"SCHLÖGEL ERSPÜRT, ERTASTET DIMENSIONEN, DIE ANDERE HISTORIKER GAR NICHT WAHRNEHMEN." WELT AM SONNTAG
Der große Osteuropa-Historiker Karl Schlögel erzählt von der untergegangenen sowjetischen Welt in ihrem Jahrhundert. Er ist dabei, wenn die Megabauten des Kommunismus eingeweiht und die Massengräber des stalinschen Terrors freigelegt werden. Er erkundet die Weite des Eisenbahnlandes und die Enge der Gemeinschaftswohnung. Seine Archäologie legt Überlebensorte im Alltag frei - die Moskauer Küche oder die Warteschlange. Die Orte des Glücks und der kleinen Freiheit fehlen nicht. So entsteht das Panorama einer Zivilisation, die mehr war als das politische System und ohne die «die Zeit danach», in der wir heute leben, nicht zu verstehen ist.
Der große Osteuropa-Historiker Karl Schlögel lädt mit seiner Archäologie des Kommunismus zu einer Neuvermessung der sowjetischen Welt ein. Wir wussten immer schon viel darüber, wie "das System" funktioniert, weit weniger über die Routinen des Lebens in außergewöhnlichen Zeiten. Aber jedes Imperium hat seinen Sound, seinen Duft, seinen Rhythmus, der auch dann noch fortlebt, wenn das Reich aufgehört hat zu existieren. Karl Schlögel sondiert das Terrain, die historischen Schichten in einem von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg gezeichneten Land. Er lässt noch einmal die frühe sowjetische Moderne Revue passieren, die Schlachtfelder der Arbeit und der Verbrannten Erde. Er interessiert sich für Paraden der Macht ebenso sehr wie für die Rituale des Alltags, er erkundet die Weite des Eisenbahnlandes und die Enge der Gemeinschaftswohnung, in der Generationen von Sowjetmenschen ihr Leben zubrachten. Seine Archäologie legt soziale Orte frei, die einmal Überlebensorte im Alltag gewesen sind - die Moskauer Küche oder die Warteschlange mit der in ihr verausgabten Lebenszeit, der Kulturpark, die Datscha, die Ferien an der Roten Riviera. In allem - ob im Mobiliar, im Duft des Parfums, im Verstummen des Glockenklangs oder in der Stimme des Radiosprechers - hat das "Zeitalter der Extreme" seine Spur hinterlassen.
Der große Osteuropa-Historiker Karl Schlögel erzählt von der untergegangenen sowjetischen Welt in ihrem Jahrhundert. Er ist dabei, wenn die Megabauten des Kommunismus eingeweiht und die Massengräber des stalinschen Terrors freigelegt werden. Er erkundet die Weite des Eisenbahnlandes und die Enge der Gemeinschaftswohnung. Seine Archäologie legt Überlebensorte im Alltag frei - die Moskauer Küche oder die Warteschlange. Die Orte des Glücks und der kleinen Freiheit fehlen nicht. So entsteht das Panorama einer Zivilisation, die mehr war als das politische System und ohne die «die Zeit danach», in der wir heute leben, nicht zu verstehen ist.
Der große Osteuropa-Historiker Karl Schlögel lädt mit seiner Archäologie des Kommunismus zu einer Neuvermessung der sowjetischen Welt ein. Wir wussten immer schon viel darüber, wie "das System" funktioniert, weit weniger über die Routinen des Lebens in außergewöhnlichen Zeiten. Aber jedes Imperium hat seinen Sound, seinen Duft, seinen Rhythmus, der auch dann noch fortlebt, wenn das Reich aufgehört hat zu existieren. Karl Schlögel sondiert das Terrain, die historischen Schichten in einem von Krieg, Revolution und Bürgerkrieg gezeichneten Land. Er lässt noch einmal die frühe sowjetische Moderne Revue passieren, die Schlachtfelder der Arbeit und der Verbrannten Erde. Er interessiert sich für Paraden der Macht ebenso sehr wie für die Rituale des Alltags, er erkundet die Weite des Eisenbahnlandes und die Enge der Gemeinschaftswohnung, in der Generationen von Sowjetmenschen ihr Leben zubrachten. Seine Archäologie legt soziale Orte frei, die einmal Überlebensorte im Alltag gewesen sind - die Moskauer Küche oder die Warteschlange mit der in ihr verausgabten Lebenszeit, der Kulturpark, die Datscha, die Ferien an der Roten Riviera. In allem - ob im Mobiliar, im Duft des Parfums, im Verstummen des Glockenklangs oder in der Stimme des Radiosprechers - hat das "Zeitalter der Extreme" seine Spur hinterlassen.
"Schlögels ältere Texte lesen sich heute wie Menetekel."
Berliner Zeitung, Harry Nutt
Berliner Zeitung, Harry Nutt
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.02.2018Eine Verwandlung
Die amerikanische Historikerin Marci Shore schildert die ukrainische Revolution von innen.
Ihr bewegendes Buch ist eine Studie über Menschen in Ausnahmesituationen. Von Karl Schlögel
Es ist vier Jahre her, dass Scharfschützen von umliegenden Gebäuden in die Menschenmenge auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit im Zentrum von Kiew schossen. Zwischen dem 18. und 20. Februar wurden mehr als Hundert Menschen getötet, mehr als Tausend verletzt, Dutzende verschwanden spurlos. Die Aufarbeitung des Massakers kommt nur langsam voran, nur wenige Fälle sind geklärt und noch weniger endeten mit Schuldsprüchen. Der Hauptverantwortliche, Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch, lebt seit seiner Flucht in Russland.
Sich ein Bild zu machen von der ukrainischen Revolution ist trotz aller Live-Berichterstattung und Augenzeugenberichte schwer. Man muss genau hinsehen, wenn man inmitten der rasenden Beschleunigung der Zeit, angesichts der chaotischen und unübersichtlichen Abläufe herausfinden will, wie es dazu kam, dass der Maidan zum Ort einer unumkehrbaren Entscheidung wurde. Man müsste noch einmal zurück auf den Schauplatz, um jenen Umschlagspunkt zu erfassen, an dem die Situation kippte und es kein Zurück mehr gab. Zu viel war geschehen seit dem 20. November 2013, auf Regierungsseite eine Steigerung von Willkür und Gewalt, auf der Seite der Protestierenden, die der Kälte und allen Drohungen zum Trotz monatelang standgehalten hatten, ein wachsendes Zutrauen in die eigene Kraft.
