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  • Verlag: Turia + Kant
  • ISBN-13: 9783851325553
  • Artikelnr.: 26543391
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2010

35. Der mit dem Knie denkt

Jacques Lacan gilt als schwieriger, dunkler, manchmal auch schlicht unverständlicher Autor. Das ist aber weniger als die halbe Wahrheit und zudem in Zeiten der Pisakrise extrem jugendgefährdend, weil es den Zugang zu einem Text versperrt, in dem man eine Form des Humors entdecken kann, die es in Deutschland in akademischen Texten nicht gibt. Schon gar nicht in den Texten der universitären Psychologie.

Lacans Witz ist am Surrealismus geschult. So konnte es auch geschehen, dass der Linguist Noam Chomsky Lacan für einen Irren hielt. In einer Diskussion hatte Lacan Chomsky beschieden, dass er zum Geistigen im Kopf leider nicht allzu viel sagen könne, weil er immer mit dem Knie denke. Was Lacan mit dem denkenden Knie meinte, kann man jetzt erstmals in einer verbindlichen deutschen Übersetzung seines Seminars über die Angst nachlesen. Die Angst ist eindeutig, heißt es darin. Die Angst ist das, was nicht täuscht.

Warum täuscht die Angst nicht? Weil wir die Angst bereits bei bestimmten Tieren sicher erkennen. Wir wissen wenig über die Gefühle der Tiere, aber die Angst, die erkennen wir sicher, wenn wir das ängstliche Tier ansehen. Und es gehört zu den Schönheiten von Jacques Lacans Seminaren, wie er immer wieder in seiner Hinwendung zu den Tieren die biologische Verhaltensforschung in seine Psychoanalyse einbaut. Kaum jemand kann so sympathisch über Tiere reden.

Von da aus kommt er aber immer wieder auf das laufende Tier, das sprechen kann. Der Mensch nämlich hat keine Chance, jemals die Eindeutigkeit der Angst so zu erfahren wie das Tier. Das hat einfach damit zu tun, das man mit Worten lügen kann. Der Mensch trifft also, mehr schlecht als recht laufend, auf einen anderen, den er begehrt. Das funktioniert sehr gut, wenn der andere einen auch begehrt - und beide sich darüber hinwegtäuschen können, dass sie nicht genau wissen, was das ist, was sie am anderen begehren. Hört die Täuschung auf, kommt unweigerlich die Angst.

Wie Lacan dann an einer Fallgeschichte die Angststruktur im klassischen Paar freilegt, macht verständlich, warum er bei feministischen Theoretikerinnen so beliebt ist. Die Angst des Mannes, so definiert er, ist an die Möglichkeit gebunden, nicht zu können. Die kann Lacan ihm aber nicht nehmen. Im Gegenteil: Er verstrickt den Mann in ein Maß aus Kräften und Prozessen, die er nie wird überschauen können.

Lacan hat kein Mitleid mit dem Mann, der glaubt, dass er alles kann. Er versucht ihm nur eine Angst zu nehmen: die Angst vor dem Nicht-Können, vor der Impotenz. Denn so könnte man mit dem Schriftsteller D. H. Lawrence sagen, wer nicht viel kann, kann immer noch verstehen lernen. Deshalb verwundert es auch nicht, dass es im Seminar zur Angst auch noch eine der schönsten Liebestheorien seit Leibniz' Diktum gibt, dass Liebe die Freude am Glück eines anderen sei. Das macht "Die Angst" zu einem feierlichen Festtagsbuch.

Cord Riechelmann

Jacques Lacan: "Das Seminar, Buch X: Die Angst". Textherstellung von Jacques-Alain Miller. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek. Verlag Turia+Kant, 430 Seiten, 40 Euro

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