Der Anatom August Hirt ermordete im August 1943 im Konzentrationslager Natzweiler 86 Menschen. Deren Skelette wollte er in Straßburg in einem Museum ausstellen, um die von den Nationalsozialisten propagierte Minderwertigkeit der »jüdischen Rasse« zu demonstrieren. Diese Interpretation findet sich bis heute in den Geschichtsbüchern, nicht zuletzt, weil sie genau so von Angeklagten und Zeugen in den Nürnberger Prozessen gleichlautend bestätigt wurde.
Doch dem Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der sich wie kein Zweiter für die Bestrafung von NS-Tätern eingesetzt hatte, kamen Zweifel. Er vermutete ein anderes Motiv und einen anderen Tathergang. Nach Bauers Auffassung mussten noch weitere Täter an den Verbrechen beteiligt gewesen sein. Der legendäre »Nazi-Jäger« verstarb, nachdem er 1965 persönlich weitere SS-Angehörige angeklagt hatte. Nach seinem Tod arbeitete das Gericht halbherzig. Am Ende musste nicht ein einziger der Angeklagten in Haft.
Das Buch zeichnet nun auf Grundlage vieler - teilweise bisher unbekannter - Quellen den tatsächlichen Verlauf des Verbrechens nach. Die Biographien und Motive der Täter, Beihelfer und Zeugen wurden akribisch recherchiert. Der Verdacht Fritz Bauers in seinem »letzten Fall« kann nun, nach einem halben Jahrhundert, bestätigt werden. Der Autor zeigt zudem anhand zahlreicher Dokumente, dass das Motiv dieses unmenschlichen NS-Verbrechens noch viel zynischer und grausamer war als bisher bekannt. Der Verfasser konnte als forensischer Historiker weitere Täter und das tatsächliche Ziel des Verbrechens ermitteln.
Dieses Buch zeigt eindrücklich, zu welchen Grausamkeiten Wissenschaft ohne Menschlichkeit führen kann. Es dokumentiert nicht allein die furchtbaren Verbrechen von SS-Wissenschaftlern. Es zeigt auch, wie geschickt viele dieser Täter ihre Spuren bis heute zu verbergen wussten. Dies konnte nur in einer Gesellschaft funktionieren, die bereit war, sich die haarsträubenden Entlastungsversuche gefallen zu lassen.
»Die Ernsthaftigkeit, mit der der große Jurist Fritz Bauer in seinem 'letzten Fall' über Jahre hinweg gegen Bruno Beger ermittelte, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, hat eine sachliche Debatte verdient und eine Auseinandersetzung mit den vorgelegten Dokumenten und Belegen.« Julien Reitzenstein (»Zusammenfassung«)
Doch dem Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der sich wie kein Zweiter für die Bestrafung von NS-Tätern eingesetzt hatte, kamen Zweifel. Er vermutete ein anderes Motiv und einen anderen Tathergang. Nach Bauers Auffassung mussten noch weitere Täter an den Verbrechen beteiligt gewesen sein. Der legendäre »Nazi-Jäger« verstarb, nachdem er 1965 persönlich weitere SS-Angehörige angeklagt hatte. Nach seinem Tod arbeitete das Gericht halbherzig. Am Ende musste nicht ein einziger der Angeklagten in Haft.
Das Buch zeichnet nun auf Grundlage vieler - teilweise bisher unbekannter - Quellen den tatsächlichen Verlauf des Verbrechens nach. Die Biographien und Motive der Täter, Beihelfer und Zeugen wurden akribisch recherchiert. Der Verdacht Fritz Bauers in seinem »letzten Fall« kann nun, nach einem halben Jahrhundert, bestätigt werden. Der Autor zeigt zudem anhand zahlreicher Dokumente, dass das Motiv dieses unmenschlichen NS-Verbrechens noch viel zynischer und grausamer war als bisher bekannt. Der Verfasser konnte als forensischer Historiker weitere Täter und das tatsächliche Ziel des Verbrechens ermitteln.
Dieses Buch zeigt eindrücklich, zu welchen Grausamkeiten Wissenschaft ohne Menschlichkeit führen kann. Es dokumentiert nicht allein die furchtbaren Verbrechen von SS-Wissenschaftlern. Es zeigt auch, wie geschickt viele dieser Täter ihre Spuren bis heute zu verbergen wussten. Dies konnte nur in einer Gesellschaft funktionieren, die bereit war, sich die haarsträubenden Entlastungsversuche gefallen zu lassen.
»Die Ernsthaftigkeit, mit der der große Jurist Fritz Bauer in seinem 'letzten Fall' über Jahre hinweg gegen Bruno Beger ermittelte, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, hat eine sachliche Debatte verdient und eine Auseinandersetzung mit den vorgelegten Dokumenten und Belegen.« Julien Reitzenstein (»Zusammenfassung«)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.2019Eine Schädelstätte moderner Forschung
1943 wurden 86 jüdische Häftlinge von Auschwitz ins Elsass verbracht und dort ermordet. Ihre Leichen wurden im Anatomischen Institut der Universität Straßburg konserviert. Ein neuer Versuch, August Hirt, den Direktor des Instituts, vom Vorwurf der Anstiftung zu diesem Massenmord zu entlasten, überzeugt nicht. Im Gegenteil: Hirt arbeitete schon Jahre vorher für Heinrich Himmler und nannte ihn seinen "Chef".
