Ein weltberühmter Dichter erinnert sich an seine Kindheit und Jugend in Peking: "Bei Daos Leben und Werk sind der Inbegriff der Dichtung: zeitlos schimmernd." Ocean Vuong
Der weltberühmte Dichter Bei Dao, der nach Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens des Landes verwiesen wurde, erinnert sich: an seine Kindheit in Peking und seine turbulente Jugend während der Kulturrevolution, an die berauschende und festliche Stimmung dieser Zeit, an die Roten Garden, denen er sich als Siebzehnjähriger anschloss. Das intim Familiäre und das lärmend Politische, die Begeisterung und die Ernüchterung, das Feiern, auf das die Hungersnot folgt: All dies erzählt Bei Dao in seinem einzigartigen Erinnerungsbuch, in dem er seine verlorene Stadt mit all ihren Empfindungen, Gerüchen und Geräuschen aufleben lässt, "um das Peking von heute zu widerlegen."
Der weltberühmte Dichter Bei Dao, der nach Protesten auf dem Platz des Himmlischen Friedens des Landes verwiesen wurde, erinnert sich: an seine Kindheit in Peking und seine turbulente Jugend während der Kulturrevolution, an die berauschende und festliche Stimmung dieser Zeit, an die Roten Garden, denen er sich als Siebzehnjähriger anschloss. Das intim Familiäre und das lärmend Politische, die Begeisterung und die Ernüchterung, das Feiern, auf das die Hungersnot folgt: All dies erzählt Bei Dao in seinem einzigartigen Erinnerungsbuch, in dem er seine verlorene Stadt mit all ihren Empfindungen, Gerüchen und Geräuschen aufleben lässt, "um das Peking von heute zu widerlegen."
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der hier rezensierende Schriftsteller Hans Christoph Buch empfiehlt die von Wolfgang Kubin "kongenial" übersetzten Jugenderinnerungen des chinesischen Dichters Bei Dao. Philosophisches, Politisches und Privates gehen hier eine gelungene Einheit ein, meint Buch. Für ihn sind Bei Daos Erinnerungen an seine Pekinger Zeit, an die Kulturrevolution und seine eigene, wenig schmeichelhafte Rolle als einer von Maos "Scharfmachern" wie eine locker gefügte "Zeitreise" in ein untergegangenes Peking, ähnlich wie Aimé Césaires "Cahier d'un retour au pays natal". Doch Buch warnt auch: Der Inhalt des Buches ist alles andere als ein gewaltfreies Märchen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.10.2021Chinas papierene Wände
Bei Daos Kindheitserinnerungen sind ein Schlüssel zum Verständnis der Traumata, die heute noch die Volksrepublik prägen
Es ist ein Abend im späten Juli des Sommers 1989. Auf der Münchener Theresienwiese haben sich viele Hundert Demonstranten versammelt, um ein Zeichen gegen die Niederschlagung des Protestes auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni zu setzen. Mit Fackeln bilden sie die zwei chinesischen Zeichen nach, die für das Wort „Menschenrechte“ stehen. Als erster Redner tritt ein hagerer, etwa vierzigjähriger Mann mit Parka und Sonnenbrille auf, der ein Gedicht vorträgt. „Infam lautet das Passwort der Infamen ...“, lautet die erste Zeile in der deutschen Übersetzung. Kaum ist diese Zeile verklungen, stimmen die chinesischen Zuhörer in den Text ein. Sie kennen ihn auswendig und tragen die ersten vier Strophen vor wie einen Choral.
„Die Antwort“ heißt der Titel dieses Gedichtes. In Peking, in Shanghai und in anderen Städten der Volksrepublik war es bis zum Massaker am 4. Juni die bekannteste Hymne der Protestbewegung. Verfasst wurde das Gedicht von jenem Mann, der in München ans Mikrofon getreten war, mit bürgerlichem Namen heißt er Zhao Zhenkai, die Welt kennt ihn als Bei Dao.
