Wann sie damit anfingen, die Toten zu rufen, weiß im Nachhinein niemand so genau. Es begann doch als harmlose Jugendfreizeit auf dem Hof, aber dann wurden die Spiele der Kinder immer beunruhigender. Bis zu jener Nacht, von der sich die, die sie überlebten, bis heute noch nicht erholt haben.
Ein Schatten, der sich im lichtverschmutzten Hongkong zu verselbständigen beginnt. Ein Boxer, der gegen einen teuflisch guten Gegner kämpft. Eine verhängnisvolle Begegnung mit einem Erlkönig der Neuzeit oder ein Schachspiel mit einem Toten: Christiane Neudeckers Geschichten erzählen von dem winzigen Spalt, der sich von Zeit zu Zeit in unserem hoch technisierten Dasein auftut - sie versetzen mit hypnotischer Spannungskunst das Genre der unheimlichen Erzählung von E.T.A Hoffmann bis Daphne du Maurier in unsere moderne, nur scheinbar durchrationalisierte Welt ...
Ein Schatten, der sich im lichtverschmutzten Hongkong zu verselbständigen beginnt. Ein Boxer, der gegen einen teuflisch guten Gegner kämpft. Eine verhängnisvolle Begegnung mit einem Erlkönig der Neuzeit oder ein Schachspiel mit einem Toten: Christiane Neudeckers Geschichten erzählen von dem winzigen Spalt, der sich von Zeit zu Zeit in unserem hoch technisierten Dasein auftut - sie versetzen mit hypnotischer Spannungskunst das Genre der unheimlichen Erzählung von E.T.A Hoffmann bis Daphne du Maurier in unsere moderne, nur scheinbar durchrationalisierte Welt ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2010Das Böse ist immer und überall online
Aus der Rumpelkammer der schwarzen Romantik: Christiane Neudecker holt in ihren unheimlichen Geschichten die Gothic Novel in die Gegenwart von Handy und Internet.
Einen Freefighter kann so leicht nichts erschüttern, es sei denn dieser knabenhafte Tscheche, der wie ein Engel lächelt und wie der leibhaftige Tod zuschlägt. Man kann nur hoffen, dass die Maden, die aus seinem grinsenden Knochenmaul quellen, das Hirngespinst seines schwer getroffenen Gegenübers sind. Eine Frau wird von einem Toten zu einer Partie Fernschach im Internet herausgefordert; vielleicht treibt auch nur ein Fremder mit dem Passwort ihres Exgeliebten sein böses Spiel. Ein Lichtdesigner, der im gleißenden Licht einer Nacht in Hongkong Tänzerinnen mit digitalen Manipulationen ihres Schattens beraubt, steht plötzlich selbst schattenlos da. Kann sein, dass es nur Lichtreflexe, optische Täuschungen, Bewusstseinstrübungen eines überarbeiteten Computernerds sind. Ein Autojournalist, der im lappländischen Winter Jagd auf "Erlkönige" macht, gerät selbst ins Visier namenloser Jäger. Möglicherweise sollte dem lästigen Auto-Paparazzo nur ein Schrecken eingejagt werden. Aber hat ihm nicht am Vorabend ein Fremder ein Papier vorgelegt, das er im Suff mit seinem Blut unterzeichnete?
In Christiane Neudeckers "Unheimlichen Geschichten" fehlt es nicht an Teufelspakten, Schlemihls, Pentagrammen und anderem Gruselkram aus der Rumpelkammer der schwarzen Romantik. Aber der Teufel ist kein Schreckgespenst aus dunkler Vergangenheit, sondern ein Mann von hier und heute. Er kauft die Seelen nicht im Zwielicht der Hölle, sondern im hellen Licht einer entzauberten Welt, die, mit der "Dialektik der Aufklärung" zu reden, "im Zeichen triumphalen Unheils strahlt". Das Leuchten kommt vom fahlen Schein der Computermonitore, vom Blitzlichtgewitter der Digitalkameras, aus Beamern, Lichtinstallationen oder auch der trüben Funzel einer schummrigen Dorfbar. Das Unheil wird jedenfalls nicht mit Hokuspokus und blasphemischen Verwünschungen besiegelt: Ein Mausklick, eine SMS, ein kurzer Blackout genügt.
