Matt ist ein Klon. In Nancy Farmers erschreckender Zukunftsvision werden Menschen durch Implantate zu Arbeitsmaschinen umfunktioniert, Klone dienen als Organ-Ersatzteillager. Matts genetischer Vater ist der mächtige Drogenbaron El Patrón. Als dessen Herz schwächer wird, geht es um Matts Leben. Die Autorin hat einen charismatischen, verletzlichen Helden geschaffen - und einen atemberaubenden Science-Fiction-Roman über Freundschaft und Verlust, Menschenwürde und Verantwortung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2003Mein Leben - mein Klon
Nancy Farmers "Skorpionenhaus" ist bedrückend aktuell
Am Anfang war die Zellkultur. Ihr Ergebnis, der kleine Matt, tritt persönlich erst im Alter von knapp sechs Jahren auf. Wo er auch hinkommt, trifft er auf Ablehnung und Mißtrauen. Denn Matt ist der Klon von "El Patrón" Matteo Alacrán, dem steinalten Herrscher über ein Mohnanbau-Imperium, das von unzähligen "Migits" aufrechterhalten wird. Migits, das sind Menschen, die mit Implantaten zu willenlosen Arbeitsmaschinen umfunktioniert worden sind. Sie leben im Lande Opium, einem Landstrich zwischen Amerika und Aztlán, vormals Mexiko. Dort rangieren die Klone noch unterhalb der Tiere und dem Zombiekabinett der Migits.
Versteckt in den Mohnfeldern, wächst Matt bei der Köchin Celia in einer Hütte auf. Eines Tages wird er von spielenden Kindern entdeckt und in das pompöse Haus der Familie Alacrán gebracht. Dort hält man ihn wie Vieh, läßt ihm kaum mehr als das nackte Leben. In seiner Not schafft Matt sich eine eigene verschrobene Phantasiewelt. Als El Patrón schließlich davon erfährt, wird der Junge mit Celia in den herrschaftlichen Gemächern einquartiert, deren Bewohner ihn ihren Argwohn deutlich spüren lassen.
Es dauert lange, bis Matt das Trauma seiner Gefangenschaft überwunden hat und überhaupt wieder spricht. Neben Celia und dem Leibwächter Tam-Lin, der sein Freund und Lehrer wird, ist die gleichaltrige María die einzige ihm wohlgesinnte Person. Matts Empfindsamkeit und Intelligenz sind ein großzügiges, von El Patrón gewährtes Privileg. Normalerweise werden Klone im Lande Opium als organische Ersatzteillager gezüchtet und verfügbar gehalten, da stören Geistesgaben nur. Matteo Alacrán aber juckt es, Gott zu spielen. Mit bizarrer Zärtlichkeit nennt er Matt "mi vida": mein Leben. Der Junge liebt ihn wie einen unnahbaren Vater. Er liebt die Aura der Macht von El Patrón, dessen Souveränität, die Matt über die Verachtung ringsum hinwegtröstet.
Matts Geschichte bietet Abenteuer und Spannung, aber auch leisere Töne und ein kundig integriertes Kompendium bioethischer Fragen. Was Nancy Farmer hier an Motivik und Erzähltempo auffährt, verdichtet das Geschehen zu einem bestechenden Zukunftsszenario. Es kommt der Tag, an dem El Patrón trotz diverser physischer Aus- und Verbesserungen mit dem Tode ringt und Matt, mittlerweile vierzehn Jahre alt, seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt werden soll: Der alte Mann braucht ein neues Herz. Ein Fluchtversuch mißlingt, doch El Patrón stirbt aufgrund der Verzögerung. Matt ist nun vollends überflüssig. Seiner "Entsorgung" kann er sich im letzten Moment entziehen, er flieht über die Grenze in den Nachbarstaat Aztlán - und trifft auf eine völlig andere Welt, deren Glanz ihn allerdings nur für kurze Zeit blendet. Hier werden die Menschen nicht technisch programmiert, sondern auf altbewährte Art mit ideologischen Propaganda-Luftblasen zu willfährigen Arbeitern erzogen.
Matts biographische Odyssee ist ein ständiges Hadern mit der eigenen Identität. "Bin ich eine Maschine?" fragt er einmal seinen Leibwächter Tam-Lin. Immer wieder muß er sich mit der Besonderheit seines Lebens auseinandersetzen, nicht nur, weil andere seine Existenzberechtigung in Frage stellen. Doch ungeachtet der vielen Zweifel, die ihn plagen, ob er beispielsweise eine Seele hat, fühlt Matt vor allem ein brennendes Verlangen, zu leben und sein Schicksal sowie die Welt um sich herum zu gestalten. Beide Motive werden ihn zurückführen nach Opium.
Angesichts der Gerüchte um die Geburt erster Menschenklone erscheint Nancy Farmers negative Utopie nicht allzu futuristisch. Mißbrauch der biotechnischen Möglichkeiten, Organhandel, Herrschaftssysteme und Manipulation sind Themen unserer Zeit. Nancy Farmer führt sie zusammen, während sie ihren charismatischen, verletzlichen Protagonisten den Marathon seines Lebens laufen läßt - nicht jedoch ohne jenen Abgründen auch Zuneigung, Freundschaft und Liebe entgegenzusetzen, und auch ein wenig Humor.
"Das Skorpionenhaus" wurde in den Vereinigten Staaten mit dem National Book Award ausgezeichnet. Wenn Jugendliteratur die Eltern, Politiker und Wissenschaftler von morgen über ein brisantes Thema zum Nachdenken bringen soll, dann ist Nancy Farmers Art, routiniert, beinahe altmodisch und auf jeden Fall faszinierend zu erzählen, bestimmt ein guter Weg.