Der Lyriker ist knapp zwei Monate älter als die Volksrepublik, deren Beginn am 1. Oktober 1949 proklamiert wurde. Für Chinesen dieser Generation bedeutet das einen lange sehr zweifelhaften, oft bitteren Schatz an Erfahrungen. Denn es zählten dazu politische Kampagnen wie die erste massive Verfolgung von Intellektuellen (1956-1957) unter der zynischen Losung „Lasst hundert Blumen blühen“. Hungersnöte wie „Der große Sprung nach vorn“, (1958-1962), im Volksmund oft beschönigend „Die Jahre der Not“ genannt, die zig Millionen Landsleute ihr Leben kosteten. Oder eben jene Periode der „Zerschlagung des Alten“, (1966-1977) die unter dem Namen „Kulturrevolution“ in die blutige Geschichte einging.
Diese drei Beispiele seien hier nur erwähnt, weil sie als zeitgeschichtliche Folie den autobiografischen Skizzen des Autors von „Das Stadttor geht auf“ einer nicht-chinesischen Leserschaft die notwendige historische Dimension zur Verfügung stellen könnten. Doch dazu mehr später. Im Vordergrund muss stehen, mit welch künstlerischer Meisterschaft Bei Dao es versteht, mit ganz wenigen und doch so präzisen Strichen aus vermeintlichen Alltagsgeschichten seiner Kindheit und Jugend den Kosmos einer Gesellschaft zu zeichnen, die vornehmlich von Mangel und Angst geprägt wird. Von verlockenden Gerüchen auf der Straße, die im Kind immer wieder den ständig bohrenden Hunger ausbrechen lassen, von der Sehnsucht nach elektrischem Licht, um nach Einbruch der Dunkelheit noch ein Schulbuch lesen zu können. Und von der Angst, durch das Versagen bei Prüfungen in den sozialen Abgrund zu stürzen – oder von der Schmach, als Kind einer „bürgerlichen“ Familie stigmatisiert und damit schlimmsten Verfolgungen ausgesetzt zu werden.
Das Kind, der Jugendliche lernt Anpassung, lernt, strategische Verbindungen zu knüpfen, lernt die Regeln des Rudels. Das ist die eine Welt. Gleichzeitig gibt es aber immer noch die Welt einer weit verzweigten Familie: Sie hat einen Stammbaum, der tief in die kaiserliche, doch auch in die revolutionär republikanische Vergangenheit zurückreicht. Da gibt es immer noch einen, meist mehrere Onkel und Tanten in diesem großen Land, das sind Verbindungen, die verlässlicher sind als die windigen Koalitionen mit politischen Fraktionen. Falls sie denn belastet werden können.
Wenn Bei Dao uns in einen Wohnraum blicken lässt, sind die Wände stets so dünn wie Reispapier. Es weiß jeder das meiste vom Nachbarn. Kann man helfen, darf man helfen, sollte man helfen? Oder doch einfach konstatieren, dass es wieder zu einem Suizid gekommen ist, ein tragischer, doch keineswegs seltener Punkt des Alltags? Bei Dao verschweigt auch nicht, das ist eine der ganz großen Stärken dieses Buches, wie selbst er in der Kulturrevolution zum grausamen Akteur in diesem Geschehen wurde. Ja, auch er hat mitgeschrien, hat seelisch und körperlich die von der „Revolution“ angezeigten Übeltäter misshandelt. Ein Kind, ein Jugendlicher seiner Zeit, doch das ist ihm keine Entschuldigung.
Als Dichter hat er schon in den Siebzigerjahren zu einer Sprache gefunden, die die Wirrsal, den Unstern jener Zeit, nein, nicht auf einen Begriff brachte, sondern in wilden Sprachbildern wie Collagen zusammenstellte. Man sprach von der Poesie des Obskuren. Es waren damals Dichterinnen und Dichter, die den Weg in eine neue Wahrnehmung der Welt aufzeigten. Das führte zu den ersten Knospen des demokratischen Frühlings nach dem Ende der Kulturrevolution, was sein blutiges Ende fand bei der Niederschlagung des Aufbegehrens im Juni 1989.
