Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2017
Als der deutsche Frankenstein-Experte Jörg Krippen auf dem Campus seiner neuen Londoner Universität umherirrt, hilft ihm die junge Stammzellenforscherin Mae sich zu orientieren. Die Begegnung wirkt zufällig, tatsächlich hat sie diese bewusst provoziert. Kurz darauf führt Mae ein Wiedersehen herbei, um eine Affäre mit dem deutlich älteren Mann zu beginnen. Zugleich scheint sie sonderbar viel über ihn zu wissen.
Im Londoner East End hat niemand auf den Literaturwissenschaftler Jörg Krippen aus Berlin gewartet. Die Kleidung vom Nieselregen durchweicht sucht er nach einer Klingel, als eine junge Frau indischer Abstammung ihn anspricht: »You look so lost«. Sie selbst ist in Brixton aufgewachsen und forscht im Bereich neuer Reproduktionstechnologien. Krippen verliebt sich rasch und heftig - und belügt sie, was seine Familie und seine linke politische Vergangenheit betrifft. Auch sie ist nicht ehrlich und verschweigt, dass sie vor Jahren als Austauschschülerin in Berlin war. Es entspannt sich eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, wie sie beide in der Intensität zuvor nicht erlebt haben. Doch ihre ungewöhnliche Liebe wirft Fragen nach dem Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaft auf.
Als der deutsche Frankenstein-Experte Jörg Krippen auf dem Campus seiner neuen Londoner Universität umherirrt, hilft ihm die junge Stammzellenforscherin Mae sich zu orientieren. Die Begegnung wirkt zufällig, tatsächlich hat sie diese bewusst provoziert. Kurz darauf führt Mae ein Wiedersehen herbei, um eine Affäre mit dem deutlich älteren Mann zu beginnen. Zugleich scheint sie sonderbar viel über ihn zu wissen.
Im Londoner East End hat niemand auf den Literaturwissenschaftler Jörg Krippen aus Berlin gewartet. Die Kleidung vom Nieselregen durchweicht sucht er nach einer Klingel, als eine junge Frau indischer Abstammung ihn anspricht: »You look so lost«. Sie selbst ist in Brixton aufgewachsen und forscht im Bereich neuer Reproduktionstechnologien. Krippen verliebt sich rasch und heftig - und belügt sie, was seine Familie und seine linke politische Vergangenheit betrifft. Auch sie ist nicht ehrlich und verschweigt, dass sie vor Jahren als Austauschschülerin in Berlin war. Es entspannt sich eine leidenschaftliche Liebesgeschichte, wie sie beide in der Intensität zuvor nicht erlebt haben. Doch ihre ungewöhnliche Liebe wirft Fragen nach dem Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaft auf.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.2017Einmal Straßenkampf, immer Straßenkampf
Berlin von der Seite: Michael Wildenhains abenteuerliches Liebes- und Politspektakel "Das Singen der Sirenen"
Jörg Krippen heißt die Kanaille. Ehemaliger Aktivist im Berliner Häuserkampf, Mann von Sabrina, einer Frau, die Bierflaschen mit den Zähnen aufhebelt und subproletarisch schimpfen kann: "Du bist so was von Stulle, Krippen. Ostbrot ist gar nix dagegen." Vater des gemeinsamen Sohns Leon. Einerseits. Andererseits feinfühliger Akademiker, der an einer Arbeit über Frankenstein sitzt, der Theaterstücke schreibt, der immer wieder Forschungsstipendien in London wahrnimmt und dort einen amour fou mit einer indischstämmigen Engländerin beginnt. Der Jahre später mit einer anderen indischstämmigen Engländerin wieder einen amour fou beginnt und zu spät merkt, dass es sich bei den Frauen um Schwestern handelt. Auch taucht ein vaterloser Junge auf, Raj. Es wird behauptet, dass Jörg Krippen sein Vater ist. Später soll ein Gentest Klarheit schaffen, macht aber alles nur noch komplizierter
Michael Wildenhain hat mit "Das Singen der Sirenen" seinen intimsten Roman geschrieben. Der militante Häuserkampf, in dem man noch nicht gestalttherapeutisch mit Rechten reden musste, nimmt darin abermals eine wichtige Rolle ein. In kriminalistisch verschachtelter Erzählweise werden die Facetten eines widersprüchlichen Charakters preisgegeben. Unter dem Strich lässt sich so der Lebensweg eines Menschen nachvollziehen, der notorisch zwischen den Stühlen sitzt: zwischen den Lebensentwürfen, zwischen den Frauen, zwischen den Söhnen, zwischen den Städten. "Das Singen der Sirenen" könnte sich dabei auf die Funktion der Literatur selbst beziehen. "Der Gesang der Sirenen", so hieß ein literaturphilosophischer Essay von Maurice Blanchot aus dem Jahr 1962, in dem er die kulturelle Leistung des Romans darin sah, aus Odysseus Homer zu machen, aus einer Sirene eine Sängerin, aus einem Verhängnis eine Kulturtechnik. Ob Michael Wildenhain seinen Titel an diesen Schlüsseltext der literaturtheoretischen Postmoderne angelehnt hat, ist nicht bekannt. Dass seine Sirenen von einem großen Krieg künden, darf man allerdings angesichts der Gesamtanlage des Romans erwarten. Immer wieder wird unser Jörg Krippen, den es durchaus polyglott um den Globus, durch die Kulturen und Sprachen treibt, wieder zurückgerufen an den Ort des blutigen Faustkampfs. Mit seiner Sabrina verbindet ihn seit Jahren die elementare Erfahrung des bewaffneten Häuserkampfes.
