Martin, sechsundsiebzig, wird von einer ärztlichen Diagnose erschreckt: Ihm bleiben nur noch wenige Monate. Sein Leben und seine Liebe gehören seiner jungen Frau und seinem sechsjährigen Sohn. Was kann er noch für sie tun? Was kann er ihnen geben, was ihnen hinterlassen? Martin möchte alles richtig machen. Doch auch für das späte Leben gilt: Es steckt voller Überraschungen und Herausforderungen, denen er sich stellen muss.
»Bernhard Schlink gehört zu den größten Begabungen der deutschen Gegenwartsliteratur. Er ist ein einfühlsamer, scharf beobachtender und überaus intelligenter Erzähler. Seine Prosa ist klar, präzise und von schöner Eleganz.« Michael Kluger / Frankfurter Neue Presse Frankfurter Neue Presse
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
"Trost und Einsicht" spendet Bernhard Schlinks neuer Roman Rezensent Marc Reichwein. In Schlinks Geschichte über den unheilbar kranken Martin verbinden sich "Moralphilosophie" und "Existenzfragen", so Reichwein, mit den Mitteln der Unterhaltungsliteratur, also einer einfachen und zugänglichen Sprache (wie es Schlinks Credo ist). Martin muss nun entscheiden, was er mit den ihm verbliebenen Wochen anfangen will, er entschließt, seinem kleinen Sohn einen Brief zu hinterlassen. Dieser behandelt die großen Themen Liebe, Glaube, Herkunft und soll seinem Kind eine Lebenshilfe sein - dient dem Protagonisten aber auch als Mittel zur Selbstreflexion. Ein paar nicht ganz so originelle Nebenfiguren kann der Rezensent verzeihen, denn die Manier, mit der Schlink hier über den Tod reflektivert, überzeugt ihn auf alle Fälle.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.12.2023Was der Tod uns lehrt
In Bernhard Schlinks Roman "Das späte Leben" muss ein Mann nach einer schlimmen Diagnose seine letzten Dinge regeln - und stellt fest, wie wenig er über das Leben weiß.
In diesem Roman variiert Bernhard Schlink das von Michel de Montaigne in seinem ersten Essay bearbeitete Motiv: Philosophieren heißt sterben lernen. Der französische Philosoph aus dem späten sechzehnten Jahrhundert war ein Mann mit mehreren und ganz verschiedenen Karrieren, ganz wie Schlink heute. Und beide kehren in einer ähnlichen Absicht zu diesem fundamentalen Problem zurück, nämlich um im Lichte des uns allen sicheren Todes das Leben davor besser zu verstehen und intensiver zu genießen.
In den bewegten Zeiten Montaignes konnte man dem Tod nicht ausweichen: Bürgerkriege, Katastrophen und Seuchen waren allgegenwärtig, die Menschen kippten links und rechts tot um. Heute fällt das Verdrängen leicht, und im Alltag wähnen wir uns gerne unsterblich: Das Sterben wird als vermeidbare Krankheit oder dummer Unfall missverstanden. Doch das Problem bleibt bestehen: Was lehrt mich der Tod über mein Leben? Mit bildungsbürgerlicher Geschicklichkeit führt Schlink seine heutigen Leserinnen und Leser an diese alte Frage heran.
Man fühlt sich bei der Lektüre durchgehend wohl und spürt gar nicht, wie man dem Autor ins Netz geht. Der Protagonist Martin ist deutlich älter als seine Partnerin Ulla, die Mutter ihres gemeinsamen Sohnes David. Ihr Leben spielt sich in der vollendeten Gediegenheit bundesrepublikanischer Bourgeoisie ab, wie man sie aus dem Manufactum-Katalog oder der Vorabendwerbung im Fernsehen kennt: Wenn das Kind im Bett liegt, besprechen die Eltern bei einem guten Glas Wein ihren Tag.
Geldsorgen, Weihnachtswahnsinn, die düstere Weltlage, ein tyrannischer Chef – der gesamte Kosmos der Heimsuchungen, die uns sonst immerzu beanspruchen, wird kunstfertig ausgeblendet. Alles scheint diese Familie zu haben, ihre Sorgen passen auf einen kleinen gelben Klebezettel. Bis die Diagnose alles ändert. Die gute Ordnung des Lebens davor ist ein Trick, um den Schrecken für alle nachvollziehbar zu machen, und führt zu einer Übertragung des Problems auf Leserin und Leser. Wie würde ich, wie würdest du handeln, wenn die Lebenszeit medizinisch unabweisbar ermittelt worden wäre?