Bei Daos Erinnerungen an Kindheit und Jugend sind ein unentbehrlicher Schlüssel zum Verständnis all jener Traumata, die auch die heutige Volksrepublik noch prägen. Das gilt gerade für jene Gemüter im Westen, die jetzt damit beschäftigt sind, lautstark die „gelbe Gefahr“ oder den „orientalischen Despotismus“ als zentralen Logarithmus für das Verständnis Chinas auszurufen.
Wolfgang Kubin hat dieses Buch mit beeindruckender Empathie für die oft wild zwischen Trauer und Humor wechselnden Tonfälle des Autors ins Deutsche übertragen. Höchst bedauerlich ist nur, dass sein Verlag den oben bereits erwähnten Begriff des Obskuren offenbar so ernst nimmt, dass er ihn auch für diese Erinnerungen des großen Dichters praktiziert. Es fehlt schlicht ein kleiner historischer Apparat.
Schon viele chinesische Leser dieser Texte werden nachblättern müssen, wann genau jener Kaiser Kang Xi regierte, wann und warum sich im Jahre 1927 Kommunisten und Nationalisten trennten, worum genau es den Taiping oder worum es den „Boxern“ ging. Diese Reihe lässt sich fortsetzen. Gewiss kennen Verleger und Lektoren alle diese Details. Der deutsche Leser darf sich dagegen zu Recht überfordert fühlen. Nicht immer ist Schmalhans ein guter Küchenchef. Besonders dann nicht, wenn es sich um das Werk eines so großen Künstlers handelt.
TILMAN SPENGLER
Bohrender Hunger,
Sehnsucht nach elektrischem
Licht, Angst vor der Schmach
Zeichnet mit wenigen präzisen Strichen einen ganzen Kosmos: der Dichter Bei Dao.
Foto: imago images / ZUMA Press
Bei Dao: Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking. Aus dem Chinesischen von
Wolfgang Kubin. Hanser, München 2021.
336 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Bei Daos Kindheitserinnerungen sind ein Schlüssel zum Verständnis der Traumata, die heute noch die Volksrepublik prägen
Es ist ein Abend im späten Juli des Sommers 1989. Auf der Münchener Theresienwiese haben sich viele Hundert Demonstranten versammelt, um ein Zeichen gegen die Niederschlagung des Protestes auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni zu setzen. Mit Fackeln bilden sie die zwei chinesischen Zeichen nach, die für das Wort „Menschenrechte“ stehen. Als erster Redner tritt ein hagerer, etwa vierzigjähriger Mann mit Parka und Sonnenbrille auf, der ein Gedicht vorträgt. „Infam lautet das Passwort der Infamen ...“, lautet die erste Zeile in der deutschen Übersetzung. Kaum ist diese Zeile verklungen, stimmen die chinesischen Zuhörer in den Text ein. Sie kennen ihn auswendig und tragen die ersten vier Strophen vor wie einen Choral.
„Die Antwort“ heißt der Titel dieses Gedichtes. In Peking, in Shanghai und in anderen Städten der Volksrepublik war es bis zum Massaker am 4. Juni die bekannteste Hymne der Protestbewegung. Verfasst wurde das Gedicht von jenem Mann, der in München ans Mikrofon getreten war, mit bürgerlichem Namen heißt er Zhao Zhenkai, die Welt kennt ihn als Bei Dao.
Der Lyriker ist knapp zwei Monate älter als die Volksrepublik, deren Beginn am 1. Oktober 1949 proklamiert wurde. Für Chinesen dieser Generation bedeutet das einen lange sehr zweifelhaften, oft bitteren Schatz an Erfahrungen. Denn es zählten dazu politische Kampagnen wie die erste massive Verfolgung von Intellektuellen (1956-1957) unter der zynischen Losung „Lasst hundert Blumen blühen“. Hungersnöte wie „Der große Sprung nach vorn“, (1958-1962), im Volksmund oft beschönigend „Die Jahre der Not“ genannt, die zig Millionen Landsleute ihr Leben kosteten. Oder eben jene Periode der „Zerschlagung des Alten“, (1966-1977) die unter dem Namen „Kulturrevolution“ in die blutige Geschichte einging.