Das ist der eine Jörg Krippen. Der andere entfaltet sein feingeistiges Potential erst als junges Genie an der FU, dann als Gast an einer englischen Universität. Eine junge Frau namens Mae, die seltsamerweise Deutsch spricht und von ihrem indischen Namen Mohini auf selbstverleugnende Weise nichts mehr wissen will, macht den Nachwuchswissenschaftler zu ihrem Geliebten, dann per Mitteilung auch zum Vater ihres Neffen. Mae und Krippen, ein Paar, das ungleicher nicht sein könnte. Sie, eine junge Nachwuchswissenschaftlerin, die an Stammzellen forscht. Er, ein alternder Frankensteinianer, der über künstliche Menschen nachdenkt. Er Anhänger der sozialen Vaterschaft. Sie die Herrscherin über den Gentest. Er Geisteswissenschaft. Sie Naturwissenschaft, und zwar überzeugt: "Was macht ihr? Ihr zitiert und zitiert. Bewegt euch in einer Welt des Erdachten. Indem ihr auf Erdachtes verweist." Und dann: Ein indischer Businessman taucht auf und wird als Cousin Kali vorgestellt. Er verhilft Jörg Krippen zu einem finanziell lukrativen Schreibjob, der nicht an Krippens Originalität scheitert, sondern an seinem ideologischen Tourette-Syndrom. Einmal Straßenkampf, immer Straßenkampf! Jörg Krippen verlässt die Geliebte und den neu gefundenen Sohn, um sich in sein altes Berliner Leben zurückzufügen. Eine Pegida-Demo dient als Kitt zwischen der kampferprobten Ex-Frau und dem Spätheimkehrer Krippen.
Es wäre an dieser Stelle nun nicht opportun, weitere Details der deutsch-englisch-indischen Liebesverwicklungen zu schildern. Dann hätte man quasi den Fall vor dem Leser gelöst. Deswegen sollen noch zwei andere Formmerkmale dieses Romans erwähnt werden. Zum einen ist die Sprache bemerkenswert. In seiner elliptischen Erzählweise ist der Roman nämlich zunächst ziemlich ermüdend, nimmt aber mit steigender Komplexität auch sprachlich Fahrt auf. Wildenhain bedient mehrere Stilregister, vom proletarischen Dialog über die expressionistische Seelenskizze, das naturalistische Sexfragment und die bürgerliche Milieubeschreibung. Man wird so hin und hergeworfen von diesem Wechselschritt, bis man am Ende bemerkt, tatsächlich ins Tanzen gekommen zu sein. Es lag dann aber an der guten Führung! Und führen tut einen dieser Roman in die absonderlichsten Gegenden.
Michael Wildenhain hat einen Liebesroman geschrieben, der sich wie die Rache an der Berlin-Mitte-Literatur der letzten Jahre liest. Er ist von der Peripherie her geschrieben, und Nicht-Orte wie der Betriebsbahnhof Schöneweide, die Platte von Hellersdorf mitsamt ihren "ostzonalen Gestalten", die Rote Insel in Schöneberg oder das gute alte Westberliner Lankwitz haben darin ihren Auftritt. Auch London wird geographisch eher vom Rand her erzählt. Und die indische Kultur, unaufgeregt und doch selbstbewusst in den Roman gebettet, eröffnet neue Perspektiven auf den deutschen akademischen Austauschdienst der Körperflüssigkeiten.