Man müsste sich noch einmal die Abläufe vergegenwärtigen, um an jenen „historischen Augenblick“ heranzukommen, in dem sich alles entschied und „die Geschichte“ eine andere Wendung nahm. Den Film anhalten, die Szenen Stück für Stück durchspielen, hinhören, Akteure zu Wort kommen lassen, um herauszufinden, was sie letztlich dazu bewegt hat, eine Entscheidung zu treffen, bei der es nicht bloß um Ansichten und Meinungen, um einen „Standpunkt“ ging, sondern um etwas Existenzielles: Ob man bereit ist, das Risiko einzugehen, das schlimmstenfalls auch Leben und Gesundheit kosten könnte – das eigene oder das der Allernächsten und Liebsten.
Den Film anhalten, versuchen, an die innere Motivation, an die Erfahrung einer Grenzüberschreitung heranzukommen – das ist das, was Marci Shore in einer eindrücklichen, ja bewegenden Weise mit ihrem Buch über die „Ukrainische Nacht“ geleistet hat (Marci Shore: The Ukrainian Night. An Intimate History of Revolution, Yale University Press, New Haven 2018, 320 Seiten, 26 Dollar).
Marci Shore ist eine Historikerin, die mit ihrer Studie „Caviar and Ashes“ (2009) ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung über drei Generationen polnischer und jüdischer Intellektueller im 20. Jahrhundert abgeliefert hat, eine Amerikanerin, an der Ostküste ausgebildet, der das östliche Europa sprachlich, kulturell und lebensgeschichtlich zur zweiten Heimat geworden ist. Die Schicksale der dort Lebenden sind ihr mehr als nur ein Forschungsgegenstand, sondern Teil einer existenziellen und lebensgeschichtlichen Erfahrung.
Es handelt sich nicht um einen „Insider-Bericht“, in dem Netzwerke, klandestine Aktivitäten oder Organisationen, die auf dem Maidan eine Rolle gespielt haben, aufgedeckt werden, sondern um eine Erkundung und Beschreibung dessen, wie Menschen, die der Autorin nahe sind und deren Urteilskraft sie vertraut, durch die Umstände dazu gebracht wurden, sich entscheiden zu müssen. Es handelt sich meist um Freunde und Kollegen aus Universitäten, Kunst und Kultur, die von Hause aus keine politischen Ambitionen hatten.
„The Ukrainian Night“ ist eine Studie über gewöhnliche Menschen in Ausnahmesituationen. Marci Shore will dem nachgehen, was Menschen ihresgleichen dazu gebracht hat, sich in einer Situation so zu verhalten, wie sie sich verhalten hatten. Als Historikerin ist sie vertraut mit der Lage eines Landes, das im 20. Jahrhundert immer wieder Spiel- und Exerzierplatz anderer Mächte geworden ist, einer Nation, die ihrer eigenen Staatlichkeit beraubt worden ist, traumatisiert durch Hungersnot und Großen Terror in den 1930er-Jahren, und – als wäre das nicht genug – auch noch die deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg an sich erfuhr.
Marci Shore liefert ihre Analyse der Ereignisse auf dem Maidan in fünfzig knappen Einzelstudien (jede zwischen zwei und sieben Seiten), in der Form von Vignetten; es sind Szenen, die zusammengefügt ein Mosaik ergeben, eine Innenansicht von den molekularen Vorgängen, die in der Sprache der Historiker dann „Revolution“ heißen.
Es geht um die Herauspräparierung nur eines Augenblick, aber eines, den viele Menschen ihr ganzes Leben lang nicht durchlebt haben. Es ist der Moment der Empörung, wo Menschen aufhören, subalterne und geknechtete Wesen zu sein, und wo Mütter auf die Straße gehen, weil sie nicht zusehen wollen, wie die Berkut-Leute ihre Söhne und Töchter zusammenschlagen; wo sich auf dem Maidan ein neuer generationsübergreifender Erfahrungszusammenhang herausbildet – zwischen denen, die die Sowjetunion noch erlebt haben und der iPhone-Generation, die ganz im Jetzt lebt und ihre ersten Chancen wahrnimmt; wo sich Menschen begegnen, die sich sonst nie nahegekommen wären – der huzulische Schäfer, der IT-Spezialist, die Krankenschwester, der Rockmusiker. Wo Leute in der Verteidigung „ihrer“ Sache die ideologischen Schranken der Parteipolitik hinter sich lassen, und wo ein Vertrauen entsteht, das in einer weithin entpolitisierten und atomisierten Gesellschaft bis dahin unvorstellbar war. Entgegen aller russischen Propaganda zum ukrainischen Antisemitismus standen Juden und Ukrainer gemeinsam für die Verteidigung der Unabhängigkeit ihres Staates ein.
Wir werden, den Berichten und Reflexionen zuhörend, Zeugen einer Verwandlung aus gewöhnlichen Bürgern in Bürger eines Gemeinwesens, die bereit sind, das größte Risiko für Leib und Leben einzugehen. Wir erfahren, dass es so etwas gibt wie: Solidarität, geboren aus dem Willen zur Selbstbehauptung und Verteidigung der menschlichen Würde. Wir lernen, dass es Situationen gibt, in denen, ohne in falsches Pathos zu verfallen, das eitle Spiel konkurrierender Singularitäten vorbei ist und man von einem „Ende der Ambivalenz“ sprechen kann, da der Entscheidungsraum eng geworden ist.
Es liegt an Shores Erkenntnisinteresse, wenn das Engagement der Leute vom Maidan im Zentrum steht, und nicht das seiner Gegner, aber selbstverständlich kommen auch die Stimmen der Zögernden, der Bedenkenträger und Realisten, vor allem auch des Donbass – jener „aus der Zeit gefallenen“ Industrieregion – zu Wort sowie die Klage über die „Doppelmoral des Westens“. Da schreibt jemand, der vertraut ist mit der phänomenologischen Sicht Edmund Husserls und vor allem Jan Patočkas. So entsteht eine molekulare Geschichte der Revolution, eine Wahrnehmungsgeschichte der Vielen und ihrer Motive, ihrer Urteile und Entscheidungen, die sich letztlich in dem großen Ganzen, des Kampfes für eine gemeinsame gerechte Sache wiederfinden.