Christiane Neudecker holt die alte gothic novel in die Gegenwart von Handy und Internet. Mary Shelleys "Frankenstein", Poes logische Fantasien waren auch auf der Höhe technisch-naturwissenschaftlicher Rationalität, aber in der Regel scheut das Unheimliche das Tageslicht der Vernunft. Dabei zeigt jede "Akte X"-Sendung, dass moderne Kommunikations-, Simulations- und Reproduktionstechniken die alten Ängste nicht bannen, sondern eher noch steigern. Im Zwischenreich von Realität und virtueller Welt, im Rauschen und Flimmer der Medien, an den Schnittstellen von Tod und künstlichem Leben verjüngt sich das archaische Grauen wie ein Vampir in der Blutbank.
Christiane Neudecker kennt nicht nur die technischen Möglichkeiten moderner Software und postmodernen Identitätsdesigns, sondern auch die klassische Horrormythologie. Die Titelgeschichte etwa atmet den Geist E. T. A. Hoffmanns. Weil sich das "siamesische Klavier", das am Amazonas, in der verfallenen Villa eines ermordeten Kautschukbarons, gefunden wurde, nicht von der Stelle bewegen lässt, wird ein Konzerthaus darum herumgebaut. Ein Notenumblätterer erzählt in einer Springprozession von düsteren Rückblenden und dunklen Vorausdeutungen, wie er die festliche Eröffnung der Urwaldoper durch das Doppelkonzert zweier russischer Präzisionspianisten erlebte. In dieser Herr-Knecht-Dialektik liegt die eigentliche Pointe: Der Erzähler ist der gefallene Engel, der sich im Namen der Kunst gegen frevlerische Hybris verwahrt und sich damit selbst luziferisch an Gottes Stelle setzt. Weil er Liszts Bearbeitung der Neunten Sinfonie für zwei Klaviere als Schandtat eines "Großmauls" empfindet, bringt er die berühmte Pianistin durch Arbeitsverweigerung aus dem Takt und greift selbst in die Tasten. Das verfluchte Klavier hat den Rächer Beethovens verhext; der Urwald holt sich zurück, was Musik und menschlicher Hochmut ihm abgerungen haben. Noch bemerkenswerter als das Spiel mit alten Schauermotiven ist die Virtuosität, mit der Christiane Neudecker eine morbide Atmosphäre von Verfall, Fäulnis und Moder inmitten einer wuchernden Natur beschwört.
Das Atmosphärische ist überhaupt ihre Stärke. "Gerufene Geister, oder: Der Carpenter-Effekt" ist nur eine wenig originelle Geschichte über missglückte spiritistische Séancen unter pubertierenden Mädchen. Aber wie hier aus Trübsinn und Langeweile eines verregneten Sommercamps, aus Pfützen, klammen Bettlaken und der stickig-feuchten Luft der Schlafsäle das Böse gleichsam organisch hervorwächst: das ist schon eine gelungene Geisterbeschwörung.
Dabei fühlt sich die Autorin im Dunstkreis von Schweiß, Bier und Testosteron eigentlich mehr zu Hause als in zartbesaiteten Mädchenseelen. Die meisten Geschichten handeln von Männern, die sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen lassen: coole Programmierer, nüchterne Technikfreaks, brutale Catcher, taffe Journalisten, die für einen Scoop ihre Seele verkaufen. Ihre Schwachstelle ist die Angst vor dem Verlust männlicher Autonomie und rationaler Selbstkontrolle. In "Dunkelkeime" zieht ein Mann aufs Land, in die Wohnung der Frau, die ihn verlassen hat, und erlebt eine Selbstentfremdung mit Haut und Haar, Damenbart und Geschlechtswechsel. Natur ist bei Christiane Neudecker weiblich: drohend, lockend, verschlingend, aber der Teufel steckt nun mal im Mann und seinen Hobbys: Computer, Autos, Schach, Sex, Fighten bis zum Genickbruch. Christiane Neudecker mokiert sich nicht darüber, sondern erzählt lakonisch und sachkundig von den merkwürdigen Riten, Geheimsprachen und Abgründen der männlichen Seele. Oder sie erfindet selbst Männerspielzeuge wie den japanischen Sportwagen und neue agonale Spiele wie SunTzu- oder "Fischer-Random"-Schach.
In diesen Erzählungen werden Menschen von ihren Wohnungen bewohnt, von ihren Dingen besessen, von ihren Computern gesteuert. Allein die Autorin spielt nach eigenen Regeln siamesisches Klavier. Mit der linken Hand zitiert sie Leitmotive der phantastischen Literatur, mit der rechten spielt sie auf dem Keyboard moderner Mythen und Medien. Im Wechselspiel von weißen und schwarzen Tasten entsteht so, ohne dass sie je aufs Pedal treten müsste, eine reich orchestrierte und doch leise Sinfonie des Grauens. Nach all dem Harry-Potter- und Fantasy-Kinderkram knüpft endlich wieder eine Autorin an die große deutsche Tradition der phantastischen Erzählung für Erwachsene an.