Am Ende hinterlässt Wildenhains Roman den Eindruck einer Reise ins metropolitane Hinterland. Berlin erscheint darin als ein Ort, der noch unzählige unerzählte Geschichten in sich birgt. Der Kampf gegen rechts wird dabei zum Amalgam einer alten Beziehung, nicht aber zum Garanten für ein neues Leben im Zeichen der real gelebten Multikulturalität. Zu viel Gegensatz führt ins private Chaos: Schwarz und Weiß, Natur- und Geisteswissenschaft, Mann und Frau, Arm und Reich. Immerhin: Wenn man am Ende gemeinsam eine Bierflasche mit den Eckzähnen entkronen kann, wenn in dieser Geste so etwas wie Intimität aufblitzt, dann, so lehrt uns dieser Liebesroman, kann auch das Heulen der Polizeisirene Musik in den Ohren dieses modernen Odysseus sein.
KATHARINA TEUTSCH
Michael Wildenhain:
"Das Singen der Sirenen". Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Berlin von der Seite: Michael Wildenhains abenteuerliches Liebes- und Politspektakel "Das Singen der Sirenen"
Jörg Krippen heißt die Kanaille. Ehemaliger Aktivist im Berliner Häuserkampf, Mann von Sabrina, einer Frau, die Bierflaschen mit den Zähnen aufhebelt und subproletarisch schimpfen kann: "Du bist so was von Stulle, Krippen. Ostbrot ist gar nix dagegen." Vater des gemeinsamen Sohns Leon. Einerseits. Andererseits feinfühliger Akademiker, der an einer Arbeit über Frankenstein sitzt, der Theaterstücke schreibt, der immer wieder Forschungsstipendien in London wahrnimmt und dort einen amour fou mit einer indischstämmigen Engländerin beginnt. Der Jahre später mit einer anderen indischstämmigen Engländerin wieder einen amour fou beginnt und zu spät merkt, dass es sich bei den Frauen um Schwestern handelt. Auch taucht ein vaterloser Junge auf, Raj. Es wird behauptet, dass Jörg Krippen sein Vater ist. Später soll ein Gentest Klarheit schaffen, macht aber alles nur noch komplizierter
Michael Wildenhain hat mit "Das Singen der Sirenen" seinen intimsten Roman geschrieben. Der militante Häuserkampf, in dem man noch nicht gestalttherapeutisch mit Rechten reden musste, nimmt darin abermals eine wichtige Rolle ein. In kriminalistisch verschachtelter Erzählweise werden die Facetten eines widersprüchlichen Charakters preisgegeben. Unter dem Strich lässt sich so der Lebensweg eines Menschen nachvollziehen, der notorisch zwischen den Stühlen sitzt: zwischen den Lebensentwürfen, zwischen den Frauen, zwischen den Söhnen, zwischen den Städten. "Das Singen der Sirenen" könnte sich dabei auf die Funktion der Literatur selbst beziehen. "Der Gesang der Sirenen", so hieß ein literaturphilosophischer Essay von Maurice Blanchot aus dem Jahr 1962, in dem er die kulturelle Leistung des Romans darin sah, aus Odysseus Homer zu machen, aus einer Sirene eine Sängerin, aus einem Verhängnis eine Kulturtechnik. Ob Michael Wildenhain seinen Titel an diesen Schlüsseltext der literaturtheoretischen Postmoderne angelehnt hat, ist nicht bekannt. Dass seine Sirenen von einem großen Krieg künden, darf man allerdings angesichts der Gesamtanlage des Romans erwarten. Immer wieder wird unser Jörg Krippen, den es durchaus polyglott um den Globus, durch die Kulturen und Sprachen treibt, wieder zurückgerufen an den Ort des blutigen Faustkampfs. Mit seiner Sabrina verbindet ihn seit Jahren die elementare Erfahrung des bewaffneten Häuserkampfes.