Es gibt keine Teleologie des geschichtlichen Prozesses, sondern alles hängt am Vorhandensein von zivilen Kräften und am Ausgang des Kräftemessens zwischen einer sich selbst organisierenden Gemeinschaft und einem wild um sich schlagenden Staat. Shores Buch ist fast ein Gegenstück zu John Reeds faszinierender Reportage „10 Tage, die die Welt erschütterten“ über das Jahr 1917, nun als Innenansicht einer Umwälzung, gedacht von den vielen Einzelnen her, nicht von einer Avantgarde, die auf den Wellen der Erregung verzweifelter Massen reitet. Sie beschreibt eine Polisbildung im Zentrum der ukrainischen Metropole.
In Zeiten, in denen sich in Europa eine ukrainische fatigue breit gemacht hat und alle nur in Ruhe gelassen werden wollen von der sogenannten „ukrainischen Krise“, kommt das Buch rechtzeitig. Es widersteht dem naheliegenden Wunsch einer nostalgischen Verklärung oder heroischen Beschwörung, aber hält doch fest, dass es den Maidan, die ukrainische Revolution, gegeben hat. Das gilt jetzt, wo es an Anlässen für Resignation – das Treiben von Oligarchen, unverzeihliche Dummheiten der ukrainischen Führung, unausrottbar scheinende Korruption – nicht mangelt, ganz besonders. Wer Marci Shores genaues und bewegendes Buch gelesen hat, weiß, dass die ukrainische Revolution noch nicht vollendet ist.
Der Historiker Karl Schlögel veröffentlichte 2015 „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“ (Carl Hanser Verlag). Sein jüngstes Buch „Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt“ (Verlag C.H. Beck) ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Im Moment der Empörung
begegnen sich Menschen, die sich
sonst nie nahegekommen wären
Wir erfahren, dass es so etwas gibt
wie: Solidarität, geboren aus dem
Willen zur Selbstbehauptung
Marci Shore beschreibt eine Polisbildung im Zentrum der ukrainischen Metropole – Kiew, 20. Februar 2014.
Foto: Reuters
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die amerikanische Historikerin Marci Shore schildert die ukrainische Revolution von innen.
Ihr bewegendes Buch ist eine Studie über Menschen in Ausnahmesituationen. Von Karl Schlögel
Es ist vier Jahre her, dass Scharfschützen von umliegenden Gebäuden in die Menschenmenge auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit im Zentrum von Kiew schossen. Zwischen dem 18. und 20. Februar wurden mehr als Hundert Menschen getötet, mehr als Tausend verletzt, Dutzende verschwanden spurlos. Die Aufarbeitung des Massakers kommt nur langsam voran, nur wenige Fälle sind geklärt und noch weniger endeten mit Schuldsprüchen. Der Hauptverantwortliche, Ex-Präsident Wiktor Janukowitsch, lebt seit seiner Flucht in Russland.
Sich ein Bild zu machen von der ukrainischen Revolution ist trotz aller Live-Berichterstattung und Augenzeugenberichte schwer. Man muss genau hinsehen, wenn man inmitten der rasenden Beschleunigung der Zeit, angesichts der chaotischen und unübersichtlichen Abläufe herausfinden will, wie es dazu kam, dass der Maidan zum Ort einer unumkehrbaren Entscheidung wurde. Man müsste noch einmal zurück auf den Schauplatz, um jenen Umschlagspunkt zu erfassen, an dem die Situation kippte und es kein Zurück mehr gab. Zu viel war geschehen seit dem 20. November 2013, auf Regierungsseite eine Steigerung von Willkür und Gewalt, auf der Seite der Protestierenden, die der Kälte und allen Drohungen zum Trotz monatelang standgehalten hatten, ein wachsendes Zutrauen in die eigene Kraft.
Man müsste sich noch einmal die Abläufe vergegenwärtigen, um an jenen „historischen Augenblick“ heranzukommen, in dem sich alles entschied und „die Geschichte“ eine andere Wendung nahm. Den Film anhalten, die Szenen Stück für Stück durchspielen, hinhören, Akteure zu Wort kommen lassen, um herauszufinden, was sie letztlich dazu bewegt hat, eine Entscheidung zu treffen, bei der es nicht bloß um Ansichten und Meinungen, um einen „Standpunkt“ ging, sondern um etwas Existenzielles: Ob man bereit ist, das Risiko einzugehen, das schlimmstenfalls auch Leben und Gesundheit kosten könnte – das eigene oder das der Allernächsten und Liebsten.
Den Film anhalten, versuchen, an die innere Motivation, an die Erfahrung einer Grenzüberschreitung heranzukommen – das ist das, was Marci Shore in einer eindrücklichen, ja bewegenden Weise mit ihrem Buch über die „Ukrainische Nacht“ geleistet hat (Marci Shore: The Ukrainian Night. An Intimate History of Revolution, Yale University Press, New Haven 2018, 320 Seiten, 26 Dollar).
Marci Shore ist eine Historikerin, die mit ihrer Studie „Caviar and Ashes“ (2009) ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung über drei Generationen polnischer und jüdischer Intellektueller im 20. Jahrhundert abgeliefert hat, eine Amerikanerin, an der Ostküste ausgebildet, der das östliche Europa sprachlich, kulturell und lebensgeschichtlich zur zweiten Heimat geworden ist. Die Schicksale der dort Lebenden sind ihr mehr als nur ein Forschungsgegenstand, sondern Teil einer existenziellen und lebensgeschichtlichen Erfahrung.
Es handelt sich nicht um einen „Insider-Bericht“, in dem Netzwerke, klandestine Aktivitäten oder Organisationen, die auf dem Maidan eine Rolle gespielt haben, aufgedeckt werden, sondern um eine Erkundung und Beschreibung dessen, wie Menschen, die der Autorin nahe sind und deren Urteilskraft sie vertraut, durch die Umstände dazu gebracht wurden, sich entscheiden zu müssen. Es handelt sich meist um Freunde und Kollegen aus Universitäten, Kunst und Kultur, die von Hause aus keine politischen Ambitionen hatten.