In dieser Geschichte sind es immerhin einige Wochen, und Geld ist auch genug da, sodass man frei überlegen kann. Gibt es Botschaften, die noch zu vermitteln wären? Erfahrungen, die man vermissen würde? Es ist typisch für die subtile Komik des Buchs, dass der kranke Vater auf den Gedanken kommt, seinem kleinen Sohn die Verantwortung für einen noch anzulegenden Komposthaufen zu übertragen, bis die Mutter nachvollziehbarerweise fragt, was das denn soll.
Martin ist ein recht deutsches Exemplar von Mann, der in der guten Erledigung von Aufgaben die optimale Kommunikations- und Existenzform sieht. Als er in einem heiklen Moment ihrer Beziehung einwilligt, mit seiner Frau ein Tänzchen zu wagen, memoriert er die Schrittmuster aus dem gemeinsamen Tanzkurs. Als sei die korrekte Ausführung der Anweisungen schon der ganze Sinn der Sache.
In dieser gut gemeinten, aber emotional arg beschränkten Art und Weise schreibt er dem jungen Sohn einen langen Brief mit allerlei guten Ratschlägen, die insgesamt die Empfehlung einer Vita activa in bildungsbürgerlichen Institutionen formulieren. Die jüngere Mutter ist Künstlerin und entsetzt, als sie den Brief findet. Sie erkennt darin ein Dokument sozialer Reproduktion, wie es der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Klassiker „Die feinen Unterschiede“ nicht besser hätte abbilden können. Ist das alles, was ein Vater einem Sohn mitzuteilen hat?
Ulla hat freilich ihre eigene Vatergeschichte, auch sie wird hier entfaltet. Andererseits gewährt Martins durchgängig rationale Herangehensweise an seine Geschichte und Diagnose den Lesern eine angenehme Distanz und so den Raum, sich eigene Gedanken zu machen. Der Roman kommt ohne Kitsch aus, und bei diesem Thema ist das große Kunst.
Sehr viel, was solche schicksalhaften Situationen beeinflusst und belastet, ist hier ausgefiltert: kein medizinisches Diagnose- und Behandlungschaos, kein Auf und Ab der Therapien und Eingriffe, keine Freunde und Verwandten, die noch einmal kommen möchten. Es ist eine ideale Todeskrankheit, an die man sich gedanklich gerade so herantraut.
Im Laufe der Geschichte sickert mehr Leben in die zu Beginn so wohlgestaltete Kulisse. Die mehr und mehr auch körperlich wahrnehmbare Endlichkeit des Protagonisten Martin bringt eine Wahrheit hervor, welche die alltäglichen Arrangements angenehm zu verbergen wussten. Gerade, weil es eilt, entwickeln sich Dinge und Beziehungen wie in einem Zeitrafferfilm. Martin erkennt, dass es ein Leben ohne lösbare Probleme und anzugehende Erledigungen gibt und dass der Moment kommt, an dem er keinen Faden mehr in der Hand hält.
Die postmoderne Fülle an Optionen verengt sich auf wenige Beziehungen, Gedanken und Gesten, und diese Reduktion entfaltet eine beeindruckende Kraft. Wie in allen Romanen Schlinks verstecken sich in der so banal beginnenden Geschichte historische und soziale Fragen, die bis in die Zeit der deutschen Katastrophe, also der Zeit des nationalsozialistischen Regimes, zurückführen.
Seit er mit seinem Roman „Der Vorleser“ Ende der Neunzigerjahre in die Literaturgeschichte einging, steht er für den Versuch einer literarischen, privaten und familiären Befragung nach Bezügen zur NS-Zeit. Und das klingt auch in diesem Buch an: Wie viel und welche Männlichkeit vererben die Väter ihren Söhnen? Warum sind manche Erwachsene so schlecht darin, mit ihren Empfindungen und Gefühlen in Verbindung zu treten und die zu äußern? Welche schwarzen Geschichten warten noch in Fotoalben?
Mit „Das späte Leben“ hat Bernhard Schlink an die Tradition des gedanklichen Gesellschaftsspiels angeknüpft. Seine Schilderung der fatalen Diagnose ist eindrücklich genug, dass man sich beim Lesen freuen kann, gesund zu sein, und doch derart stilisiert, dass man gerne dem Was-wäre-wenn-Experiment nachgeht.