Diese drei Beispiele seien hier nur erwähnt, weil sie als zeitgeschichtliche Folie den autobiografischen Skizzen des Autors von „Das Stadttor geht auf“ einer nicht-chinesischen Leserschaft die notwendige historische Dimension zur Verfügung stellen könnten. Doch dazu mehr später. Im Vordergrund muss stehen, mit welch künstlerischer Meisterschaft Bei Dao es versteht, mit ganz wenigen und doch so präzisen Strichen aus vermeintlichen Alltagsgeschichten seiner Kindheit und Jugend den Kosmos einer Gesellschaft zu zeichnen, die vornehmlich von Mangel und Angst geprägt wird. Von verlockenden Gerüchen auf der Straße, die im Kind immer wieder den ständig bohrenden Hunger ausbrechen lassen, von der Sehnsucht nach elektrischem Licht, um nach Einbruch der Dunkelheit noch ein Schulbuch lesen zu können. Und von der Angst, durch das Versagen bei Prüfungen in den sozialen Abgrund zu stürzen – oder von der Schmach, als Kind einer „bürgerlichen“ Familie stigmatisiert und damit schlimmsten Verfolgungen ausgesetzt zu werden.
Das Kind, der Jugendliche lernt Anpassung, lernt, strategische Verbindungen zu knüpfen, lernt die Regeln des Rudels. Das ist die eine Welt. Gleichzeitig gibt es aber immer noch die Welt einer weit verzweigten Familie: Sie hat einen Stammbaum, der tief in die kaiserliche, doch auch in die revolutionär republikanische Vergangenheit zurückreicht. Da gibt es immer noch einen, meist mehrere Onkel und Tanten in diesem großen Land, das sind Verbindungen, die verlässlicher sind als die windigen Koalitionen mit politischen Fraktionen. Falls sie denn belastet werden können.
Wenn Bei Dao uns in einen Wohnraum blicken lässt, sind die Wände stets so dünn wie Reispapier. Es weiß jeder das meiste vom Nachbarn. Kann man helfen, darf man helfen, sollte man helfen? Oder doch einfach konstatieren, dass es wieder zu einem Suizid gekommen ist, ein tragischer, doch keineswegs seltener Punkt des Alltags? Bei Dao verschweigt auch nicht, das ist eine der ganz großen Stärken dieses Buches, wie selbst er in der Kulturrevolution zum grausamen Akteur in diesem Geschehen wurde. Ja, auch er hat mitgeschrien, hat seelisch und körperlich die von der „Revolution“ angezeigten Übeltäter misshandelt. Ein Kind, ein Jugendlicher seiner Zeit, doch das ist ihm keine Entschuldigung.
Als Dichter hat er schon in den Siebzigerjahren zu einer Sprache gefunden, die die Wirrsal, den Unstern jener Zeit, nein, nicht auf einen Begriff brachte, sondern in wilden Sprachbildern wie Collagen zusammenstellte. Man sprach von der Poesie des Obskuren. Es waren damals Dichterinnen und Dichter, die den Weg in eine neue Wahrnehmung der Welt aufzeigten. Das führte zu den ersten Knospen des demokratischen Frühlings nach dem Ende der Kulturrevolution, was sein blutiges Ende fand bei der Niederschlagung des Aufbegehrens im Juni 1989.
Bei Daos Erinnerungen an Kindheit und Jugend sind ein unentbehrlicher Schlüssel zum Verständnis all jener Traumata, die auch die heutige Volksrepublik noch prägen. Das gilt gerade für jene Gemüter im Westen, die jetzt damit beschäftigt sind, lautstark die „gelbe Gefahr“ oder den „orientalischen Despotismus“ als zentralen Logarithmus für das Verständnis Chinas auszurufen.
