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Das Massenfest war ein Herrschaftsmittel der Bolschewiki.
Feste dienten als Instrument, politische Ziele zu popularisieren und die Untertanen zu formen. Durch Paraden und Aufmärsche vermittelte der Propagandastaat seine kulturellen Standards und seine Weltanschauung. Mit dem Fest präsentierte die bolschewistische Inszenierungsdiktatur ihre Leistungen und visualisierte die neue gesellschaftliche Ordnung. Festexperten entwickelten »rote« Rituale und Kommissionen planten aufwendige Choreografien. Nach Stalins Tod entideologisierten sich die Feste zunehmend und verlagerten sich in den privaten…mehr

Produktbeschreibung
Das Massenfest war ein Herrschaftsmittel der Bolschewiki.

Feste dienten als Instrument, politische Ziele zu popularisieren und die Untertanen zu formen. Durch Paraden und Aufmärsche vermittelte der Propagandastaat seine kulturellen Standards und seine Weltanschauung. Mit dem Fest präsentierte die bolschewistische Inszenierungsdiktatur ihre Leistungen und visualisierte die neue gesellschaftliche Ordnung. Festexperten entwickelten »rote« Rituale und Kommissionen planten aufwendige Choreografien. Nach Stalins Tod entideologisierten sich die Feste zunehmend und verlagerten sich in den privaten Raum.

Malte Rolfs mehrfach ausgezeichnete Studie verfolgt, wie Regionales, Traditionelles und Privates die zeremoniellen Praktiken prägten und sich mit offiziellen Normen zu einer hybriden Festkultur verbanden. Die Feiertage des roten Kalenders erhielten eine gesellschaftliche Bedeutung, die ihr Weiterleben auch nach dem Ende der Sowjetunion sicherte.
Autorenporträt
Malte Rolf, Prof. Dr., Historiker, ist Professor für die Geschichte Mittel- und Osteuropas an der Universität Bamberg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2006

Aufmarsch der Massen
Anlässe, Choreographie, Symbolsprache, Liturgie und Riten in der sowjetischen staatlichen Festkultur

Im Mai 1995, dreieinhalb Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion, feierte Moskau den 50. Jahrestag des Sieges. Die Feier demonstrierte Kontinuität und Bruch zugleich. Die Hauptstadt der Russischen Föderation hatte sich herausgeputzt. Seit Wochen waren Reinigungs- und Malerkolonnen unterwegs gewesen, zahlreiche Gebäude hatten einen neuen Anstrich erhalten. Blumenrabatten und reichlich Fahnenschmuck säumten die Einfallstraßen. Die russische Trikolore hing neben rotem Tuch, der wiedereingeführte zarische Doppeladler neben dem Sowjetstern mit Hammer und Sichel. Von Hauswänden, die früher Lenin vorbehalten waren, blickte gestreng Marschall Schukow, der Verteidiger Moskaus und Eroberer Berlins. Ihm, der 1945 auf einem weißen Pferd die Siegesparade angeführt hatte, war mitten in der Stadt ein Reiterdenkmal errichtet worden.

Zum ersten Mal seit dem Zerfall des Sowjetreiches bestieg ein russischer Staatschef - gefolgt von seiner Regierungsmannschaft - wieder die Tribüne des Leninmausoleums auf dem Roten Platz, um den Vorbeimarsch der Kriegsveteranen abzunehmen. Viereinhalbtausend zwischen 65 und 85 waren dafür ausgewählt und neu eingekleidet worden. Die eigentliche Militärparade, mit 10 000 aktiven Soldaten, klingendem Spiel und technischem Gerät, war aus der Innenstadt weg an den westlichen Stadtrand verlegt worden. Sie fand nun im "Siegespark" auf dem "Verneigungshügel" statt. In fieberhafter Eile war er - pünktlich zum Jahrestag - fertiggestellt worden: Vor dem Halbrund des gewaltigen Hauptbaus, dem Kriegsmuseum, hatte man aus Stahlbeton einen hohen Obelisken errichtet. Eine Nike-Skulptur, die allein 20 bis 30 Tonnen wog und unterhalb der Spitze angebracht war, wies ihn als Siegesmonument aus. Der Obelisk selbst sollte ein Bajonett darstellen, die Höhe von 141 Meter und 80 Zentimeter die 1418 Tage des Krieges symbolisieren, und die Fontänen, die zum Monument hinführten und nachts rot angestrahlt werden konnten, das millionenfach vergossene Blut sowjetischer Soldaten.