MARTIN HALTER
Christiane Neudecker: "Das siamesische Klavier". Unheimliche Geschichten. Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 220 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus der Rumpelkammer der schwarzen Romantik: Christiane Neudecker holt in ihren unheimlichen Geschichten die Gothic Novel in die Gegenwart von Handy und Internet.
Einen Freefighter kann so leicht nichts erschüttern, es sei denn dieser knabenhafte Tscheche, der wie ein Engel lächelt und wie der leibhaftige Tod zuschlägt. Man kann nur hoffen, dass die Maden, die aus seinem grinsenden Knochenmaul quellen, das Hirngespinst seines schwer getroffenen Gegenübers sind. Eine Frau wird von einem Toten zu einer Partie Fernschach im Internet herausgefordert; vielleicht treibt auch nur ein Fremder mit dem Passwort ihres Exgeliebten sein böses Spiel. Ein Lichtdesigner, der im gleißenden Licht einer Nacht in Hongkong Tänzerinnen mit digitalen Manipulationen ihres Schattens beraubt, steht plötzlich selbst schattenlos da. Kann sein, dass es nur Lichtreflexe, optische Täuschungen, Bewusstseinstrübungen eines überarbeiteten Computernerds sind. Ein Autojournalist, der im lappländischen Winter Jagd auf "Erlkönige" macht, gerät selbst ins Visier namenloser Jäger. Möglicherweise sollte dem lästigen Auto-Paparazzo nur ein Schrecken eingejagt werden. Aber hat ihm nicht am Vorabend ein Fremder ein Papier vorgelegt, das er im Suff mit seinem Blut unterzeichnete?
In Christiane Neudeckers "Unheimlichen Geschichten" fehlt es nicht an Teufelspakten, Schlemihls, Pentagrammen und anderem Gruselkram aus der Rumpelkammer der schwarzen Romantik. Aber der Teufel ist kein Schreckgespenst aus dunkler Vergangenheit, sondern ein Mann von hier und heute. Er kauft die Seelen nicht im Zwielicht der Hölle, sondern im hellen Licht einer entzauberten Welt, die, mit der "Dialektik der Aufklärung" zu reden, "im Zeichen triumphalen Unheils strahlt". Das Leuchten kommt vom fahlen Schein der Computermonitore, vom Blitzlichtgewitter der Digitalkameras, aus Beamern, Lichtinstallationen oder auch der trüben Funzel einer schummrigen Dorfbar. Das Unheil wird jedenfalls nicht mit Hokuspokus und blasphemischen Verwünschungen besiegelt: Ein Mausklick, eine SMS, ein kurzer Blackout genügt.
Christiane Neudecker holt die alte gothic novel in die Gegenwart von Handy und Internet. Mary Shelleys "Frankenstein", Poes logische Fantasien waren auch auf der Höhe technisch-naturwissenschaftlicher Rationalität, aber in der Regel scheut das Unheimliche das Tageslicht der Vernunft. Dabei zeigt jede "Akte X"-Sendung, dass moderne Kommunikations-, Simulations- und Reproduktionstechniken die alten Ängste nicht bannen, sondern eher noch steigern. Im Zwischenreich von Realität und virtueller Welt, im Rauschen und Flimmer der Medien, an den Schnittstellen von Tod und künstlichem Leben verjüngt sich das archaische Grauen wie ein Vampir in der Blutbank.
Christiane Neudecker kennt nicht nur die technischen Möglichkeiten moderner Software und postmodernen Identitätsdesigns, sondern auch die klassische Horrormythologie. Die Titelgeschichte etwa atmet den Geist E. T. A. Hoffmanns. Weil sich das "siamesische Klavier", das am Amazonas, in der verfallenen Villa eines ermordeten Kautschukbarons, gefunden wurde, nicht von der Stelle bewegen lässt, wird ein Konzerthaus darum herumgebaut. Ein Notenumblätterer erzählt in einer Springprozession von düsteren Rückblenden und dunklen Vorausdeutungen, wie er die festliche Eröffnung der Urwaldoper durch das Doppelkonzert zweier russischer Präzisionspianisten erlebte. In dieser Herr-Knecht-Dialektik liegt die eigentliche Pointe: Der Erzähler ist der gefallene Engel, der sich im Namen der Kunst gegen frevlerische Hybris verwahrt und sich damit selbst luziferisch an Gottes Stelle setzt. Weil er Liszts Bearbeitung der Neunten Sinfonie für zwei Klaviere als Schandtat eines "Großmauls" empfindet, bringt er die berühmte Pianistin durch Arbeitsverweigerung aus dem Takt und greift selbst in die Tasten. Das verfluchte Klavier hat den Rächer Beethovens verhext; der Urwald holt sich zurück, was Musik und menschlicher Hochmut ihm abgerungen haben. Noch bemerkenswerter als das Spiel mit alten Schauermotiven ist die Virtuosität, mit der Christiane Neudecker eine morbide Atmosphäre von Verfall, Fäulnis und Moder inmitten einer wuchernden Natur beschwört.