„The Ukrainian Night“ ist eine Studie über gewöhnliche Menschen in Ausnahmesituationen. Marci Shore will dem nachgehen, was Menschen ihresgleichen dazu gebracht hat, sich in einer Situation so zu verhalten, wie sie sich verhalten hatten. Als Historikerin ist sie vertraut mit der Lage eines Landes, das im 20. Jahrhundert immer wieder Spiel- und Exerzierplatz anderer Mächte geworden ist, einer Nation, die ihrer eigenen Staatlichkeit beraubt worden ist, traumatisiert durch Hungersnot und Großen Terror in den 1930er-Jahren, und – als wäre das nicht genug – auch noch die deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg an sich erfuhr.
Marci Shore liefert ihre Analyse der Ereignisse auf dem Maidan in fünfzig knappen Einzelstudien (jede zwischen zwei und sieben Seiten), in der Form von Vignetten; es sind Szenen, die zusammengefügt ein Mosaik ergeben, eine Innenansicht von den molekularen Vorgängen, die in der Sprache der Historiker dann „Revolution“ heißen.
Es geht um die Herauspräparierung nur eines Augenblick, aber eines, den viele Menschen ihr ganzes Leben lang nicht durchlebt haben. Es ist der Moment der Empörung, wo Menschen aufhören, subalterne und geknechtete Wesen zu sein, und wo Mütter auf die Straße gehen, weil sie nicht zusehen wollen, wie die Berkut-Leute ihre Söhne und Töchter zusammenschlagen; wo sich auf dem Maidan ein neuer generationsübergreifender Erfahrungszusammenhang herausbildet – zwischen denen, die die Sowjetunion noch erlebt haben und der iPhone-Generation, die ganz im Jetzt lebt und ihre ersten Chancen wahrnimmt; wo sich Menschen begegnen, die sich sonst nie nahegekommen wären – der huzulische Schäfer, der IT-Spezialist, die Krankenschwester, der Rockmusiker. Wo Leute in der Verteidigung „ihrer“ Sache die ideologischen Schranken der Parteipolitik hinter sich lassen, und wo ein Vertrauen entsteht, das in einer weithin entpolitisierten und atomisierten Gesellschaft bis dahin unvorstellbar war. Entgegen aller russischen Propaganda zum ukrainischen Antisemitismus standen Juden und Ukrainer gemeinsam für die Verteidigung der Unabhängigkeit ihres Staates ein.
Wir werden, den Berichten und Reflexionen zuhörend, Zeugen einer Verwandlung aus gewöhnlichen Bürgern in Bürger eines Gemeinwesens, die bereit sind, das größte Risiko für Leib und Leben einzugehen. Wir erfahren, dass es so etwas gibt wie: Solidarität, geboren aus dem Willen zur Selbstbehauptung und Verteidigung der menschlichen Würde. Wir lernen, dass es Situationen gibt, in denen, ohne in falsches Pathos zu verfallen, das eitle Spiel konkurrierender Singularitäten vorbei ist und man von einem „Ende der Ambivalenz“ sprechen kann, da der Entscheidungsraum eng geworden ist.
Es liegt an Shores Erkenntnisinteresse, wenn das Engagement der Leute vom Maidan im Zentrum steht, und nicht das seiner Gegner, aber selbstverständlich kommen auch die Stimmen der Zögernden, der Bedenkenträger und Realisten, vor allem auch des Donbass – jener „aus der Zeit gefallenen“ Industrieregion – zu Wort sowie die Klage über die „Doppelmoral des Westens“. Da schreibt jemand, der vertraut ist mit der phänomenologischen Sicht Edmund Husserls und vor allem Jan Patočkas. So entsteht eine molekulare Geschichte der Revolution, eine Wahrnehmungsgeschichte der Vielen und ihrer Motive, ihrer Urteile und Entscheidungen, die sich letztlich in dem großen Ganzen, des Kampfes für eine gemeinsame gerechte Sache wiederfinden.
Es gibt keine Teleologie des geschichtlichen Prozesses, sondern alles hängt am Vorhandensein von zivilen Kräften und am Ausgang des Kräftemessens zwischen einer sich selbst organisierenden Gemeinschaft und einem wild um sich schlagenden Staat. Shores Buch ist fast ein Gegenstück zu John Reeds faszinierender Reportage „10 Tage, die die Welt erschütterten“ über das Jahr 1917, nun als Innenansicht einer Umwälzung, gedacht von den vielen Einzelnen her, nicht von einer Avantgarde, die auf den Wellen der Erregung verzweifelter Massen reitet. Sie beschreibt eine Polisbildung im Zentrum der ukrainischen Metropole.
In Zeiten, in denen sich in Europa eine ukrainische fatigue breit gemacht hat und alle nur in Ruhe gelassen werden wollen von der sogenannten „ukrainischen Krise“, kommt das Buch rechtzeitig. Es widersteht dem naheliegenden Wunsch einer nostalgischen Verklärung oder heroischen Beschwörung, aber hält doch fest, dass es den Maidan, die ukrainische Revolution, gegeben hat. Das gilt jetzt, wo es an Anlässen für Resignation – das Treiben von Oligarchen, unverzeihliche Dummheiten der ukrainischen Führung, unausrottbar scheinende Korruption – nicht mangelt, ganz besonders. Wer Marci Shores genaues und bewegendes Buch gelesen hat, weiß, dass die ukrainische Revolution noch nicht vollendet ist.
Der Historiker Karl Schlögel veröffentlichte 2015 „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“ (Carl Hanser Verlag). Sein jüngstes Buch „Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt“ (Verlag C.H. Beck) ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Im Moment der Empörung
begegnen sich Menschen, die sich
sonst nie nahegekommen wären
Wir erfahren, dass es so etwas gibt
wie: Solidarität, geboren aus dem
Willen zur Selbstbehauptung
Marci Shore beschreibt eine Polisbildung im Zentrum der ukrainischen Metropole – Kiew, 20. Februar 2014.