Erinnerten die Bildsprache und die Monumentalität an vergleichbare Anlagen aus der Sowjetzeit, so stand am Fuße des Obelisken nun - allerdings nicht weniger monumental - ein Reiterstandbild des heiligen Georg, des Drachentöters. Nicht weit davon hatte man ihm - als drittes Bauwerk im Architekturensemble - eine Kirche errichtet und damit an jene Tradition aus vorrevolutionärer Zeit angeknüpft, nach der große Siege auch mit Kirchenstiftungen gefeiert wurden. So saß denn der Patriarch in der ersten Reihe, neben dem russischen Präsidenten Jelzin und den ausländischen Regierungschefs, als das Monument am 9. Mai eingeweiht wurde.

Der Anlaß (der 9. Mai), die Schauplätze (Roter Platz und neuer Siegespark), der Wappen- und Fahnenschmuck, die Beteiligten (die Herrschenden, die oben auf dem Mausoleum standen oder in der ersten Reihe saßen, die Veteranen und Soldaten, die unten vorbeimarschierten, das einfache Volk als Umstand und Publikum des Ganzen) - das alles folgte einem genauen Plan. Wer dessen politische Botschaft entschlüsseln und wissen wollte, wo die neuen Machthaber Traditionen fortzusetzen, wo mit ihnen zu brechen versprachen, tat sich leichter, wenn er die Anlässe, die Choreographie, die Symbolsprache, die Liturgie und die Riten des sowjetischen Massenspektakels kannte und im Gedächtnis hatte. Ihre Geschichte ist Gegenstand der Studie von Malte Rolf. Die gewichtige Darstellung beruht auf langjährigen Archivstudien in Moskau und in der russischen Provinz, auf der Auswertung von Dokumentensammlungen, Reiseberichten, Memoiren und einer nicht unbeträchtlichen Forschungsliteratur, die in den vergangenen Jahren zu Fest und Festkultur erschienen ist. Rolfs Annäherung ist die der Kulturgeschichte, sie bestimmt die Fragestellung, die Sprache und die Begrifflichkeit.

Nach einem ersten Kapitel zu "Vorgängern und Vorgeschichte", den "Festen im Zarenreich", beschreibt das zweite die "Diskurse und Formationen", die das sowjetische Massenfest hervorbrachten, zusammen mit einem dichten Organisationsnetz, das vom Zentrum bis hinunter in die ländlichen Amtsbezirke reichte und die didaktische Leitlinie vorgab. Rolf widmet das dritte Kapitel ihren "Inszenierungen", dem "sowjetischen Fest als Gesamtkunstwerk", das den "Roten Kalender" als neue Zeitrechnung einführte, die "sozialistische Stadt" zur Bühne erklärte, das alte Zentrum usurpierte oder sich ein neues schuf, wo im Festvollzug "Repräsentationen von Herrschaft und Hierarchien" zur Schau gestellt wurden.