Am 9. Dezember 1946 wurde der Nürnberger Ärzteprozess eröffnet. Einer der 23 Angeklagten war Wolfram Sievers. Er war kein Arzt, sondern wurde für Taten als Wissenschaftsfunktionär zur Rechenschaft gezogen. Seit 1935 hatte er den von Heinrich Himmler gegründeten Forschungsverbund "Das Ahnenerbe" geleitet, seit 1937 mit dem Titel eines Reichsgeschäftsführers. Unter den Fällen, die vor dem amerikanischen Militärgericht exemplarisch verhandelt wurden, war die Ermordung von 86 jüdischen Frauen und Männern. Um deren Schädel oder Skelette hatte die Sammlung des Anatomischen Instituts der Reichsuniversität Straßburg ergänzt werden sollen. Wer hatte sich dieses Verbrechen ausgedacht?
Sievers benannte den Institutsdirektor August Hirt. Er wiederholte damit, was er schon im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess des Internationalen Militärtribunals als Zeuge vorgetragen hatte. Dort mit der Versicherung: "Es handelte sich um den Ausbau der Anatomie der damals neu übernommenen Universität Straßburg, und zwar um den Neuausbau des sogenannten Anatomischen Museums." Nicht Neubau, sondern Neuausbau.
Hirt war zum Herbst 1941 an das Anatomische Institut berufen worden. Mit der Okkupation des Elsass hatten die Deutschen auch die Université Strasbourg an sich genommen, das Lehrpersonal vertrieben und am 23. November 1941 eine Reichsuniversität Straßburg eröffnet. Bei dieser Gelegenheit traf Sievers auch Hirt. Miteinander bekannt waren sie allerdings schon von früherer Gelegenheit.
Vor Gericht in Nürnberg erzählte Sievers von einer Begegnung fünf Jahre vor Straßburg. Bei der Feier zum tausendsten Todestag von König Heinrich I. am 2. Juli 1936 in Quedlinburg sei Hirt Himmlers Ehrengast gewesen. Wie Sievers 1936 in Quedlinburg erfahren haben will, soll Hirt den Auftrag gehabt haben, einen damals aufgefundenen Schädel anthropologisch zu untersuchen. Die SS hatte sich kurzfristig das Ziel gesetzt, die verschollenen Gebeine Heinrichs pünktlich zum Gedenktag wiederzufinden, um eine Weihestätte zu bestücken.
Der kanadische Historiker Michael Kater schrieb über das "Ahnenerbe" seine von Werner Conze betreute Heidelberger Dissertation, die 1974 als Buch erschien. Die Aussage von Sievers bewertete Kater als "vorsätzliche Lüge". In den Akten finde sich "keinerlei Hinweis" auf Hirts Besuch in Quedlinburg "schon zu so früher Zeit", zudem seien die vermeintlichen Gebeine des Königs erst 1937 geborgen worden - und dies just zu der Zeit, als der SS-Anthropologe Bruno Beger zu einer Untersuchung im Rahmen der Abteilung Ausgrabungen des Persönlichen Stabs des Reichsführers SS nach Göttingen abkommandiert wurde. Kater verwies darauf, dass es von Göttingen nicht weit nach Quedlinburg sei, und brachte Beger als Initiator der 86 Morde ins Spiel. Sievers habe gelogen, "um den SS-Kameraden Beger nicht von vornherein zu belasten - Hirt aber war bereits tot". Was aber, notabene, Sievers gar nicht wissen konnte.
Julien Reitzenstein, Autor einer unter dem Titel "Himmlers Forscher - Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im ,Ahnenerbe' der SS" veröffentlichten Düsseldorfer Dissertation (F.A.Z. vom 19. April 2017), hat der mörderischen Verbundforschung eine weitere Monographie gewidmet ("Das SS-Ahnenerbe und die ,Straßburger Schädelsammlung'". Fritz Bauers letzter Fall. Duncker & Humblot, Berlin 2018. 495 S., 48 Abb., geb., 69,90 [Euro]). Er übernimmt Katers These und geht sogar noch weiter. "Dass Hirt nicht in Quedlinburg war", schreibt Reitzenstein, "hat Kater belegt und darüber den begründeten Verdacht geäußert, dass Beger die Untersuchung des vermeintlichen Heinrich-Schädels 1937 vornahm." Wer "diesen Befund" ignoriere, mache sich zum "Erfüllungsgehilfen" von Sievers, der "Hirt eine Spezialisierung auf Schädel andichtete, die nicht vorhanden war".
Hirt war im Frühjahr 1936 von Heidelberg nach Greifswald gewechselt. Mit großer Energie begann er, das schlecht ausgestattete Greifswalder Institut zu modernisieren. Zweieinhalb Wochen nach Dienstantritt reiste er beispielsweise nach Stettin, um nach der Hinrichtung eines Raubmörders Präparate für Forschung und Lehre zu sichern. Hirt plante den Neubau einer Prosektur und betrieb die Erweiterung des Anatomiekellers. Dieser sei "in seinem jetzigen Zustand einfach als katastrophal und als ein den einfachsten hygienischen Anforderungen ins Gesicht schlagender Stall zu bezeichnen", notierte er am 11. Dezember 1936. Es war just der Tag, an dem die Leiche eines weiteren hingerichteten Raubmörders nach Greifswald gebracht wurde. Diesmal aus Köslin.