Das ist der eine Jörg Krippen. Der andere entfaltet sein feingeistiges Potential erst als junges Genie an der FU, dann als Gast an einer englischen Universität. Eine junge Frau namens Mae, die seltsamerweise Deutsch spricht und von ihrem indischen Namen Mohini auf selbstverleugnende Weise nichts mehr wissen will, macht den Nachwuchswissenschaftler zu ihrem Geliebten, dann per Mitteilung auch zum Vater ihres Neffen. Mae und Krippen, ein Paar, das ungleicher nicht sein könnte. Sie, eine junge Nachwuchswissenschaftlerin, die an Stammzellen forscht. Er, ein alternder Frankensteinianer, der über künstliche Menschen nachdenkt. Er Anhänger der sozialen Vaterschaft. Sie die Herrscherin über den Gentest. Er Geisteswissenschaft. Sie Naturwissenschaft, und zwar überzeugt: "Was macht ihr? Ihr zitiert und zitiert. Bewegt euch in einer Welt des Erdachten. Indem ihr auf Erdachtes verweist." Und dann: Ein indischer Businessman taucht auf und wird als Cousin Kali vorgestellt. Er verhilft Jörg Krippen zu einem finanziell lukrativen Schreibjob, der nicht an Krippens Originalität scheitert, sondern an seinem ideologischen Tourette-Syndrom. Einmal Straßenkampf, immer Straßenkampf! Jörg Krippen verlässt die Geliebte und den neu gefundenen Sohn, um sich in sein altes Berliner Leben zurückzufügen. Eine Pegida-Demo dient als Kitt zwischen der kampferprobten Ex-Frau und dem Spätheimkehrer Krippen.
Es wäre an dieser Stelle nun nicht opportun, weitere Details der deutsch-englisch-indischen Liebesverwicklungen zu schildern. Dann hätte man quasi den Fall vor dem Leser gelöst. Deswegen sollen noch zwei andere Formmerkmale dieses Romans erwähnt werden. Zum einen ist die Sprache bemerkenswert. In seiner elliptischen Erzählweise ist der Roman nämlich zunächst ziemlich ermüdend, nimmt aber mit steigender Komplexität auch sprachlich Fahrt auf. Wildenhain bedient mehrere Stilregister, vom proletarischen Dialog über die expressionistische Seelenskizze, das naturalistische Sexfragment und die bürgerliche Milieubeschreibung. Man wird so hin und hergeworfen von diesem Wechselschritt, bis man am Ende bemerkt, tatsächlich ins Tanzen gekommen zu sein. Es lag dann aber an der guten Führung! Und führen tut einen dieser Roman in die absonderlichsten Gegenden.
Michael Wildenhain hat einen Liebesroman geschrieben, der sich wie die Rache an der Berlin-Mitte-Literatur der letzten Jahre liest. Er ist von der Peripherie her geschrieben, und Nicht-Orte wie der Betriebsbahnhof Schöneweide, die Platte von Hellersdorf mitsamt ihren "ostzonalen Gestalten", die Rote Insel in Schöneberg oder das gute alte Westberliner Lankwitz haben darin ihren Auftritt. Auch London wird geographisch eher vom Rand her erzählt. Und die indische Kultur, unaufgeregt und doch selbstbewusst in den Roman gebettet, eröffnet neue Perspektiven auf den deutschen akademischen Austauschdienst der Körperflüssigkeiten.
Am Ende hinterlässt Wildenhains Roman den Eindruck einer Reise ins metropolitane Hinterland. Berlin erscheint darin als ein Ort, der noch unzählige unerzählte Geschichten in sich birgt. Der Kampf gegen rechts wird dabei zum Amalgam einer alten Beziehung, nicht aber zum Garanten für ein neues Leben im Zeichen der real gelebten Multikulturalität. Zu viel Gegensatz führt ins private Chaos: Schwarz und Weiß, Natur- und Geisteswissenschaft, Mann und Frau, Arm und Reich. Immerhin: Wenn man am Ende gemeinsam eine Bierflasche mit den Eckzähnen entkronen kann, wenn in dieser Geste so etwas wie Intimität aufblitzt, dann, so lehrt uns dieser Liebesroman, kann auch das Heulen der Polizeisirene Musik in den Ohren dieses modernen Odysseus sein.
