Paradoxien des Selbstbestimmungsrechts" aus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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