Foto: Reuters
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2017Im Museum der Revolution
Einhundert Jahre nach der Oktoberrevolution rücken die Umrisse der Sowjetunion immer ferner. Der Historiker Karl Schlögel versucht nun, die "Sowjetzivilisation" in ihrer Totalität zu rekonstruieren - den Klang, den Duft, eine ganze Kultur
Der russische Designer Hassan Bachajew machte eine Serie von Collagen, die von vielen Medien übernommen und auf Facebook tausendfach geteilt wurde: Junge Opfer von Stalins Regime in modernen Kleidern und modernen Umgebungen, in einem Café oder vor einer Graffitiwand. Menschen, die in den 1930ern erschossen wurden, versetzte Bachajew in die Gegenwart, indem er Gesichter aus Gerichtsakten in heutige Porträtfotos montiert hat. Dieser sportliche Muskelmann, diese verträumte Studentin, dieser aufgetakelte Hipster werden bald verhaftet, gefoltert, als japanische Spione oder Terroristen zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet. So hautnah, so schrecklich.
Der russische Internetriese Yandex präsentiert in einem großen Projekt das Jahr 1917 als ein Newsfeed von Blogeinträgen, Tweets und Nachrichtenmeldungen, alles authentische Texte aus Tagebüchern, Briefen und Zeitungen jener Zeit. Am 7. November inszenierte das Projektteam zusammen mit einem Nachrichtenportal eine Liveübertragung der bolschewistischen Machtergreifung. Sie wirkte gar nicht so außerirdisch neben tatsächlichen Meldungen des Tages: 400 Menschen in sechs Städten verhaftet, meistens nichtsahnende Passanten, die laut Behörden an illegalen Protestaktionen teilgenommen haben sollen, von denen niemand etwas gehört hatte.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion wird in deren Nachfolgestaaten sehr unterschiedlich an sie gedacht. In Weißrussland tut man so, als wäre sie immer noch da, als bestünde sie aus sauberen Straßen, roten Fahnen und niedrigen Löhnen. In der Ukraine oder in Georgien, deren Teile Russland besetzt hat, gilt auch die Sowjetzeit offiziell als Besatzung. Und in Russland selbst spürt man sehr deutlich, dass die Sowjetunion nicht ganz untergegangen ist. Dennoch rückt sie auch dort immer ferner, ihre Umrisse werden immer verschwommener. Selbst Politiker und Nostalgiker, die sie wiederzubeleben versuchen, können sich an sie nicht mehr so richtig erinnern und gestalten ihre Reinkarnationen frei nach eigenem Geschmack. Stalindenkmäler und Massenverhaftungen, deren "historische Rekonstruktionen" hier und da mit wohlwollender Zustimmung der Behörden bei Volksfesten aufgeführt werden, hat man in den letzten drei Jahrzehnten der UdSSR nicht mehr gesehen und wohl kaum vermisst. Willkürliche Repressalien von heute, die jeden beliebigen Bürger zufällig treffen können, haben mit der starren Ordnung der Stagnationszeit weniger gemein als mit der Zeit des Großen Terrors. Doch anders als damals wird heute niemand hingerichtet, und die Maßstäbe sind bei weitem nicht dieselben: Genug, um die Bürger zu verunsichern, ohne sie in lähmende Angst zu versetzen. Die Freiheiten und Einschränkungen waren damals und jetzt ganz unterschiedlich gemischt, immerhin kann man heute zur Not ins Ausland fliehen. Der notorisch ineffiziente Staatsapparat der Breschnewzeit kann einem im Vergleich mit heutigen Behörden wie ein Schweizer Uhrwerk vorkommen. Ob das wirklich stimmt? Wie war sie denn, die Sowjetunion, was war sie, wie hat sie sich angefühlt?
Einen beeindruckenden Versuch, die "Sowjetzivilisation" in ihrer Totalität zu rekonstruieren, unternahm der Historiker Karl Schlögel. Sein voluminöses, neunhundert Seiten umfassendes Buch "Das sowjetische Jahrhundert" ist prädestiniert, so wie alle seine Bücher, zum Standardwerk und zur Pflichtlektüre für alle Osteuropainteressierten zu werden. Das Buch trägt den Untertitel "Archäologie einer untergegangenen Welt", die ausgegrabenen Objekte arrangiert Schlögel zu einem musée imaginaire, wie er es in Anlehnung an das imaginäre Museum der Weltkunst von André Malraux nennt. "Es gibt für die Einrichtung eines solchen Museums kaum einen besseren Ort als ,die Lubjanka' in Moskau: der Sitz der Geheimdienste, verwandelt in ein Forum der offenen Gesellschaft", schreibt Schlögel, und macht den monströsen Sitz von KGB-FSB zu einem seiner Exponate: Ein Kapitel ist eigens dem Gebäude, seiner Architektur, seinen Mitarbeitern und Insassen gewidmet.
In diesem Buch bewegt man sich tatsächlich wie in einem Museum. Hier sind überdimensionierte Industrieobjekte, da Fotos, hier Orden und Karten, da Kleinkram wie Verpackungspapier, Porzellanelefanten und Türklingeln, hier Krematorien, da Warteschlangen, Arbeitslager und das Urlaubsparadies auf der Krim, ohne die die Sowjetunion unvollständig wäre.
Das vorrevolutionäre Russland ist nicht das eigentliche Thema, doch es kommt immer wieder zum Vorschein. Ein Kapitel - oder sollte man besser sagen, ein Saal - heißt "Das Klavier im Kulturpalast"; eine solche Einrichtung gab es in jedem noch so kleinen Städtchen und in so gut wie jedem größeren Dorf, und ein Klavier gehörte unbedingt dazu. "Russland war bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Revolution ein Land mit einer hochentwickelten Klavierproduktion, deren Anfänge schon ins 18. Jahrhundert zurückdatieren", erzählt Schlögel, allein in Sankt Petersburg gab es 16 Klavierfabriken und 41 Werkstätten, im ganzen Land zählte man Dutzende davon. Die Nachfrage war groß, ein Klavier bildete das Zentrum einer bürgerlichen Wohnung in jedem Teil des Russischen Reichs. Klavierbau war ein traditionelles deutsches Handwerk; nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mussten die Klavierbauer als feindliche Ausländer ihre Firmen aufgeben und das Land verlassen, die Nichtdeutschen folgten nach der Revolution. Die Klaviere, umgedeutet zu Symbolen des "alten Lebens", wurden beschlagnahmt, und die, die nicht verheizt wurden, landeten in Klubs und Schulen. Auf diese Weise entstand die immer noch lebendige Tradition, dass ein Klavier zur Standardeinrichtung einer Schulklasse gehört. Als aber das Volkskommissariat für Volksaufklärung 1927 beschlossen hatte, die Klavierproduktion wiederaufzunehmen, war kaum noch jemand da, der es hätte machen können. Es dauerte sieben Jahre, bis in der Sowjetunion der erste Konzertflügel gebaut werden konnte.