Das "sowjetische Fest zwischen Herrschaft und Gesellschaft" ist Gegenstand des vierten Kapitels. Sein Thema ist die "Kolonisierung des öffentlichen Raums" als "kulturelle Praxis", als "Chronotop, in dem Menschen miteinander kommunizieren und über Machtpositionen verhandeln, Macht ausüben und/oder Ohnmacht verspüren", sowie seine Verortung "im Propagandastaat". Das fünfte Kapitel, "Kontextualisierungen" überschrieben, wagt den Vergleich mit der Festkultur des faschistischen Italien, des nationalsozialistischen Deutschland und (kontrastierend dazu) der demokratischen Vereinigten Staaten. Es sieht das "sowjetische Fest in der longue durée", beschreibt es in der Zeit zwischen 1941 und 1953, auch als "Export" in den besetzten Gebieten und Volksrepubliken, gibt einen knappen Überblick über die Zeit zwischen 1953 und 1991, fragt nach der "neuen Festkultur" in der Zeit danach und nach dem "sowjetischen Fest als Erinnerungsort".

Ein so anspruchsvolles Programm macht zeitliche und thematische Fokussierungen unausweichlich. Daher liegt der Schwerpunkt der Untersuchung eindeutig auf den zwanziger und dreißiger Jahren, als die festtäglichen Ansammlungen immer mehr zu sorgsam in Szene gesetzten Massenkundgebungen wurden. Sie demonstrierten die "Errungenschaften" der Sowjetunion, versprachen eine noch bessere Zukunft und priesen die Weisheit der Führung. Sie machten schon in der Choreographie klar, wer "oben" und wer "unten" stand, wer die Entwicklung anführte (Soldaten, Stoßarbeiter, Jugendliche und Sportler), wer hinterhermarschierte, wer nicht dazu gehörte. Und sie sorgten auch für den anschließenden vergnüglichen Teil, nahmen das Volksfest ("narodnoe guljan'e") in staatliche Regie.

Für die Jahre davor (vor 1921) und danach (nach 1941) konnten verständlicherweise nur Beobachtungen formuliert, Fingerzeige gegeben, Grundlinien nachgezogen werden. Doch auch in diesen Teilen ist es ein kluges, zum weiteren Nachdenken anregendes Buch. Bei der Darstellung hat sich der Verfasser strikt auf die kulturgeschichtliche Analyse konzentriert, sich breitere Schilderungen von Festen und Festlichkeiten offenkundig bewußt verkniffen. Sogar bei den kleinformatigen Abbildungen wurde auf eine eingehende Kommentierung dessen, was darauf zu sehen ist, verzichtet. Eigentlich schade, war doch das Optische, das Anschauliche gerade Teil der "Inszenierungen", ihres "Textes", ihrer politischen Botschaft. Beim nachsowjetischen Massenfest ist es, wie der Blick auf die Siegesfeier 1995 zeigen sollte, nicht anders.

HELMUT ALTRICHTER

Malte Rolf: Das sowjetische Massenfest. Hamburger Edition, Hamburg 2006. 454 S., 35,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Beeindruckt zeigt sich Rezensent Helmut Altrichter von dieser umfangreichen Studie über die Kulturgeschichte der Massenspektakel in der Sowjetunion, die Malte Rolf nun vorgelegt hat. Er würdigt die langjährigen Archivstudien, die der Autor für sein Werk in Moskau und in der russischen Provinz auf sich genommen hat, wo er Dokumentensammlungen, Reiseberichte, Memoiren und Forschungsliteratur ausgewertet hat. Die zeitliche und thematische Konzentration auf bestimmte Bereiche, die Rolf vornimmt, erscheint dem Rezensenten notwendig und auch nachvollziehbar. Als Schwerpunkt der Untersuchung gibt er die zwanziger und dreißiger Jahre an. Damals mutierten die festtäglichen Ansammlungen immer mehr zu sorgfältig inszenierten Massenkundgebungen, welche die "Errungenschaften" der Sowjetunion demonstrierten und eine noch bessere Zukunft versprachen. Aber auch die Zeit davor (vor 1921) und danach (nach 1941) stelle der Autor umrisshaft dar. Das Resümee des Rezensenten: ein "kluges, zum weiteren Nachdenken anregendes Buch".

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