Das Happy End findet diesseits der bedruckten Seiten statt. Der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut forderte einmal mehr Anerkennung dafür, dass Menschen einfach am Leben sind und es gestalten: some credit just for being alive. Solch eine Haltung unterstützt dieser Roman: Zu wissen, dass man lebt, ist die wichtigste Lehre, die wir aus dem Studium des Todes gewinnen können. Und wir sind darin nicht allein: Unsere Einsamkeit im Sterben ist unsere Gemeinsamkeit im Leben. Montaigne würde zustimmen.
NILS MINKMAR
Man fühlt sich
bei der Lektüre
durchgehend wohl
Wie viel und welche
Männlichkeit vererben die
Väter ihren Söhnen?
Die Fülle an Optionen verengt sich am Ende auf wenige Gedanken, und diese Reduktion entfaltet eine beeindruckende Kraft.
Foto: imago images / F. Anthea Schaap
Bernhard Schlink: Das späte Leben. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2023. 240 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Bernhard Schlinks Roman "Das späte Leben" muss ein Mann nach einer schlimmen Diagnose seine letzten Dinge regeln - und stellt fest, wie wenig er über das Leben weiß.
In diesem Roman variiert Bernhard Schlink das von Michel de Montaigne in seinem ersten Essay bearbeitete Motiv: Philosophieren heißt sterben lernen. Der französische Philosoph aus dem späten sechzehnten Jahrhundert war ein Mann mit mehreren und ganz verschiedenen Karrieren, ganz wie Schlink heute. Und beide kehren in einer ähnlichen Absicht zu diesem fundamentalen Problem zurück, nämlich um im Lichte des uns allen sicheren Todes das Leben davor besser zu verstehen und intensiver zu genießen.
In den bewegten Zeiten Montaignes konnte man dem Tod nicht ausweichen: Bürgerkriege, Katastrophen und Seuchen waren allgegenwärtig, die Menschen kippten links und rechts tot um. Heute fällt das Verdrängen leicht, und im Alltag wähnen wir uns gerne unsterblich: Das Sterben wird als vermeidbare Krankheit oder dummer Unfall missverstanden. Doch das Problem bleibt bestehen: Was lehrt mich der Tod über mein Leben? Mit bildungsbürgerlicher Geschicklichkeit führt Schlink seine heutigen Leserinnen und Leser an diese alte Frage heran.
Man fühlt sich bei der Lektüre durchgehend wohl und spürt gar nicht, wie man dem Autor ins Netz geht. Der Protagonist Martin ist deutlich älter als seine Partnerin Ulla, die Mutter ihres gemeinsamen Sohnes David. Ihr Leben spielt sich in der vollendeten Gediegenheit bundesrepublikanischer Bourgeoisie ab, wie man sie aus dem Manufactum-Katalog oder der Vorabendwerbung im Fernsehen kennt: Wenn das Kind im Bett liegt, besprechen die Eltern bei einem guten Glas Wein ihren Tag.
Geldsorgen, Weihnachtswahnsinn, die düstere Weltlage, ein tyrannischer Chef – der gesamte Kosmos der Heimsuchungen, die uns sonst immerzu beanspruchen, wird kunstfertig ausgeblendet. Alles scheint diese Familie zu haben, ihre Sorgen passen auf einen kleinen gelben Klebezettel. Bis die Diagnose alles ändert. Die gute Ordnung des Lebens davor ist ein Trick, um den Schrecken für alle nachvollziehbar zu machen, und führt zu einer Übertragung des Problems auf Leserin und Leser. Wie würde ich, wie würdest du handeln, wenn die Lebenszeit medizinisch unabweisbar ermittelt worden wäre?
In dieser Geschichte sind es immerhin einige Wochen, und Geld ist auch genug da, sodass man frei überlegen kann. Gibt es Botschaften, die noch zu vermitteln wären? Erfahrungen, die man vermissen würde? Es ist typisch für die subtile Komik des Buchs, dass der kranke Vater auf den Gedanken kommt, seinem kleinen Sohn die Verantwortung für einen noch anzulegenden Komposthaufen zu übertragen, bis die Mutter nachvollziehbarerweise fragt, was das denn soll.
Martin ist ein recht deutsches Exemplar von Mann, der in der guten Erledigung von Aufgaben die optimale Kommunikations- und Existenzform sieht. Als er in einem heiklen Moment ihrer Beziehung einwilligt, mit seiner Frau ein Tänzchen zu wagen, memoriert er die Schrittmuster aus dem gemeinsamen Tanzkurs. Als sei die korrekte Ausführung der Anweisungen schon der ganze Sinn der Sache.