Frühe Beispiele von Leichenbusiness, auch von gezielter Netzwerkarbeit, die Hirt nach einem kurzen Frankfurter Intermezzo in Straßburg erfolgreich fortsetzte. Schon im September 1941 bestellte er eine Mazerationsanlage zum Entfetten von Leichen, weil die Anatomie eine "völlig neue Skelettdemonstration zusammenstellen" musste. In dieses Beschaffungsprogramm passt der am 9. Februar 1942 über Sievers bei Himmler eingereichte Vorschlag, Schädel von Juden zu beschaffen. Sievers wurde gemäß seiner Darstellung von Himmler beauftragt, eine Nachricht nach Straßburg weiterzuleiten: "Die Juden für die Anatomische Sammlung sollten nicht im Frontgebiet erfasst werden, wie Hirt das vorgeschlagen hatte, sie würden über das KL Auschwitz zur Verfügung gestellt."
Im November 1942 ließ Himmler Adolf Eichmann beauftragen, "den Aufbau der geplanten Skelettsammlung zu ermöglichen". Im "Ahnenerbe" hieß das Unternehmen nach dem, der damit befasst wurde: "Auftrag Beger". In derselben Novemberwoche 1942 nahm Hirt in Tübingen an einer Anatomentagung teil, von der er an Sievers meldete, das Treffen habe "weitere Arbeitsbelastung gebracht".
Nämlich: "Es ist von dort auch der Vorschlag aufgetaucht, dass die Anatomen Material sammeln und verarbeiten sollen, wie wir es im Auftrag Beger schon festgelegt haben. Allmählich dämmert es auch anderen Leuten, dass hier etwas geschehen kann." Handschriftlich fügte er hinzu, er sei beauftragt worden, "für sämtliche deutschen Anatomen Richtlinien für die Materialsammlung aufzustellen".
Am 28. April 1943 sprach Sievers im "Judenreferat" des Reichssicherheitshauptamtes bei Eichmanns Stellvertreter Rolf Günther vor. Er erhielt die Auskunft, in Auschwitz sei jetzt "besonders geeignetes Material vorhanden". Reitzenstein nimmt an, "dass es sich um Inner- und Vorderasiaten handelte, die Adolf Eichmann für Beger unter den sowjetischen Kriegsgefangenen ermittelt hatte". Denn Juden hätten dieses "besonders geeignete Material" nicht sein können, hätten sie in Auschwitz doch immer in großer Zahl zur Verfügung gestanden. Reitzenstein verkennt aber, dass sich Sievers und auf dem Dienstweg auch Himmlers persönlicher Referent Rudolf Brandt mit Sicherheit nicht an das "Judenreferat" gewandt hätten, wenn sowjetische Soldaten ihr Anliegen gewesen wären. Abgesehen davon, dass zu der Zeit so gut wie keine mehr in Auschwitz gefangen waren.
Im Gedankengewebe des, wie er sich selbst nennt, forensischen Historikers Reitzenstein ist der Anthropologe Bruno Beger, der über "asiatische Rassetypen" forschte, der eigentliche Kopf des Verbrechens. In "pervertierter Kameradschaft" sei Hirt einverstanden gewesen, für Beger, der sich in Straßburg einen Lehrstuhl für Anthropologie habe einrichten wollen, den "dienstleistenden Präparationspaten" zu machen. Hirt habe auch zugestimmt, den angeblich von Beger bei früherer Gelegenheit formulierten Vorschlag zur Schädelbeschaffung Himmler als sein eigenes Papier zu unterbreiten. Ja, Reitzenstein hält es für denkbar, dass jener Vorschlag ohne Hirts Wissen, aber mit dessen sonstigen Forschungsunterlagen an Himmler gegeben wurde. Den Widerspruch zwischen Begers eigenen Interessen an "asiatischen Rassetypen" und der geplanten "Sicherstellung" von Schädeln jüdischer Gefangener erklärt Reitzenstein damit, "dass der Begriff Jude bei diesem Verbrechen stets metonym oder synonym für asiatische Kriegsgefangene der Roten Armee verwendet" worden sei.
Zur Faktenlage trägt Reitzenstein wenig bei. Für eine von oder für Beger in Straßburg geplante Forschungsstätte gibt es nicht die Spur eines Beweises. Im Juni 1943 reiste Beger mit seinem Tübinger Anthropologen-Kollegen Hans Fleischhacker und dem Präparator Willi Gabel nach Auschwitz. Sie mussten sich bei der Kommandantur melden, die über ihren Auftrag unterrichtet war und den Aufenthalt vorbereitet hatte. Nach Reitzenstein konzentrierte sich Beger sofort auf "asiatische Rassetypen". Da er jedoch nur vier fand, habe sich Beger spontan auf Juden verlegt. Denn "nach all dem Aufwand bei den involvierten Stellen wäre ein Abbruch der Aktion zu diesem Zeitpunkt eine erneute Blamage für den aufstrebenden Nachwuchswissenschaftler Beger gewesen". Man wird eher von einer Blamage Reitzensteins sprechen müssen, der einen vor knapp drei Jahren von Raphael Toledano veröffentlichten Aufsatz nicht zur Kenntnis nimmt. Darin wird berichtet, dass dem Straßburger Anatomie-Institut zwischen dem 9. Januar 1942 und dem 25. Juli 1944 die Leichen von 232 sowjetischen Kriegsgefangenen fast ausschließlich aus den Lagern Mutzig und Straßburg ins Haus geliefert wurden. Toledano nennt auch noch deren Namen.