Ein ähnliches Schicksal traf die ebenfalls im 18. Jahrhundert von französischen Einwanderern gegründete russische Kosmetikindustrie. Es ist kein Zufall, dass der berühmteste sowjetische Duft "Krasnaja Moskwa - Rotes Moskau" eine unglaubliche Ähnlichkeit mit Chanel Nr. 5 besitzt: Beide wurden praktisch von denselben Leuten auf derselben Grundlage entwickelt, dem "Bouquet Catherine II" der russischen Firma Brocar und Co.
Auch Großbauten der frühen Sowjetzeit wären undenkbar ohne Ausländer, mit dem einzigen wesentlichen Unterschied, dass es nun keine Einwanderer waren, sondern "Gastarbeiter", und sie lebten unter besseren Bedingungen als ihre sowjetischen Kollegen, die wenigen hochqualifizierten Fachkräfte, die nicht ins Ausland gegangen waren und nach einem Jahrzehnt von Chaos und Zerstörung ihr Lebenswerk fortsetzen konnten.
Im Süden des Urals, in der Steppe, wurde binnen kürzester Zeit ein gewaltiges Stahlwerk gebaut und die dazugehörende Stadt Magnitogorsk. "Die Technologie für das ,modernste Stahlwerk der Welt', die man im eigenen Land nicht finden kann, lieferte die unter Kontrakt genommene US-Firma McKee aus Cleveland für 2,5 Millionen Goldrubel. Und für die amerikanischen und die deutschen Ingenieure, die auf Zentralheizung, fließendes Wasser und die Lektüre der "Saturday Evening Post" nicht verzichten können, wird in Berjoski ein Klein-Amerika aus 150 Cottages errichtet, das noch heute zu bestaunen ist." Sowjetische Arbeiter, ein Drittel von ihnen Häftlinge, lebten in Baracken, Zelten und Erdlöchern. Ähnlich ging es beim Bau des Dnjepr-Staudamms zu: "Auf Dnjeprostroj gab es eine amerikanische Kolonie, die unter privilegierten Verhältnissen lebte - in eigens für sie errichteten Häusern, ausgestattet mit Tennis Courts und Wagenpark -, sogar besondere Lebensmittel sollen per Schiff herbeigeschafft worden sein."
Wie in jedem Museum sind die Exponate im "Sowjetischen Jahrhundert" nicht gleichwertig. Neben echten Perlen, wie der Geschichte der "Großen Sowjetischen Enzyklopädie", die ihre Herausgeber und Autoren verschlang, weil sie den Schwingungen der Generallinie nicht schnell genug folgen konnten, findet sich auch relativ wertloses Zeug. Karl Schlögel versieht fast jedes Kapitel mit endlosen Aufzählungen von Berufsständen, Orten, Marken, als könne er sich vom hypnotisierenden Stil der Leitartikel der "Prawda" nicht befreien. Etwas mehr Dynamik hätte diesem Buch bestimmt gutgetan. Da es aber ein Museum ist, stört es nicht wirklich: Jeder Museumsbesucher kann sich so schnell bewegen, wie es ihm beliebt.
NIKOLAI KLIMENIOUK
Karl Schlögel: "Das sowjetische Jahrhundert". C. H. Beck, 912 Seiten, 38 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einhundert Jahre nach der Oktoberrevolution rücken die Umrisse der Sowjetunion immer ferner. Der Historiker Karl Schlögel versucht nun, die "Sowjetzivilisation" in ihrer Totalität zu rekonstruieren - den Klang, den Duft, eine ganze Kultur
Der russische Designer Hassan Bachajew machte eine Serie von Collagen, die von vielen Medien übernommen und auf Facebook tausendfach geteilt wurde: Junge Opfer von Stalins Regime in modernen Kleidern und modernen Umgebungen, in einem Café oder vor einer Graffitiwand. Menschen, die in den 1930ern erschossen wurden, versetzte Bachajew in die Gegenwart, indem er Gesichter aus Gerichtsakten in heutige Porträtfotos montiert hat. Dieser sportliche Muskelmann, diese verträumte Studentin, dieser aufgetakelte Hipster werden bald verhaftet, gefoltert, als japanische Spione oder Terroristen zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet. So hautnah, so schrecklich.