SIMONE GIESEN
Nancy Farmer: "Das Skorpionenhaus". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Martin Baresch. Loewe Verlag, Bindlach 2003. 402 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 13 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nancy Farmers "Skorpionenhaus" ist bedrückend aktuell
Am Anfang war die Zellkultur. Ihr Ergebnis, der kleine Matt, tritt persönlich erst im Alter von knapp sechs Jahren auf. Wo er auch hinkommt, trifft er auf Ablehnung und Mißtrauen. Denn Matt ist der Klon von "El Patrón" Matteo Alacrán, dem steinalten Herrscher über ein Mohnanbau-Imperium, das von unzähligen "Migits" aufrechterhalten wird. Migits, das sind Menschen, die mit Implantaten zu willenlosen Arbeitsmaschinen umfunktioniert worden sind. Sie leben im Lande Opium, einem Landstrich zwischen Amerika und Aztlán, vormals Mexiko. Dort rangieren die Klone noch unterhalb der Tiere und dem Zombiekabinett der Migits.
Versteckt in den Mohnfeldern, wächst Matt bei der Köchin Celia in einer Hütte auf. Eines Tages wird er von spielenden Kindern entdeckt und in das pompöse Haus der Familie Alacrán gebracht. Dort hält man ihn wie Vieh, läßt ihm kaum mehr als das nackte Leben. In seiner Not schafft Matt sich eine eigene verschrobene Phantasiewelt. Als El Patrón schließlich davon erfährt, wird der Junge mit Celia in den herrschaftlichen Gemächern einquartiert, deren Bewohner ihn ihren Argwohn deutlich spüren lassen.
Es dauert lange, bis Matt das Trauma seiner Gefangenschaft überwunden hat und überhaupt wieder spricht. Neben Celia und dem Leibwächter Tam-Lin, der sein Freund und Lehrer wird, ist die gleichaltrige María die einzige ihm wohlgesinnte Person. Matts Empfindsamkeit und Intelligenz sind ein großzügiges, von El Patrón gewährtes Privileg. Normalerweise werden Klone im Lande Opium als organische Ersatzteillager gezüchtet und verfügbar gehalten, da stören Geistesgaben nur. Matteo Alacrán aber juckt es, Gott zu spielen. Mit bizarrer Zärtlichkeit nennt er Matt "mi vida": mein Leben. Der Junge liebt ihn wie einen unnahbaren Vater. Er liebt die Aura der Macht von El Patrón, dessen Souveränität, die Matt über die Verachtung ringsum hinwegtröstet.
Matts Geschichte bietet Abenteuer und Spannung, aber auch leisere Töne und ein kundig integriertes Kompendium bioethischer Fragen. Was Nancy Farmer hier an Motivik und Erzähltempo auffährt, verdichtet das Geschehen zu einem bestechenden Zukunftsszenario. Es kommt der Tag, an dem El Patrón trotz diverser physischer Aus- und Verbesserungen mit dem Tode ringt und Matt, mittlerweile vierzehn Jahre alt, seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt werden soll: Der alte Mann braucht ein neues Herz. Ein Fluchtversuch mißlingt, doch El Patrón stirbt aufgrund der Verzögerung. Matt ist nun vollends überflüssig. Seiner "Entsorgung" kann er sich im letzten Moment entziehen, er flieht über die Grenze in den Nachbarstaat Aztlán - und trifft auf eine völlig andere Welt, deren Glanz ihn allerdings nur für kurze Zeit blendet. Hier werden die Menschen nicht technisch programmiert, sondern auf altbewährte Art mit ideologischen Propaganda-Luftblasen zu willfährigen Arbeitern erzogen.
Matts biographische Odyssee ist ein ständiges Hadern mit der eigenen Identität. "Bin ich eine Maschine?" fragt er einmal seinen Leibwächter Tam-Lin. Immer wieder muß er sich mit der Besonderheit seines Lebens auseinandersetzen, nicht nur, weil andere seine Existenzberechtigung in Frage stellen. Doch ungeachtet der vielen Zweifel, die ihn plagen, ob er beispielsweise eine Seele hat, fühlt Matt vor allem ein brennendes Verlangen, zu leben und sein Schicksal sowie die Welt um sich herum zu gestalten. Beide Motive werden ihn zurückführen nach Opium.
Angesichts der Gerüchte um die Geburt erster Menschenklone erscheint Nancy Farmers negative Utopie nicht allzu futuristisch. Mißbrauch der biotechnischen Möglichkeiten, Organhandel, Herrschaftssysteme und Manipulation sind Themen unserer Zeit. Nancy Farmer führt sie zusammen, während sie ihren charismatischen, verletzlichen Protagonisten den Marathon seines Lebens laufen läßt - nicht jedoch ohne jenen Abgründen auch Zuneigung, Freundschaft und Liebe entgegenzusetzen, und auch ein wenig Humor.
"Das Skorpionenhaus" wurde in den Vereinigten Staaten mit dem National Book Award ausgezeichnet. Wenn Jugendliteratur die Eltern, Politiker und Wissenschaftler von morgen über ein brisantes Thema zum Nachdenken bringen soll, dann ist Nancy Farmers Art, routiniert, beinahe altmodisch und auf jeden Fall faszinierend zu erzählen, bestimmt ein guter Weg.
SIMONE GIESEN
Nancy Farmer: "Das Skorpionenhaus". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Martin Baresch. Loewe Verlag, Bindlach 2003. 402 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 13 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mißbrauch der biotechnischen Möglichkeiten, Organhandel, Herrschaftssysteme und Manipulation sind Themen unserer Zeit. Nancy Farmer führt sie zusammen, nicht jedoch ohne jenen Abgründen auch Zuneigung, Freundschaft und Liebe entgegenzusetzen.
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