KATHARINA TEUTSCH
Michael Wildenhain:
"Das Singen der Sirenen". Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017. 320 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Teutsch liest Michael Wildenhains Liebesroman als "Rache an der Berlin-Mitte-Literatur" der letzten Jahre. Nicht nur, weil sie der Autor zu Randgebieten wie zum Betriebsbahnhof Schöneweide oder zur Hellersdorfer Platte mitnimmt, sondern auch, weil Wildenhain in seiner Geschichte um einen ehemaligen Aktivisten und Hausbesetzer, der als Wissenschaftler zwischen Berliner Ex-Frau und Sohn und indischstämmiger Geliebten in London hin- und herpendelt, dabei an Liebesverwicklungen und "ideologischem Tourette-Syndrom" scheitert, auf Zeiten pfeift, in denen man mit "Rechten reden" muss, erzählt die Kritikerin. "Intim" und "kriminalistisch verschachtelt" entfaltet der Autor diesen widersprüchlichen Charakter, lobt Teutsch. Und zu Wildenhains rasanten Wechseln zwischen verschiedenen Stilregistern möchte die Kritikerin am liebsten tanzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.01.2018Der moderne Prometheus
Michael Wildenhains Roman über einen Frankenstein-Spezialisten
experimentiert mit Motiven der Vererbung und Fortpflanzung
VON JÖRG MAGENAU
Wo beginnt die Liebe? Und wo endet sie? Michael Wildenhain gibt in seinem jüngsten Roman „Das Singen der Sirenen“ mehrere vertrackte Antworten auf die uralte Frage. Dass die Liebe etwas damit zu tun hat, Leben zu erzeugen, ist ihr offenes Geheimnis. Dass sie sich darin aber oft auch erschöpft, ist ihre Gefahr. So ist es auch dem Berliner Literaturwissenschaftler Jörg Krippen in dem Roman ergangen. Früher einmal war er ein Antifa-Kämpfer in Kreuzberg und Schöneweide, der sich in endlosen Schlachten mit Neonazis zerrieb, auf diesem Terrain seine spätere, sehr viel mutigere Frau kennenlernte, sich dann aber bald mit ihr in einer Kleinfamilie mit Kind in Hellersdorf wiederfand und in endlosen Alltagsstreitereien verlor.
Jetzt, am Beginn des Romans, kommt er, der vor Jahren ein hoffnungsvoller Jungdramatiker gewesen ist, als Gastdozent nach London, wo er die sehr viel jüngere, unwiderstehlich schöne, indischstämmige Naturwissenschaftlerin Mae kennenlernt. Sie befasst sich mit Abstammung und Reproduktionstechnologien. Sein Gebiet ist Mary Shelleys „Frankenstein“ und also die Fantasie der Erschaffung eines künstlichen Menschen. Ihr Labor mit Petrischalen, Erlenmeyerkolben und Mikroskopen mitten in einem gothic-artigen Campus ist demnach der passende Ort für die erste erotische Annäherung. Zum sexuellen Vollzug kommt es dann aber erst auf dem nahegelegenen Friedhof. Damit sind die Pole gesetzt, zwischen denen das Leben und die Liebe sich bewegen.
Das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften erzeugt zusätzliche Spannungen. Mae hält nicht viel von dem, was Jörg so treibt: Zitieren, nichts als zitieren, was andere zitiert haben und sich in nutzlosen Fiktionen verlieren! Sie dagegen habe mit „exakten Aussagen zu tun. Nicht irgendwelche Geschichten, die irgendwer erzählt.“ Leider hat der Literaturwissenschaftler ihr nur wenig entgegenzusetzen. Er zweifelt selbst an sich, anstatt ihr zu sagen, dass die Naturwissenschaften ohne eine Erzählung, die ihnen einen Rahmen gibt und ohne Philosophie, die sie begründet, noch nicht einmal über ihre eigene Bestimmung Auskunft geben könnten. Wildenhain vertraut darauf, dass der Roman, den er schreibt, ganz von alleine beweist, welche Schöpfungskraft in der Literatur steckt. Es muss ja nicht immer Frankenstein sein: Jeder gute Erzähler – und Wildenhain ist einer – schafft Figuren, die im besten Fall ihr Eigenleben gewinnen und die man nicht so schnell wieder vergisst.