Der russische Internetriese Yandex präsentiert in einem großen Projekt das Jahr 1917 als ein Newsfeed von Blogeinträgen, Tweets und Nachrichtenmeldungen, alles authentische Texte aus Tagebüchern, Briefen und Zeitungen jener Zeit. Am 7. November inszenierte das Projektteam zusammen mit einem Nachrichtenportal eine Liveübertragung der bolschewistischen Machtergreifung. Sie wirkte gar nicht so außerirdisch neben tatsächlichen Meldungen des Tages: 400 Menschen in sechs Städten verhaftet, meistens nichtsahnende Passanten, die laut Behörden an illegalen Protestaktionen teilgenommen haben sollen, von denen niemand etwas gehört hatte.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion wird in deren Nachfolgestaaten sehr unterschiedlich an sie gedacht. In Weißrussland tut man so, als wäre sie immer noch da, als bestünde sie aus sauberen Straßen, roten Fahnen und niedrigen Löhnen. In der Ukraine oder in Georgien, deren Teile Russland besetzt hat, gilt auch die Sowjetzeit offiziell als Besatzung. Und in Russland selbst spürt man sehr deutlich, dass die Sowjetunion nicht ganz untergegangen ist. Dennoch rückt sie auch dort immer ferner, ihre Umrisse werden immer verschwommener. Selbst Politiker und Nostalgiker, die sie wiederzubeleben versuchen, können sich an sie nicht mehr so richtig erinnern und gestalten ihre Reinkarnationen frei nach eigenem Geschmack. Stalindenkmäler und Massenverhaftungen, deren "historische Rekonstruktionen" hier und da mit wohlwollender Zustimmung der Behörden bei Volksfesten aufgeführt werden, hat man in den letzten drei Jahrzehnten der UdSSR nicht mehr gesehen und wohl kaum vermisst. Willkürliche Repressalien von heute, die jeden beliebigen Bürger zufällig treffen können, haben mit der starren Ordnung der Stagnationszeit weniger gemein als mit der Zeit des Großen Terrors. Doch anders als damals wird heute niemand hingerichtet, und die Maßstäbe sind bei weitem nicht dieselben: Genug, um die Bürger zu verunsichern, ohne sie in lähmende Angst zu versetzen. Die Freiheiten und Einschränkungen waren damals und jetzt ganz unterschiedlich gemischt, immerhin kann man heute zur Not ins Ausland fliehen. Der notorisch ineffiziente Staatsapparat der Breschnewzeit kann einem im Vergleich mit heutigen Behörden wie ein Schweizer Uhrwerk vorkommen. Ob das wirklich stimmt? Wie war sie denn, die Sowjetunion, was war sie, wie hat sie sich angefühlt?
Einen beeindruckenden Versuch, die "Sowjetzivilisation" in ihrer Totalität zu rekonstruieren, unternahm der Historiker Karl Schlögel. Sein voluminöses, neunhundert Seiten umfassendes Buch "Das sowjetische Jahrhundert" ist prädestiniert, so wie alle seine Bücher, zum Standardwerk und zur Pflichtlektüre für alle Osteuropainteressierten zu werden. Das Buch trägt den Untertitel "Archäologie einer untergegangenen Welt", die ausgegrabenen Objekte arrangiert Schlögel zu einem musée imaginaire, wie er es in Anlehnung an das imaginäre Museum der Weltkunst von André Malraux nennt. "Es gibt für die Einrichtung eines solchen Museums kaum einen besseren Ort als ,die Lubjanka' in Moskau: der Sitz der Geheimdienste, verwandelt in ein Forum der offenen Gesellschaft", schreibt Schlögel, und macht den monströsen Sitz von KGB-FSB zu einem seiner Exponate: Ein Kapitel ist eigens dem Gebäude, seiner Architektur, seinen Mitarbeitern und Insassen gewidmet.
In diesem Buch bewegt man sich tatsächlich wie in einem Museum. Hier sind überdimensionierte Industrieobjekte, da Fotos, hier Orden und Karten, da Kleinkram wie Verpackungspapier, Porzellanelefanten und Türklingeln, hier Krematorien, da Warteschlangen, Arbeitslager und das Urlaubsparadies auf der Krim, ohne die die Sowjetunion unvollständig wäre.
Das vorrevolutionäre Russland ist nicht das eigentliche Thema, doch es kommt immer wieder zum Vorschein. Ein Kapitel - oder sollte man besser sagen, ein Saal - heißt "Das Klavier im Kulturpalast"; eine solche Einrichtung gab es in jedem noch so kleinen Städtchen und in so gut wie jedem größeren Dorf, und ein Klavier gehörte unbedingt dazu. "Russland war bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Revolution ein Land mit einer hochentwickelten Klavierproduktion, deren Anfänge schon ins 18. Jahrhundert zurückdatieren", erzählt Schlögel, allein in Sankt Petersburg gab es 16 Klavierfabriken und 41 Werkstätten, im ganzen Land zählte man Dutzende davon. Die Nachfrage war groß, ein Klavier bildete das Zentrum einer bürgerlichen Wohnung in jedem Teil des Russischen Reichs. Klavierbau war ein traditionelles deutsches Handwerk; nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mussten die Klavierbauer als feindliche Ausländer ihre Firmen aufgeben und das Land verlassen, die Nichtdeutschen folgten nach der Revolution. Die Klaviere, umgedeutet zu Symbolen des "alten Lebens", wurden beschlagnahmt, und die, die nicht verheizt wurden, landeten in Klubs und Schulen. Auf diese Weise entstand die immer noch lebendige Tradition, dass ein Klavier zur Standardeinrichtung einer Schulklasse gehört. Als aber das Volkskommissariat für Volksaufklärung 1927 beschlossen hatte, die Klavierproduktion wiederaufzunehmen, war kaum noch jemand da, der es hätte machen können. Es dauerte sieben Jahre, bis in der Sowjetunion der erste Konzertflügel gebaut werden konnte.
Ein ähnliches Schicksal traf die ebenfalls im 18. Jahrhundert von französischen Einwanderern gegründete russische Kosmetikindustrie. Es ist kein Zufall, dass der berühmteste sowjetische Duft "Krasnaja Moskwa - Rotes Moskau" eine unglaubliche Ähnlichkeit mit Chanel Nr. 5 besitzt: Beide wurden praktisch von denselben Leuten auf derselben Grundlage entwickelt, dem "Bouquet Catherine II" der russischen Firma Brocar und Co.
Auch Großbauten der frühen Sowjetzeit wären undenkbar ohne Ausländer, mit dem einzigen wesentlichen Unterschied, dass es nun keine Einwanderer waren, sondern "Gastarbeiter", und sie lebten unter besseren Bedingungen als ihre sowjetischen Kollegen, die wenigen hochqualifizierten Fachkräfte, die nicht ins Ausland gegangen waren und nach einem Jahrzehnt von Chaos und Zerstörung ihr Lebenswerk fortsetzen konnten.