Tatsächlich erfüllte der SS-Anthropologen-Trupp den "Auftrag Beger" nur in einer Hinsicht nicht. Er sollte 150 jüdische Frauen und Männer "untersuchen", aber beließ es bei 109 Personen, von denen letztlich 86 zum KZ Natzweiler gebracht wurden. Nachdem Hirt beim "Ahnenerbe" noch das fehlende Gift angemahnt hatte, ermordete der Lagerkommandant Josef Kramer die 86 Frauen und Männer in einer kleinen Gaskammer zwischen dem 11. und 18. August 1943 in vier Durchgängen. Im Straßburger Anatomischen Institut half der elsässische Mitarbeiter Henri Henrypierre dabei, die Leichen zu konservieren. In seinen unveröffentlichten autobiographischen Aufzeichnungen in französischer Sprache stellte er dazu fest: "Diese Körper sollten als Ausstellungsstücke des Anatomie-Museums in Straßburg dienen."
Nach der Befreiung Straßburgs am 23. November 1944 fand ein französischer Offizier im Keller des Anatomie-Instituts die 86 Leichen. Einen englischen Zeitungsbericht verwies Hirt im Januar 1945 in einem aus Tübingen verschickten Brief an das Außenministerium in Berlin ins Reich der "Greuelmärchen". Mit Rassefragen habe in seinem Institut nur die große, vor dem Ersten Weltkrieg von dem deutschen Anatomen Schwalbe angelegte Schädelsammlung zu tun. "Es war meine selbstverständliche Pflicht, diese Schädelsammlung zu erhalten und sie der Tradition des Instituts gemäß nach Möglichkeit nach modernen Gesichtspunkten weiterzuführen." Die Sammlung zwei Stockwerke über dem Leichenkeller.
Als "modern" verstanden die NS-Biowissenschaftler ihr Projekt, die staatlich propagierte Rassenideologie wissenschaftlich zu legitimieren und Juden als Rasse zu klassifizieren. Darauf war auch die Straßburger Reichsuniversität ausgerichtet, der ihr Rektor Ernst Anrich, Historiker und nach dem Krieg Gründer der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, bei der Eröffnung am 23. November 1941 ihren Platz in der "Gegenwart des nationalsozialistischen Deutschland" anwies.
In der Nachkriegszeit wurden die sterblichen Überreste der 86 auf dem Straßburger Jüdischen Friedhof beerdigt. Seit 2005 erinnert ein Grabstein auch an ihre Namen. Ob sie auf Initiative von August Hirt oder Bruno Beger ums Leben gebracht wurden, spielt für sie keine Rolle. Für die historische Wahrheit durchaus.
Wie sieht es nun mit der von Reitzenstein zum "Befund" stilisierten Annahme Katers zu Hirts Abwesenheit in Quedlinburg aus? Quedlinburger Denkmalpfleger hielten im Protokoll eines Arbeitstreffens mit Himmler am 11. Mai 1936 fest, dass der Sarkophag von Königin Mathilde geöffnet werden solle, in der Hoffnung, darin Überreste ihres Gemahls Heinrich vorzufinden. Wörtlich heißt es: "Der bei der Öffnung zuzuziehende Anthropologe wird feststellen können, ob eine Scheidung der Gebeine des Königspaares möglich ist." Etwas weiter hinten im Protokoll wird auch genannt, wen Himmler beauftragen wollte: August Hirt, "Anatom und Anthropolog", Professor in Greifswald und SS-Oberscharführer. Der Mathildensarkophag wurde am 15. Mai 1936 geöffnet, aber ohne positiven Befund wieder verschlossen. Außer Mathilde enthielt er nur noch zwei Knochen, die augenscheinlich nicht von Heinrich stammten.
Für die Suche am Ort war aus dem "Arbeitsstab Quedlinburg" Rolf Höhne zuständig, Geologe und SS-Untersturmführer. Anfang Oktober 1936 nahm er einen neuen Anlauf mit einer Nachgrabung in der Quedlinburger Heinrichskrypta. Von nun an war Hirt erst recht gefragt. Den genauen Fortgang dokumentiert eine in Straßburg seit kurzem der Forschung zugängliche Korrespondenz Höhnes. Demnach ließ der nun rasch fündig gewordene Ausgräber nacheinander zwei Skelette zur Begutachtung und Präparierung an die Greifswalder Anatomie senden. Hirt bestätigte am 13. November 1936 deren Eingang und adressierte postwendend eine erste Stellungnahme an den Absender. Sie war durch die kollegiale Expertise eines Greifswalder Pathologen abgesichert und konnte den Erwartungen des Auftraggebers nicht entsprechen.