Wildenhain benutzt eine mal explosive, mal expressionistisch zerklüftete, mal stakkatohafte Stenogrammsprache. Seine Sätze sind passagenweise bloß hingeschleuderte Wahrnehmungsbrocken, dann aber wieder bis zur Unleserlichkeit kunstvoll verschachtelte Gebilde, die alles an Bewusstseinsinhalten gleichzeitig aufnehmen wollen. Wildenhain ist ein präziser Beobachter, der äußere Bilder genauso exakt wie innere Gemütsbewegungen einzufangen weiß.
Auch die Kapitel und die Zeiten schieben sich ineinander. In die Londoner Gegenwart ragt die Vergangenheit Jörg Krippens hinein: Die Schlachten, die er auf politischem und familiärem Gelände schlug, sind noch nicht vorbei. Vor allem sind es die Erinnerungen an den kleinen Sohn Leon auf dem Sprungbrett im Schöneberger Stadtbad oder an dessen Bemühungen auf dem Fußballplatz, die immer wieder blitzartig in das neue Leben jenseits der Berliner Familie eindringen.
Doch auch in London stößt Krippen auf die eigenen Vergangenheit: Mae ist die Schwester einer schwer gestörten, drogenvernichteten Frau, mit der er mehr als ein Jahrzehnt zuvor eine flüchtige Affäre hatte. Jetzt stellt sich heraus, dass der elfjährige Raji, ein genialer Schach und stoischer Rugbyspieler, sein Sohn ist. Im weiteren Verlauf der Geschichte erfährt Jörg außerdem, dass Leon nicht sein leiblicher Sohn sein kann. So kommen sich zwischen dem Berliner Fußball- und dem Londoner Rugbyplatz seine biologische und die soziale Vaterschaft gehörig in die Quere. Er ist der moderne Mann in der Mitte seines Lebens, der zum Bleiben und zum Aufbrechen gleichermaßen zu schwach ist und nicht mehr weiß, wohin er gehört. So ist sein angestammter Platz der zwischen allen Stühlen, zwischen den Frauen, den Städten und den Söhnen.
Michael Wildenhain, der aus der Berliner Hausbesetzerszene kommt und einer der wenigen politisch ambitionierten Autoren seiner Generation ist, hat einen überraschend privaten, klug komponierten und spannenden Liebesroman geschrieben. Die Spannung bezieht er sowohl aus den Wendungen des Geschicks – meist sind es die Frauen, die entscheiden –, als auch aus der Frage, die ihn antreibt: Was Liebe und Abstammung miteinander zu tun haben und wie man seine eigene Position im Leben und Lieben findet. Diese Frage ist keineswegs unpolitisch. Sie ist jedenfalls weitreichender als die gelegentlich etwas klischeehaft geratenen Szenen, die ihren politischen Gehalt aus Baseballschlägern, Glatzen und Schlagringen zu gewinnen suchen. Diese Szenen liegen weit zurück in der Biografie des ratlosen Helden. Es könnte sein, dass Michael Wildenhain mit ihm zu neuen erzählerischen Ufern aufgebrochen ist, ohne aber das Politische hinter sich zu lassen.
Natur- und
Geisteswissenschaften prallen im
Londoner Exil aufeinander
Der Autor und ehemalige Hausbesetzer Michael Wildenhain.
Foto: Frank May/dpa
Michael Wildenhain:
Das Singen der Sirenen. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 320 Seiten, 22 Euro.
E-Book 17,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Michael Wildenhains Roman über einen Frankenstein-Spezialisten
experimentiert mit Motiven der Vererbung und Fortpflanzung
VON JÖRG MAGENAU
Wo beginnt die Liebe? Und wo endet sie? Michael Wildenhain gibt in seinem jüngsten Roman „Das Singen der Sirenen“ mehrere vertrackte Antworten auf die uralte Frage. Dass die Liebe etwas damit zu tun hat, Leben zu erzeugen, ist ihr offenes Geheimnis. Dass sie sich darin aber oft auch erschöpft, ist ihre Gefahr. So ist es auch dem Berliner Literaturwissenschaftler Jörg Krippen in dem Roman ergangen. Früher einmal war er ein Antifa-Kämpfer in Kreuzberg und Schöneweide, der sich in endlosen Schlachten mit Neonazis zerrieb, auf diesem Terrain seine spätere, sehr viel mutigere Frau kennenlernte, sich dann aber bald mit ihr in einer Kleinfamilie mit Kind in Hellersdorf wiederfand und in endlosen Alltagsstreitereien verlor.