Im Süden des Urals, in der Steppe, wurde binnen kürzester Zeit ein gewaltiges Stahlwerk gebaut und die dazugehörende Stadt Magnitogorsk. "Die Technologie für das ,modernste Stahlwerk der Welt', die man im eigenen Land nicht finden kann, lieferte die unter Kontrakt genommene US-Firma McKee aus Cleveland für 2,5 Millionen Goldrubel. Und für die amerikanischen und die deutschen Ingenieure, die auf Zentralheizung, fließendes Wasser und die Lektüre der "Saturday Evening Post" nicht verzichten können, wird in Berjoski ein Klein-Amerika aus 150 Cottages errichtet, das noch heute zu bestaunen ist." Sowjetische Arbeiter, ein Drittel von ihnen Häftlinge, lebten in Baracken, Zelten und Erdlöchern. Ähnlich ging es beim Bau des Dnjepr-Staudamms zu: "Auf Dnjeprostroj gab es eine amerikanische Kolonie, die unter privilegierten Verhältnissen lebte - in eigens für sie errichteten Häusern, ausgestattet mit Tennis Courts und Wagenpark -, sogar besondere Lebensmittel sollen per Schiff herbeigeschafft worden sein."
Wie in jedem Museum sind die Exponate im "Sowjetischen Jahrhundert" nicht gleichwertig. Neben echten Perlen, wie der Geschichte der "Großen Sowjetischen Enzyklopädie", die ihre Herausgeber und Autoren verschlang, weil sie den Schwingungen der Generallinie nicht schnell genug folgen konnten, findet sich auch relativ wertloses Zeug. Karl Schlögel versieht fast jedes Kapitel mit endlosen Aufzählungen von Berufsständen, Orten, Marken, als könne er sich vom hypnotisierenden Stil der Leitartikel der "Prawda" nicht befreien. Etwas mehr Dynamik hätte diesem Buch bestimmt gutgetan. Da es aber ein Museum ist, stört es nicht wirklich: Jeder Museumsbesucher kann sich so schnell bewegen, wie es ihm beliebt.
NIKOLAI KLIMENIOUK
Karl Schlögel: "Das sowjetische Jahrhundert". C. H. Beck, 912 Seiten, 38 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein beeindruckendes Panorama einer untergegangenen Welt, ohne deren Verständnis auch die Zeit danach ein Rätsel bleibt."
Stuttgarter Zeitung, Simon Rilling
"Schlögel findet überall Einzigartiges, das vom Paradigmatischen erzählt. Schlögels Museum macht Spaß und liefert unzählige überraschende Einsichten."
Tania Martini, Die Tageszeitung, 17. März 2018
"Eines jener wunderbaren Bücher, in die man lesend hineinplumpst und hofft, es möge nicht enden."
Barbara Kerneck, Die Tageszeitung, 27. Februar 2018
"Bild für Bild und Relikt für Relikt rekonstruiert der Autor diese Welt, die nach 1989 unterging und heute kaum noch zu fassen ist. Er beschreibt die Enge des Alltags für den 'homo sovieticus' und die Weite der Ambitionen einer zunächst revolutionären, dann totalitären, schließlich nur noch siechen Weltmacht. Und die bittere Kluft zwischen beidem."
Christian Ruf, Dresdner Neuste Nachrichten, 5. März 2018
"Mein Buch des Jahres!"
André Fischer, Nürnberger Zeitung, 29. Dezmber 2017
"Eine Lektüre (...), in der die Zeit im besten Sinne aufgehoben ist."
Elke Schmitter, SPIEGEL Online, 14. Dezember 2017
"Ein grandioses Buch."
Jörg Später, Badische Zeitung, 15. November 2017
"Er erspürt, ertastet Dimensionen, die andere Historiker gar nicht wahrnehmen: Alltagskultur, das gemeine Leben."
Richard Herzinger und Andrea Seibel, WELT am Sonntag, 5. November 2017
"Eine spannend geschriebene archäologische Enzyklopädie."
Kerstin Holm, FAZ, 27. Oktober 2017
"Großartiges Porträt einer untergegangenen Wel."
Michael Thumann, Die ZEIT, 19. Oktober 2017
"Ein imaginäres Museum der Sowjet-Zivilisation."
Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung Messebeilage, 10. Oktober 2017
"Ein Museumsführer durch sowjetische Lebenswelten jenseits der herkömmlichen historischen Quellen (...) Hier agiert jemand, der uns mit seinem Wissensschatz den Blick erweitert."
Jörg Himmelreich, Deutschlandfunk Kultur, 30. September 2017
Stuttgarter Zeitung, Simon Rilling
"Schlögel findet überall Einzigartiges, das vom Paradigmatischen erzählt. Schlögels Museum macht Spaß und liefert unzählige überraschende Einsichten."
Tania Martini, Die Tageszeitung, 17. März 2018
"Eines jener wunderbaren Bücher, in die man lesend hineinplumpst und hofft, es möge nicht enden."
Barbara Kerneck, Die Tageszeitung, 27. Februar 2018
"Bild für Bild und Relikt für Relikt rekonstruiert der Autor diese Welt, die nach 1989 unterging und heute kaum noch zu fassen ist. Er beschreibt die Enge des Alltags für den 'homo sovieticus' und die Weite der Ambitionen einer zunächst revolutionären, dann totalitären, schließlich nur noch siechen Weltmacht. Und die bittere Kluft zwischen beidem."
Christian Ruf, Dresdner Neuste Nachrichten, 5. März 2018
"Mein Buch des Jahres!"
André Fischer, Nürnberger Zeitung, 29. Dezmber 2017
"Eine Lektüre (...), in der die Zeit im besten Sinne aufgehoben ist."
Elke Schmitter, SPIEGEL Online, 14. Dezember 2017
"Ein grandioses Buch."
Jörg Später, Badische Zeitung, 15. November 2017
"Er erspürt, ertastet Dimensionen, die andere Historiker gar nicht wahrnehmen: Alltagskultur, das gemeine Leben."
Richard Herzinger und Andrea Seibel, WELT am Sonntag, 5. November 2017
"Eine spannend geschriebene archäologische Enzyklopädie."
Kerstin Holm, FAZ, 27. Oktober 2017
"Großartiges Porträt einer untergegangenen Wel."
Michael Thumann, Die ZEIT, 19. Oktober 2017
"Ein imaginäres Museum der Sowjet-Zivilisation."
Jens Bisky, Süddeutsche Zeitung Messebeilage, 10. Oktober 2017
"Ein Museumsführer durch sowjetische Lebenswelten jenseits der herkömmlichen historischen Quellen (...) Hier agiert jemand, der uns mit seinem Wissensschatz den Blick erweitert."
Jörg Himmelreich, Deutschlandfunk Kultur, 30. September 2017