Wolfgang Kubin hat dieses Buch mit beeindruckender Empathie für die oft wild zwischen Trauer und Humor wechselnden Tonfälle des Autors ins Deutsche übertragen. Höchst bedauerlich ist nur, dass sein Verlag den oben bereits erwähnten Begriff des Obskuren offenbar so ernst nimmt, dass er ihn auch für diese Erinnerungen des großen Dichters praktiziert. Es fehlt schlicht ein kleiner historischer Apparat.
Schon viele chinesische Leser dieser Texte werden nachblättern müssen, wann genau jener Kaiser Kang Xi regierte, wann und warum sich im Jahre 1927 Kommunisten und Nationalisten trennten, worum genau es den Taiping oder worum es den „Boxern“ ging. Diese Reihe lässt sich fortsetzen. Gewiss kennen Verleger und Lektoren alle diese Details. Der deutsche Leser darf sich dagegen zu Recht überfordert fühlen. Nicht immer ist Schmalhans ein guter Küchenchef. Besonders dann nicht, wenn es sich um das Werk eines so großen Künstlers handelt.
TILMAN SPENGLER
Bohrender Hunger,
Sehnsucht nach elektrischem
Licht, Angst vor der Schmach
Zeichnet mit wenigen präzisen Strichen einen ganzen Kosmos: der Dichter Bei Dao.
Foto: imago images / ZUMA Press
Bei Dao: Das Stadttor geht auf. Eine Jugend in Peking. Aus dem Chinesischen von
Wolfgang Kubin. Hanser, München 2021.
336 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2021Beim Pfeifen des Taubengefieders
Aufwachsen in der Diktatur: Der große chinesische Dichter Bei Dao erinnert sich an das Peking seiner Jugend während der Kulturrevolution.
Als Bei Dao, nach dreizehn Jahren im Exil, 2001 erstmals wieder in seine Heimatstadt reisen darf, erwarten ihn zwei Herren am Flughafen: "Obgleich von ungleicher Gestalt, ähnelten sie einander sehr. Das einsame Licht diente ihnen als Folie und machte sie zu Schatten aus einer anderen Welt. Die Begrüßungszeremonie war kurz und bündig, danach Schweigen. So ging es in eine schwarze Limousine. Da erst begannen die drei Herren zu sprechen."
Der Dichter, der an der Universität im kalifornischen Davis gelehrt hatte, hörte die Herren kaum - zu sehr war er von den vorbeiziehenden Lichtern der Stadt gefangen. Gaben sie Höflichkeitsfloskeln oder doch eher Einschüchterungen von sich? Die Stadt war es, die ihn faszinierte und verstörte, die ihm hybrid schien und orientierungslos taumelnd. So beschließt er, seine Erinnerungen aufzuschreiben, um "das Peking von heute (zu) widerlegen".
Der Titel "Das Stadttor geht auf" ist auch politisch zu lesen, denn Bei Dao gehört zu den schärfsten und von der Regierung gefürchteten Kritikern der Diktatur; sein Gedicht "Die Antwort" (1976) wurde zur Hymne der Demokratiebewegung, die dreizehn Jahre später auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen wurde. Damals befand sich Bei Dao in Berlin, er wurde gewarnt und kehrte daraufhin nicht nach Peking zurück. "Die 80er-Jahre waren ein weißer Korridor, der zwei Nächte miteinander verband", heißt es im letzten Kapitel seines Buches. Es trägt den Titel "Vater" - auch ihm setzt er mit diesen Erinnerungen ein Denkmal.
"Er erzählt in Bildern, sein Stil gleicht einem poetischen Tanz", schreibt Bei Daos Übersetzer Wolfgang Kubin in seinem Nachwort und weist damit auf eine Besonderheit dieser Erinnerungen: Sie scheinen aus einer, wenn auch kleinen, spielerisch-humorvollen Distanz erzählt und kommen ihren Gegenständen gerade deswegen ganz nah. Bei Dao vertieft sich in die Geräusche und Gerüche seiner Kindheit, er hört wieder den Klang des Taubengefieders und die morgendlichen Gesangsproben eines Hahnes: "Seine Zuhörer folgten der Tonleiter mit klopfendem Herzen bis zu den Wolken, wo er unerwartet innehielt und sie in der Schwebe zurückließ."