Umgehend avisierte Höhne einen Besuch in Greifswald. Das Treffen am 17. November 1936 muss in guter Atmosphäre verlaufen sein, denn im nachfolgenden brieflichen Austausch wechselten die Korrespondenzpartner ins vertrauliche Du. Die weitere Zusammenarbeit Hirts und Höhnes konzentrierte sich auf einen unvollständig erhaltenen Schädel. Der Greifswalder Anatom legte den Unterkiefer dieses Schädels zunächst dem Direktor des örtlichen Zahnärztlichen Instituts vor, nach dessen Schätzung man ein Individuum vor sich hatte, das im Alter zwischen dreißig und vierzig Jahren gestorben war. Auf zwei Schreibmaschinenseiten breitete Hirt am 25. November 1936 seine Beobachtungen aus. Er schloss aus dem Zustand der Zähne auf einen Menschen, "der zum mindesten ein Alter nicht unter 40 Jahren erreicht hat". Die Betrachtung der Schädeldecke führte ihn aber auf ein weit höheres Alter. Zusammenfassend schrieb er: "Die vorliegenden Schädelreste gehören einem Menschen an, der ein Lebensalter um die 60 Jahre herum erreicht haben muss, der überwiegend nordisch und wahrscheinlich männlichen Geschlechtes war."
Auf dem Schädel habe noch der Rest eines Stirnbandes gelegen, berichtete Höhne wenige Tage später ergänzend nach Greifswald. Er wollte wissen, ob man ihn einsargen könne. "Wenn der Chef den Schädel wieder eingesargt haben will", schrieb Hirt zurück, "würde ich dem zustimmen, denn mehr als wie wir gemacht haben wird jemand anderes auch nicht durchführen können." Die Knochen habe er mit Curil konserviert und vom Schädelinnern einen Gipsausguss hergestellt.
Wenn man nun zugrunde legt, dass König Heinrich etwa sechzig Jahre alt geworden sein soll, ahnt man sofort, welche Wirkung dieser Befund entfaltete. "Wissenschaftlich anthropologische Untersuchungen" und das Stirnband auf dem Schädel bewiesen die Echtheit der Königsgebeine, verbreitete der Quedlinburger Oberbürgermeister im Juni 1937, als auch erste Presseberichte erschienen. Am 2. Juli 1937 schließlich wurden die angeblichen Überreste des Ostfrankenkönigs in der Krypta des Quedlinburger Doms wie Reliquien beigesetzt. Einen Fundbericht hat Höhne nie veröffentlicht; die berechtigten Zweifel an dem Ergebnis blieben in der NS-Zeit unter dem Deckel der Verschwiegenheit.
HANS-JOACHIM LANG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
1943 wurden 86 jüdische Häftlinge von Auschwitz ins Elsass verbracht und dort ermordet. Ihre Leichen wurden im Anatomischen Institut der Universität Straßburg konserviert. Ein neuer Versuch, August Hirt, den Direktor des Instituts, vom Vorwurf der Anstiftung zu diesem Massenmord zu entlasten, überzeugt nicht. Im Gegenteil: Hirt arbeitete schon Jahre vorher für Heinrich Himmler und nannte ihn seinen "Chef".
Am 9. Dezember 1946 wurde der Nürnberger Ärzteprozess eröffnet. Einer der 23 Angeklagten war Wolfram Sievers. Er war kein Arzt, sondern wurde für Taten als Wissenschaftsfunktionär zur Rechenschaft gezogen. Seit 1935 hatte er den von Heinrich Himmler gegründeten Forschungsverbund "Das Ahnenerbe" geleitet, seit 1937 mit dem Titel eines Reichsgeschäftsführers. Unter den Fällen, die vor dem amerikanischen Militärgericht exemplarisch verhandelt wurden, war die Ermordung von 86 jüdischen Frauen und Männern. Um deren Schädel oder Skelette hatte die Sammlung des Anatomischen Instituts der Reichsuniversität Straßburg ergänzt werden sollen. Wer hatte sich dieses Verbrechen ausgedacht?
Sievers benannte den Institutsdirektor August Hirt. Er wiederholte damit, was er schon im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess des Internationalen Militärtribunals als Zeuge vorgetragen hatte. Dort mit der Versicherung: "Es handelte sich um den Ausbau der Anatomie der damals neu übernommenen Universität Straßburg, und zwar um den Neuausbau des sogenannten Anatomischen Museums." Nicht Neubau, sondern Neuausbau.
Hirt war zum Herbst 1941 an das Anatomische Institut berufen worden. Mit der Okkupation des Elsass hatten die Deutschen auch die Université Strasbourg an sich genommen, das Lehrpersonal vertrieben und am 23. November 1941 eine Reichsuniversität Straßburg eröffnet. Bei dieser Gelegenheit traf Sievers auch Hirt. Miteinander bekannt waren sie allerdings schon von früherer Gelegenheit.
Vor Gericht in Nürnberg erzählte Sievers von einer Begegnung fünf Jahre vor Straßburg. Bei der Feier zum tausendsten Todestag von König Heinrich I. am 2. Juli 1936 in Quedlinburg sei Hirt Himmlers Ehrengast gewesen. Wie Sievers 1936 in Quedlinburg erfahren haben will, soll Hirt den Auftrag gehabt haben, einen damals aufgefundenen Schädel anthropologisch zu untersuchen. Die SS hatte sich kurzfristig das Ziel gesetzt, die verschollenen Gebeine Heinrichs pünktlich zum Gedenktag wiederzufinden, um eine Weihestätte zu bestücken.