Jetzt, am Beginn des Romans, kommt er, der vor Jahren ein hoffnungsvoller Jungdramatiker gewesen ist, als Gastdozent nach London, wo er die sehr viel jüngere, unwiderstehlich schöne, indischstämmige Naturwissenschaftlerin Mae kennenlernt. Sie befasst sich mit Abstammung und Reproduktionstechnologien. Sein Gebiet ist Mary Shelleys „Frankenstein“ und also die Fantasie der Erschaffung eines künstlichen Menschen. Ihr Labor mit Petrischalen, Erlenmeyerkolben und Mikroskopen mitten in einem gothic-artigen Campus ist demnach der passende Ort für die erste erotische Annäherung. Zum sexuellen Vollzug kommt es dann aber erst auf dem nahegelegenen Friedhof. Damit sind die Pole gesetzt, zwischen denen das Leben und die Liebe sich bewegen.
Das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften erzeugt zusätzliche Spannungen. Mae hält nicht viel von dem, was Jörg so treibt: Zitieren, nichts als zitieren, was andere zitiert haben und sich in nutzlosen Fiktionen verlieren! Sie dagegen habe mit „exakten Aussagen zu tun. Nicht irgendwelche Geschichten, die irgendwer erzählt.“ Leider hat der Literaturwissenschaftler ihr nur wenig entgegenzusetzen. Er zweifelt selbst an sich, anstatt ihr zu sagen, dass die Naturwissenschaften ohne eine Erzählung, die ihnen einen Rahmen gibt und ohne Philosophie, die sie begründet, noch nicht einmal über ihre eigene Bestimmung Auskunft geben könnten. Wildenhain vertraut darauf, dass der Roman, den er schreibt, ganz von alleine beweist, welche Schöpfungskraft in der Literatur steckt. Es muss ja nicht immer Frankenstein sein: Jeder gute Erzähler – und Wildenhain ist einer – schafft Figuren, die im besten Fall ihr Eigenleben gewinnen und die man nicht so schnell wieder vergisst.
Wildenhain benutzt eine mal explosive, mal expressionistisch zerklüftete, mal stakkatohafte Stenogrammsprache. Seine Sätze sind passagenweise bloß hingeschleuderte Wahrnehmungsbrocken, dann aber wieder bis zur Unleserlichkeit kunstvoll verschachtelte Gebilde, die alles an Bewusstseinsinhalten gleichzeitig aufnehmen wollen. Wildenhain ist ein präziser Beobachter, der äußere Bilder genauso exakt wie innere Gemütsbewegungen einzufangen weiß.
Auch die Kapitel und die Zeiten schieben sich ineinander. In die Londoner Gegenwart ragt die Vergangenheit Jörg Krippens hinein: Die Schlachten, die er auf politischem und familiärem Gelände schlug, sind noch nicht vorbei. Vor allem sind es die Erinnerungen an den kleinen Sohn Leon auf dem Sprungbrett im Schöneberger Stadtbad oder an dessen Bemühungen auf dem Fußballplatz, die immer wieder blitzartig in das neue Leben jenseits der Berliner Familie eindringen.
Doch auch in London stößt Krippen auf die eigenen Vergangenheit: Mae ist die Schwester einer schwer gestörten, drogenvernichteten Frau, mit der er mehr als ein Jahrzehnt zuvor eine flüchtige Affäre hatte. Jetzt stellt sich heraus, dass der elfjährige Raji, ein genialer Schach und stoischer Rugbyspieler, sein Sohn ist. Im weiteren Verlauf der Geschichte erfährt Jörg außerdem, dass Leon nicht sein leiblicher Sohn sein kann. So kommen sich zwischen dem Berliner Fußball- und dem Londoner Rugbyplatz seine biologische und die soziale Vaterschaft gehörig in die Quere. Er ist der moderne Mann in der Mitte seines Lebens, der zum Bleiben und zum Aufbrechen gleichermaßen zu schwach ist und nicht mehr weiß, wohin er gehört. So ist sein angestammter Platz der zwischen allen Stühlen, zwischen den Frauen, den Städten und den Söhnen.