Peking ist in den Fünfzigerjahren eine dörfliche Stadt, geprägt von Pferdegetrappel und Rußgestank, von Armut und Unwissen. Bei Daos Pubertät fällt in die großen Hungerjahre, immer wieder kreisen seine Erinnerungen um das Essen und seinen Duft. Sein Gesicht, schreibt er, sei damals eingefallen gewesen, die Augen starr und unnatürlich glänzend, um seine Mundwinkel spielte ein "arglistiges Grinsen" - er war ein kleines Tier auf der Jagd. Die Hungersnot von 1950 bis 1962, während der Millionen Chinesen starben, wurde von den Machthabern zynisch als "Großer Sprung nach vorn" gefeiert, ihm schloss sich die "Zerschlagung des Alten" an, die sogenannte "Kulturrevolution" (1966 bis 1977).
Sie steht im Zentrum des Buches, schmerzhaft und in großartigen Bildern erzählt. In diesen Jahren wird Bei Dao, der 1949 geboren wurde, erwachsen. Er stammt aus einer gebildeten Familie mit ehrwürdigem Stammbaum, etliche seiner vielen Onkel bekleiden einflussreiche Positionen, auch sein Vater war als Pionier des chinesischen Versicherungswesens privilegiert und damit höchst gefährdet. Zwei erschütternde Fotos im Buch zeigen Vater und Mutter in einer Kaderschule, ausgemergelt und mit versteinerten Gesichtern. Bei Dao wirkt auf einem dieser Fotos zwar ernst, aber auch entschlossen: Er war Teil der Kulturrevolution, seine "Mittelschule Nr. 4", eine berühmte Schule der Stadt, wurde eines ihrer Zentren, mit fast täglichen "Kampfsitzungen", bei denen über Leben und Tod entschieden wurde.
"All die große Energie, die diese Revolution freigab, einschließlich der blutigen Gewalt, kam von uns Kindern", schreibt Bei Dao und schildert sehr ehrlich, wie er als Anführer eines Rudels von Mitschülern einen Nachbarn aus dem Haus zerrte, ihn schlug und versuchte, seinen Kopf kahl zu scheren, doch seine Hand zitterte zu sehr. Jedes dieser Gewaltereignisse verwundet seine Seele. In dieser Zeit beginnt er rauschhaft zu lesen und erste Gedichte zu schreiben, durch seine Familie hat er Zugang zu verbotenen Büchern und ausländischer Kunst. In der elterlichen Wohnung gründet er mit Freunden einen "Salon", in dem offen gesprochen wird, und wagt als Neunzehnjähriger, "jegliche Autorität herauszufordern".
Sehr genau und ohne jede Beschönigung sind diese Jahre geschildert, besonders die Trauer um verhaftete und hingerichtete Freunde schwingt in den Sätzen mit. Und doch pilgert der angehende Dichter mit anderen Rotgardisten zum Ursprungsort der Revolution, Maos Schriften im Gepäck - eine dem Wahnsinn und der Gewalt verfallene Zeit, resümiert er.
In jedem Bild dieser leuchtenden Erinnerungen steckt die leicht ironische, auch selbstironische Ambivalenz von Bei Daos Gefühlen für China, etwa wenn er den allgegenwärtigen Staub den "Oberbefehlshaber aller Gerüche" nennt: "Er lässt die Münder ausdorren, legt die Zungen trocken, veranlasst die Kehle zu qualmen und lässt das Herz sich elend fühlen."
Ähnlich schwierig sind die Auseinandersetzungen mit dem Vater, der seine Verse am liebsten verbrennen würde und ihn aus dem Haus wirft und den Bei Dao doch heftig liebt. Bei den Besuchen der Eltern in Amerika beobachtet er ihn als typischen Vertreter der Intelligenzija, der sich halb untergeordnet, halb verweigert hat und den er für seinen Überlebenswillen bewundert. Für den Sterbenden kehrte der Sohn nach Peking zurück. Heute lehrt Bei Dao an der chinesischen Universität von Hongkong (wo die Originalausgabe dieses Buches 2010 erschien) und darf Peking besuchen, streng beobachtet vom Geheimdienst. NICOLE HENNEBERG
Bei Dao: "Das Stadttor geht auf". Eine Jugend in Peking.
Aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin. Hanser Verlag, München 2021. 333 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aufwachsen in der Diktatur: Der große chinesische Dichter Bei Dao erinnert sich an das Peking seiner Jugend während der Kulturrevolution.
Als Bei Dao, nach dreizehn Jahren im Exil, 2001 erstmals wieder in seine Heimatstadt reisen darf, erwarten ihn zwei Herren am Flughafen: "Obgleich von ungleicher Gestalt, ähnelten sie einander sehr. Das einsame Licht diente ihnen als Folie und machte sie zu Schatten aus einer anderen Welt. Die Begrüßungszeremonie war kurz und bündig, danach Schweigen. So ging es in eine schwarze Limousine. Da erst begannen die drei Herren zu sprechen."
Der Dichter, der an der Universität im kalifornischen Davis gelehrt hatte, hörte die Herren kaum - zu sehr war er von den vorbeiziehenden Lichtern der Stadt gefangen. Gaben sie Höflichkeitsfloskeln oder doch eher Einschüchterungen von sich? Die Stadt war es, die ihn faszinierte und verstörte, die ihm hybrid schien und orientierungslos taumelnd. So beschließt er, seine Erinnerungen aufzuschreiben, um "das Peking von heute (zu) widerlegen".
Der Titel "Das Stadttor geht auf" ist auch politisch zu lesen, denn Bei Dao gehört zu den schärfsten und von der Regierung gefürchteten Kritikern der Diktatur; sein Gedicht "Die Antwort" (1976) wurde zur Hymne der Demokratiebewegung, die dreizehn Jahre später auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen wurde. Damals befand sich Bei Dao in Berlin, er wurde gewarnt und kehrte daraufhin nicht nach Peking zurück. "Die 80er-Jahre waren ein weißer Korridor, der zwei Nächte miteinander verband", heißt es im letzten Kapitel seines Buches. Es trägt den Titel "Vater" - auch ihm setzt er mit diesen Erinnerungen ein Denkmal.
"Er erzählt in Bildern, sein Stil gleicht einem poetischen Tanz", schreibt Bei Daos Übersetzer Wolfgang Kubin in seinem Nachwort und weist damit auf eine Besonderheit dieser Erinnerungen: Sie scheinen aus einer, wenn auch kleinen, spielerisch-humorvollen Distanz erzählt und kommen ihren Gegenständen gerade deswegen ganz nah. Bei Dao vertieft sich in die Geräusche und Gerüche seiner Kindheit, er hört wieder den Klang des Taubengefieders und die morgendlichen Gesangsproben eines Hahnes: "Seine Zuhörer folgten der Tonleiter mit klopfendem Herzen bis zu den Wolken, wo er unerwartet innehielt und sie in der Schwebe zurückließ."
Peking ist in den Fünfzigerjahren eine dörfliche Stadt, geprägt von Pferdegetrappel und Rußgestank, von Armut und Unwissen. Bei Daos Pubertät fällt in die großen Hungerjahre, immer wieder kreisen seine Erinnerungen um das Essen und seinen Duft. Sein Gesicht, schreibt er, sei damals eingefallen gewesen, die Augen starr und unnatürlich glänzend, um seine Mundwinkel spielte ein "arglistiges Grinsen" - er war ein kleines Tier auf der Jagd. Die Hungersnot von 1950 bis 1962, während der Millionen Chinesen starben, wurde von den Machthabern zynisch als "Großer Sprung nach vorn" gefeiert, ihm schloss sich die "Zerschlagung des Alten" an, die sogenannte "Kulturrevolution" (1966 bis 1977).