Der kanadische Historiker Michael Kater schrieb über das "Ahnenerbe" seine von Werner Conze betreute Heidelberger Dissertation, die 1974 als Buch erschien. Die Aussage von Sievers bewertete Kater als "vorsätzliche Lüge". In den Akten finde sich "keinerlei Hinweis" auf Hirts Besuch in Quedlinburg "schon zu so früher Zeit", zudem seien die vermeintlichen Gebeine des Königs erst 1937 geborgen worden - und dies just zu der Zeit, als der SS-Anthropologe Bruno Beger zu einer Untersuchung im Rahmen der Abteilung Ausgrabungen des Persönlichen Stabs des Reichsführers SS nach Göttingen abkommandiert wurde. Kater verwies darauf, dass es von Göttingen nicht weit nach Quedlinburg sei, und brachte Beger als Initiator der 86 Morde ins Spiel. Sievers habe gelogen, "um den SS-Kameraden Beger nicht von vornherein zu belasten - Hirt aber war bereits tot". Was aber, notabene, Sievers gar nicht wissen konnte.
Julien Reitzenstein, Autor einer unter dem Titel "Himmlers Forscher - Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im ,Ahnenerbe' der SS" veröffentlichten Düsseldorfer Dissertation (F.A.Z. vom 19. April 2017), hat der mörderischen Verbundforschung eine weitere Monographie gewidmet ("Das SS-Ahnenerbe und die ,Straßburger Schädelsammlung'". Fritz Bauers letzter Fall. Duncker & Humblot, Berlin 2018. 495 S., 48 Abb., geb., 69,90 [Euro]). Er übernimmt Katers These und geht sogar noch weiter. "Dass Hirt nicht in Quedlinburg war", schreibt Reitzenstein, "hat Kater belegt und darüber den begründeten Verdacht geäußert, dass Beger die Untersuchung des vermeintlichen Heinrich-Schädels 1937 vornahm." Wer "diesen Befund" ignoriere, mache sich zum "Erfüllungsgehilfen" von Sievers, der "Hirt eine Spezialisierung auf Schädel andichtete, die nicht vorhanden war".
Hirt war im Frühjahr 1936 von Heidelberg nach Greifswald gewechselt. Mit großer Energie begann er, das schlecht ausgestattete Greifswalder Institut zu modernisieren. Zweieinhalb Wochen nach Dienstantritt reiste er beispielsweise nach Stettin, um nach der Hinrichtung eines Raubmörders Präparate für Forschung und Lehre zu sichern. Hirt plante den Neubau einer Prosektur und betrieb die Erweiterung des Anatomiekellers. Dieser sei "in seinem jetzigen Zustand einfach als katastrophal und als ein den einfachsten hygienischen Anforderungen ins Gesicht schlagender Stall zu bezeichnen", notierte er am 11. Dezember 1936. Es war just der Tag, an dem die Leiche eines weiteren hingerichteten Raubmörders nach Greifswald gebracht wurde. Diesmal aus Köslin.
Frühe Beispiele von Leichenbusiness, auch von gezielter Netzwerkarbeit, die Hirt nach einem kurzen Frankfurter Intermezzo in Straßburg erfolgreich fortsetzte. Schon im September 1941 bestellte er eine Mazerationsanlage zum Entfetten von Leichen, weil die Anatomie eine "völlig neue Skelettdemonstration zusammenstellen" musste. In dieses Beschaffungsprogramm passt der am 9. Februar 1942 über Sievers bei Himmler eingereichte Vorschlag, Schädel von Juden zu beschaffen. Sievers wurde gemäß seiner Darstellung von Himmler beauftragt, eine Nachricht nach Straßburg weiterzuleiten: "Die Juden für die Anatomische Sammlung sollten nicht im Frontgebiet erfasst werden, wie Hirt das vorgeschlagen hatte, sie würden über das KL Auschwitz zur Verfügung gestellt."
Im November 1942 ließ Himmler Adolf Eichmann beauftragen, "den Aufbau der geplanten Skelettsammlung zu ermöglichen". Im "Ahnenerbe" hieß das Unternehmen nach dem, der damit befasst wurde: "Auftrag Beger". In derselben Novemberwoche 1942 nahm Hirt in Tübingen an einer Anatomentagung teil, von der er an Sievers meldete, das Treffen habe "weitere Arbeitsbelastung gebracht".
Nämlich: "Es ist von dort auch der Vorschlag aufgetaucht, dass die Anatomen Material sammeln und verarbeiten sollen, wie wir es im Auftrag Beger schon festgelegt haben. Allmählich dämmert es auch anderen Leuten, dass hier etwas geschehen kann." Handschriftlich fügte er hinzu, er sei beauftragt worden, "für sämtliche deutschen Anatomen Richtlinien für die Materialsammlung aufzustellen".