Michael Wildenhain, der aus der Berliner Hausbesetzerszene kommt und einer der wenigen politisch ambitionierten Autoren seiner Generation ist, hat einen überraschend privaten, klug komponierten und spannenden Liebesroman geschrieben. Die Spannung bezieht er sowohl aus den Wendungen des Geschicks – meist sind es die Frauen, die entscheiden –, als auch aus der Frage, die ihn antreibt: Was Liebe und Abstammung miteinander zu tun haben und wie man seine eigene Position im Leben und Lieben findet. Diese Frage ist keineswegs unpolitisch. Sie ist jedenfalls weitreichender als die gelegentlich etwas klischeehaft geratenen Szenen, die ihren politischen Gehalt aus Baseballschlägern, Glatzen und Schlagringen zu gewinnen suchen. Diese Szenen liegen weit zurück in der Biografie des ratlosen Helden. Es könnte sein, dass Michael Wildenhain mit ihm zu neuen erzählerischen Ufern aufgebrochen ist, ohne aber das Politische hinter sich zu lassen.
Natur- und
Geisteswissenschaften prallen im
Londoner Exil aufeinander
Der Autor und ehemalige Hausbesetzer Michael Wildenhain.
Foto: Frank May/dpa
Michael Wildenhain:
Das Singen der Sirenen. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2017. 320 Seiten, 22 Euro.
E-Book 17,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Elliptische, staccatohafte Sätze wechseln mit einfachen Satzkonstruktionen, Gespräche, ausführliche Beschreibungen des urbanen Fluidums von London mit lebhaften Erinnerungen an Berliner Straßenkämpfe.« Cornelia Staudacher, Stuttgarter Zeitung, 07.02.2018 »Wildenhain ist ein präziser Beobachter, der äußere Bilder genauso exakt wie innere Gemütsbewegungen einzufangen weiß.« Jörg Magenau, Süddeutsche Zeitung, 19.01.2018 »Michael Wildenhains neuer Roman "Das Singen der Sirenen" gleicht einem pointillistischen Kunstwerk. Aus der unmittelbaren Nähe betrachtet, leuchtet die Mischung aus innerem Dialog, plötzlichem Gedankensprüngen in die Vergangenheit und der Intensität des unmittelbaren Erlebens auf. Mitunter verwirrt und irritiert diese Direktheit; sie macht den Leser zum Leidensgenossen Krippens, der verloren durch sein Leben stolpert, ohne Weitblick und Vision. Erst mit der Distanz verblasst die Leuchtkraft des Details und gibt den Blick auf die kluge Gesamtposition frei.« Britta Steinwachs, neues deutschland, 25.11.2017 »Ein prall lebensvolles, beobachtungsreiches Werk, dessen Autor sich nicht scheut, auch die Verwüstungen in den sozialen Gegebenheiten der Vielen, zugleich die Überlebenskräfte von diesen Alltagsmenschen unserer Gegenwart hellsichtig ans Licht zu bringen.« Erasmus Schöfer, SR2, 15.11.2017 »Wildenhain bedient mehrere Stilregister ... Man wird so hin- und hergeworfen von diesem Wechselschritt, bis man am Ende bemerkt, tatsächlich ins Tanzen gekommen zu sein. ... Michael Wildenhain hat einen Liebesroman geschrieben, der sich wie die Rache an der Berlin-Mitte-Literatur der letzten Jahre liest ... Wildenhains Roman hinterlässt den Eindruck einer Reise ins metropolitane Hinterland. Berlin erscheint darin als ein Ort, der noch unzählige unerzählte Geschichten in sich birgt.« Katharina Teutsch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.11.2017 »Um zu resümieren, was den großen zeitgeschichtlichen Inhalt dieses faszinierenden, mal sanften, mal brutalen, jedenfalls bilderreichen Erzählwerks ausmacht, so handelt es sich offenbar um ein in den Erfahrungen des einstigen Anarchisten und Hausbesetzers Wildenhain gründendes Monument der wild empörten und dann doch sich willfährig in die herrschende kommode Nachwendegesellschaft einpassenden Generation. Ein prall lebensvolles, beobachtungsreiches Werk, dessen Autor sich nicht scheut, auch die Verwüstungen in den sozialen Gegebenheiten der vielen, zugleich die Überlebenskräfte dieser Alltagsmenschen unserer Gegenwart hellsichtig ans Licht zu bringen.« Erasmus Schöfer, Junge Welt, 11.2017 »Aufgrund seiner Intensität zählt der Roman von Michael Wildenhain aber sicher schon jetzt zu den lesenswertesten des Jahres.« zuckerkick, 09.2017