Das Atmosphärische ist überhaupt ihre Stärke. "Gerufene Geister, oder: Der Carpenter-Effekt" ist nur eine wenig originelle Geschichte über missglückte spiritistische Séancen unter pubertierenden Mädchen. Aber wie hier aus Trübsinn und Langeweile eines verregneten Sommercamps, aus Pfützen, klammen Bettlaken und der stickig-feuchten Luft der Schlafsäle das Böse gleichsam organisch hervorwächst: das ist schon eine gelungene Geisterbeschwörung.
Dabei fühlt sich die Autorin im Dunstkreis von Schweiß, Bier und Testosteron eigentlich mehr zu Hause als in zartbesaiteten Mädchenseelen. Die meisten Geschichten handeln von Männern, die sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen lassen: coole Programmierer, nüchterne Technikfreaks, brutale Catcher, taffe Journalisten, die für einen Scoop ihre Seele verkaufen. Ihre Schwachstelle ist die Angst vor dem Verlust männlicher Autonomie und rationaler Selbstkontrolle. In "Dunkelkeime" zieht ein Mann aufs Land, in die Wohnung der Frau, die ihn verlassen hat, und erlebt eine Selbstentfremdung mit Haut und Haar, Damenbart und Geschlechtswechsel. Natur ist bei Christiane Neudecker weiblich: drohend, lockend, verschlingend, aber der Teufel steckt nun mal im Mann und seinen Hobbys: Computer, Autos, Schach, Sex, Fighten bis zum Genickbruch. Christiane Neudecker mokiert sich nicht darüber, sondern erzählt lakonisch und sachkundig von den merkwürdigen Riten, Geheimsprachen und Abgründen der männlichen Seele. Oder sie erfindet selbst Männerspielzeuge wie den japanischen Sportwagen und neue agonale Spiele wie SunTzu- oder "Fischer-Random"-Schach.
In diesen Erzählungen werden Menschen von ihren Wohnungen bewohnt, von ihren Dingen besessen, von ihren Computern gesteuert. Allein die Autorin spielt nach eigenen Regeln siamesisches Klavier. Mit der linken Hand zitiert sie Leitmotive der phantastischen Literatur, mit der rechten spielt sie auf dem Keyboard moderner Mythen und Medien. Im Wechselspiel von weißen und schwarzen Tasten entsteht so, ohne dass sie je aufs Pedal treten müsste, eine reich orchestrierte und doch leise Sinfonie des Grauens. Nach all dem Harry-Potter- und Fantasy-Kinderkram knüpft endlich wieder eine Autorin an die große deutsche Tradition der phantastischen Erzählung für Erwachsene an.
MARTIN HALTER
Christiane Neudecker: "Das siamesische Klavier". Unheimliche Geschichten. Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 220 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hach, endlich mal kein Harry-Potter-Kitsch! Martin Halter ist ganz aus dem Häuschen angesichts einer Autorin, die, wie er versichert, an die deutsche Tradition der fantastischen Erzählung für Große anknüpft. Deren Leitmotive beherrscht Christiane Neudecker spielend, schreibt Halter, und sie hat so eine Hand frei, um gleich noch eins draufzusetzen. Nämlich moderne Mythen und Medien. Wie sich Unheil und Grauen mit Handy, Computer, Internet etc. noch besser herstellen lassen, als mit schwarzer Magie, bringt Neudecker dem Rezensenten bei. In den virtuellen Raum hängt sie Modergirlanden und lehrt ihn das Gruseln vor Computer-Schach mit Toten und vor rasender Selbstentfremdung, Damenbart inklusive. Für Halter entsteht so, lakonisch und sachkundig vermittelt, eine reich orchestrierte Sinfonie des Grauens.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Nach all dem Harry-Potter- und Fantasy-Kinderkram knüpft endlich wieder eine Autorin an die große deutsche Tradition der phantastischen Erzählung für Erwachsene an." Frankfurter Allgemeine Zeitung