Am 28. April 1943 sprach Sievers im "Judenreferat" des Reichssicherheitshauptamtes bei Eichmanns Stellvertreter Rolf Günther vor. Er erhielt die Auskunft, in Auschwitz sei jetzt "besonders geeignetes Material vorhanden". Reitzenstein nimmt an, "dass es sich um Inner- und Vorderasiaten handelte, die Adolf Eichmann für Beger unter den sowjetischen Kriegsgefangenen ermittelt hatte". Denn Juden hätten dieses "besonders geeignete Material" nicht sein können, hätten sie in Auschwitz doch immer in großer Zahl zur Verfügung gestanden. Reitzenstein verkennt aber, dass sich Sievers und auf dem Dienstweg auch Himmlers persönlicher Referent Rudolf Brandt mit Sicherheit nicht an das "Judenreferat" gewandt hätten, wenn sowjetische Soldaten ihr Anliegen gewesen wären. Abgesehen davon, dass zu der Zeit so gut wie keine mehr in Auschwitz gefangen waren.
Im Gedankengewebe des, wie er sich selbst nennt, forensischen Historikers Reitzenstein ist der Anthropologe Bruno Beger, der über "asiatische Rassetypen" forschte, der eigentliche Kopf des Verbrechens. In "pervertierter Kameradschaft" sei Hirt einverstanden gewesen, für Beger, der sich in Straßburg einen Lehrstuhl für Anthropologie habe einrichten wollen, den "dienstleistenden Präparationspaten" zu machen. Hirt habe auch zugestimmt, den angeblich von Beger bei früherer Gelegenheit formulierten Vorschlag zur Schädelbeschaffung Himmler als sein eigenes Papier zu unterbreiten. Ja, Reitzenstein hält es für denkbar, dass jener Vorschlag ohne Hirts Wissen, aber mit dessen sonstigen Forschungsunterlagen an Himmler gegeben wurde. Den Widerspruch zwischen Begers eigenen Interessen an "asiatischen Rassetypen" und der geplanten "Sicherstellung" von Schädeln jüdischer Gefangener erklärt Reitzenstein damit, "dass der Begriff Jude bei diesem Verbrechen stets metonym oder synonym für asiatische Kriegsgefangene der Roten Armee verwendet" worden sei.
Zur Faktenlage trägt Reitzenstein wenig bei. Für eine von oder für Beger in Straßburg geplante Forschungsstätte gibt es nicht die Spur eines Beweises. Im Juni 1943 reiste Beger mit seinem Tübinger Anthropologen-Kollegen Hans Fleischhacker und dem Präparator Willi Gabel nach Auschwitz. Sie mussten sich bei der Kommandantur melden, die über ihren Auftrag unterrichtet war und den Aufenthalt vorbereitet hatte. Nach Reitzenstein konzentrierte sich Beger sofort auf "asiatische Rassetypen". Da er jedoch nur vier fand, habe sich Beger spontan auf Juden verlegt. Denn "nach all dem Aufwand bei den involvierten Stellen wäre ein Abbruch der Aktion zu diesem Zeitpunkt eine erneute Blamage für den aufstrebenden Nachwuchswissenschaftler Beger gewesen". Man wird eher von einer Blamage Reitzensteins sprechen müssen, der einen vor knapp drei Jahren von Raphael Toledano veröffentlichten Aufsatz nicht zur Kenntnis nimmt. Darin wird berichtet, dass dem Straßburger Anatomie-Institut zwischen dem 9. Januar 1942 und dem 25. Juli 1944 die Leichen von 232 sowjetischen Kriegsgefangenen fast ausschließlich aus den Lagern Mutzig und Straßburg ins Haus geliefert wurden. Toledano nennt auch noch deren Namen.
Tatsächlich erfüllte der SS-Anthropologen-Trupp den "Auftrag Beger" nur in einer Hinsicht nicht. Er sollte 150 jüdische Frauen und Männer "untersuchen", aber beließ es bei 109 Personen, von denen letztlich 86 zum KZ Natzweiler gebracht wurden. Nachdem Hirt beim "Ahnenerbe" noch das fehlende Gift angemahnt hatte, ermordete der Lagerkommandant Josef Kramer die 86 Frauen und Männer in einer kleinen Gaskammer zwischen dem 11. und 18. August 1943 in vier Durchgängen. Im Straßburger Anatomischen Institut half der elsässische Mitarbeiter Henri Henrypierre dabei, die Leichen zu konservieren. In seinen unveröffentlichten autobiographischen Aufzeichnungen in französischer Sprache stellte er dazu fest: "Diese Körper sollten als Ausstellungsstücke des Anatomie-Museums in Straßburg dienen."
Nach der Befreiung Straßburgs am 23. November 1944 fand ein französischer Offizier im Keller des Anatomie-Instituts die 86 Leichen. Einen englischen Zeitungsbericht verwies Hirt im Januar 1945 in einem aus Tübingen verschickten Brief an das Außenministerium in Berlin ins Reich der "Greuelmärchen". Mit Rassefragen habe in seinem Institut nur die große, vor dem Ersten Weltkrieg von dem deutschen Anatomen Schwalbe angelegte Schädelsammlung zu tun. "Es war meine selbstverständliche Pflicht, diese Schädelsammlung zu erhalten und sie der Tradition des Instituts gemäß nach Möglichkeit nach modernen Gesichtspunkten weiterzuführen." Die Sammlung zwei Stockwerke über dem Leichenkeller.
Als "modern" verstanden die NS-Biowissenschaftler ihr Projekt, die staatlich propagierte Rassenideologie wissenschaftlich zu legitimieren und Juden als Rasse zu klassifizieren. Darauf war auch die Straßburger Reichsuniversität ausgerichtet, der ihr Rektor Ernst Anrich, Historiker und nach dem Krieg Gründer der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, bei der Eröffnung am 23. November 1941 ihren Platz in der "Gegenwart des nationalsozialistischen Deutschland" anwies.