In dieser gut gemeinten, aber emotional arg beschränkten Art und Weise schreibt er dem jungen Sohn einen langen Brief mit allerlei guten Ratschlägen, die insgesamt die Empfehlung einer Vita activa in bildungsbürgerlichen Institutionen formulieren. Die jüngere Mutter ist Künstlerin und entsetzt, als sie den Brief findet. Sie erkennt darin ein Dokument sozialer Reproduktion, wie es der französische Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Klassiker „Die feinen Unterschiede“ nicht besser hätte abbilden können. Ist das alles, was ein Vater einem Sohn mitzuteilen hat?
Ulla hat freilich ihre eigene Vatergeschichte, auch sie wird hier entfaltet. Andererseits gewährt Martins durchgängig rationale Herangehensweise an seine Geschichte und Diagnose den Lesern eine angenehme Distanz und so den Raum, sich eigene Gedanken zu machen. Der Roman kommt ohne Kitsch aus, und bei diesem Thema ist das große Kunst.
Sehr viel, was solche schicksalhaften Situationen beeinflusst und belastet, ist hier ausgefiltert: kein medizinisches Diagnose- und Behandlungschaos, kein Auf und Ab der Therapien und Eingriffe, keine Freunde und Verwandten, die noch einmal kommen möchten. Es ist eine ideale Todeskrankheit, an die man sich gedanklich gerade so herantraut.
Im Laufe der Geschichte sickert mehr Leben in die zu Beginn so wohlgestaltete Kulisse. Die mehr und mehr auch körperlich wahrnehmbare Endlichkeit des Protagonisten Martin bringt eine Wahrheit hervor, welche die alltäglichen Arrangements angenehm zu verbergen wussten. Gerade, weil es eilt, entwickeln sich Dinge und Beziehungen wie in einem Zeitrafferfilm. Martin erkennt, dass es ein Leben ohne lösbare Probleme und anzugehende Erledigungen gibt und dass der Moment kommt, an dem er keinen Faden mehr in der Hand hält.
Die postmoderne Fülle an Optionen verengt sich auf wenige Beziehungen, Gedanken und Gesten, und diese Reduktion entfaltet eine beeindruckende Kraft. Wie in allen Romanen Schlinks verstecken sich in der so banal beginnenden Geschichte historische und soziale Fragen, die bis in die Zeit der deutschen Katastrophe, also der Zeit des nationalsozialistischen Regimes, zurückführen.
Seit er mit seinem Roman „Der Vorleser“ Ende der Neunzigerjahre in die Literaturgeschichte einging, steht er für den Versuch einer literarischen, privaten und familiären Befragung nach Bezügen zur NS-Zeit. Und das klingt auch in diesem Buch an: Wie viel und welche Männlichkeit vererben die Väter ihren Söhnen? Warum sind manche Erwachsene so schlecht darin, mit ihren Empfindungen und Gefühlen in Verbindung zu treten und die zu äußern? Welche schwarzen Geschichten warten noch in Fotoalben?
Mit „Das späte Leben“ hat Bernhard Schlink an die Tradition des gedanklichen Gesellschaftsspiels angeknüpft. Seine Schilderung der fatalen Diagnose ist eindrücklich genug, dass man sich beim Lesen freuen kann, gesund zu sein, und doch derart stilisiert, dass man gerne dem Was-wäre-wenn-Experiment nachgeht.
Das Happy End findet diesseits der bedruckten Seiten statt. Der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut forderte einmal mehr Anerkennung dafür, dass Menschen einfach am Leben sind und es gestalten: some credit just for being alive. Solch eine Haltung unterstützt dieser Roman: Zu wissen, dass man lebt, ist die wichtigste Lehre, die wir aus dem Studium des Todes gewinnen können. Und wir sind darin nicht allein: Unsere Einsamkeit im Sterben ist unsere Gemeinsamkeit im Leben. Montaigne würde zustimmen.
NILS MINKMAR
Man fühlt sich
bei der Lektüre
durchgehend wohl
Wie viel und welche
Männlichkeit vererben die
Väter ihren Söhnen?
Die Fülle an Optionen verengt sich am Ende auf wenige Gedanken, und diese Reduktion entfaltet eine beeindruckende Kraft.
Foto: imago images / F. Anthea Schaap
Bernhard Schlink: Das späte Leben. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2023. 240 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de