In der Nachkriegszeit wurden die sterblichen Überreste der 86 auf dem Straßburger Jüdischen Friedhof beerdigt. Seit 2005 erinnert ein Grabstein auch an ihre Namen. Ob sie auf Initiative von August Hirt oder Bruno Beger ums Leben gebracht wurden, spielt für sie keine Rolle. Für die historische Wahrheit durchaus.
Wie sieht es nun mit der von Reitzenstein zum "Befund" stilisierten Annahme Katers zu Hirts Abwesenheit in Quedlinburg aus? Quedlinburger Denkmalpfleger hielten im Protokoll eines Arbeitstreffens mit Himmler am 11. Mai 1936 fest, dass der Sarkophag von Königin Mathilde geöffnet werden solle, in der Hoffnung, darin Überreste ihres Gemahls Heinrich vorzufinden. Wörtlich heißt es: "Der bei der Öffnung zuzuziehende Anthropologe wird feststellen können, ob eine Scheidung der Gebeine des Königspaares möglich ist." Etwas weiter hinten im Protokoll wird auch genannt, wen Himmler beauftragen wollte: August Hirt, "Anatom und Anthropolog", Professor in Greifswald und SS-Oberscharführer. Der Mathildensarkophag wurde am 15. Mai 1936 geöffnet, aber ohne positiven Befund wieder verschlossen. Außer Mathilde enthielt er nur noch zwei Knochen, die augenscheinlich nicht von Heinrich stammten.
Für die Suche am Ort war aus dem "Arbeitsstab Quedlinburg" Rolf Höhne zuständig, Geologe und SS-Untersturmführer. Anfang Oktober 1936 nahm er einen neuen Anlauf mit einer Nachgrabung in der Quedlinburger Heinrichskrypta. Von nun an war Hirt erst recht gefragt. Den genauen Fortgang dokumentiert eine in Straßburg seit kurzem der Forschung zugängliche Korrespondenz Höhnes. Demnach ließ der nun rasch fündig gewordene Ausgräber nacheinander zwei Skelette zur Begutachtung und Präparierung an die Greifswalder Anatomie senden. Hirt bestätigte am 13. November 1936 deren Eingang und adressierte postwendend eine erste Stellungnahme an den Absender. Sie war durch die kollegiale Expertise eines Greifswalder Pathologen abgesichert und konnte den Erwartungen des Auftraggebers nicht entsprechen.
Umgehend avisierte Höhne einen Besuch in Greifswald. Das Treffen am 17. November 1936 muss in guter Atmosphäre verlaufen sein, denn im nachfolgenden brieflichen Austausch wechselten die Korrespondenzpartner ins vertrauliche Du. Die weitere Zusammenarbeit Hirts und Höhnes konzentrierte sich auf einen unvollständig erhaltenen Schädel. Der Greifswalder Anatom legte den Unterkiefer dieses Schädels zunächst dem Direktor des örtlichen Zahnärztlichen Instituts vor, nach dessen Schätzung man ein Individuum vor sich hatte, das im Alter zwischen dreißig und vierzig Jahren gestorben war. Auf zwei Schreibmaschinenseiten breitete Hirt am 25. November 1936 seine Beobachtungen aus. Er schloss aus dem Zustand der Zähne auf einen Menschen, "der zum mindesten ein Alter nicht unter 40 Jahren erreicht hat". Die Betrachtung der Schädeldecke führte ihn aber auf ein weit höheres Alter. Zusammenfassend schrieb er: "Die vorliegenden Schädelreste gehören einem Menschen an, der ein Lebensalter um die 60 Jahre herum erreicht haben muss, der überwiegend nordisch und wahrscheinlich männlichen Geschlechtes war."
Auf dem Schädel habe noch der Rest eines Stirnbandes gelegen, berichtete Höhne wenige Tage später ergänzend nach Greifswald. Er wollte wissen, ob man ihn einsargen könne. "Wenn der Chef den Schädel wieder eingesargt haben will", schrieb Hirt zurück, "würde ich dem zustimmen, denn mehr als wie wir gemacht haben wird jemand anderes auch nicht durchführen können." Die Knochen habe er mit Curil konserviert und vom Schädelinnern einen Gipsausguss hergestellt.
Wenn man nun zugrunde legt, dass König Heinrich etwa sechzig Jahre alt geworden sein soll, ahnt man sofort, welche Wirkung dieser Befund entfaltete. "Wissenschaftlich anthropologische Untersuchungen" und das Stirnband auf dem Schädel bewiesen die Echtheit der Königsgebeine, verbreitete der Quedlinburger Oberbürgermeister im Juni 1937, als auch erste Presseberichte erschienen. Am 2. Juli 1937 schließlich wurden die angeblichen Überreste des Ostfrankenkönigs in der Krypta des Quedlinburger Doms wie Reliquien beigesetzt. Einen Fundbericht hat Höhne nie veröffentlicht; die berechtigten Zweifel an dem Ergebnis blieben in der NS-Zeit unter dem Deckel der Verschwiegenheit.
HANS-JOACHIM LANG
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