Sie steht im Zentrum des Buches, schmerzhaft und in großartigen Bildern erzählt. In diesen Jahren wird Bei Dao, der 1949 geboren wurde, erwachsen. Er stammt aus einer gebildeten Familie mit ehrwürdigem Stammbaum, etliche seiner vielen Onkel bekleiden einflussreiche Positionen, auch sein Vater war als Pionier des chinesischen Versicherungswesens privilegiert und damit höchst gefährdet. Zwei erschütternde Fotos im Buch zeigen Vater und Mutter in einer Kaderschule, ausgemergelt und mit versteinerten Gesichtern. Bei Dao wirkt auf einem dieser Fotos zwar ernst, aber auch entschlossen: Er war Teil der Kulturrevolution, seine "Mittelschule Nr. 4", eine berühmte Schule der Stadt, wurde eines ihrer Zentren, mit fast täglichen "Kampfsitzungen", bei denen über Leben und Tod entschieden wurde.
"All die große Energie, die diese Revolution freigab, einschließlich der blutigen Gewalt, kam von uns Kindern", schreibt Bei Dao und schildert sehr ehrlich, wie er als Anführer eines Rudels von Mitschülern einen Nachbarn aus dem Haus zerrte, ihn schlug und versuchte, seinen Kopf kahl zu scheren, doch seine Hand zitterte zu sehr. Jedes dieser Gewaltereignisse verwundet seine Seele. In dieser Zeit beginnt er rauschhaft zu lesen und erste Gedichte zu schreiben, durch seine Familie hat er Zugang zu verbotenen Büchern und ausländischer Kunst. In der elterlichen Wohnung gründet er mit Freunden einen "Salon", in dem offen gesprochen wird, und wagt als Neunzehnjähriger, "jegliche Autorität herauszufordern".
Sehr genau und ohne jede Beschönigung sind diese Jahre geschildert, besonders die Trauer um verhaftete und hingerichtete Freunde schwingt in den Sätzen mit. Und doch pilgert der angehende Dichter mit anderen Rotgardisten zum Ursprungsort der Revolution, Maos Schriften im Gepäck - eine dem Wahnsinn und der Gewalt verfallene Zeit, resümiert er.
In jedem Bild dieser leuchtenden Erinnerungen steckt die leicht ironische, auch selbstironische Ambivalenz von Bei Daos Gefühlen für China, etwa wenn er den allgegenwärtigen Staub den "Oberbefehlshaber aller Gerüche" nennt: "Er lässt die Münder ausdorren, legt die Zungen trocken, veranlasst die Kehle zu qualmen und lässt das Herz sich elend fühlen."
Ähnlich schwierig sind die Auseinandersetzungen mit dem Vater, der seine Verse am liebsten verbrennen würde und ihn aus dem Haus wirft und den Bei Dao doch heftig liebt. Bei den Besuchen der Eltern in Amerika beobachtet er ihn als typischen Vertreter der Intelligenzija, der sich halb untergeordnet, halb verweigert hat und den er für seinen Überlebenswillen bewundert. Für den Sterbenden kehrte der Sohn nach Peking zurück. Heute lehrt Bei Dao an der chinesischen Universität von Hongkong (wo die Originalausgabe dieses Buches 2010 erschien) und darf Peking besuchen, streng beobachtet vom Geheimdienst. NICOLE HENNEBERG
Bei Dao: "Das Stadttor geht auf". Eine Jugend in Peking.
Aus dem Chinesischen von Wolfgang Kubin. Hanser Verlag, München 2021. 333 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"In jedem Bild dieser leuchtenden Erinnerungen steckt die leicht ironische, auch selbstironische Ambivalenz von Bei Daos Gefühlen für China." Nicole Henneberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.21
"Seinen literarischen Reiz hat 'Das Stadttor geht auf' als Peking-Elegie. Seinen mentalitätsgeschichtlichen Wert hat es als Dokument einer verschwindenden Generation, deren Traumata doch noch das wirtschaftlich entfesselten China von heuteprägen." Gregor Dotzauer, Tagesspiegel, 10.11.21
"Mit künstlerischer Meisterschaft versteht es Bei Dao, mit ganz wenigen und doch so präzisen Strichen aus vermeintlichen Alltagsgeschichten seiner Kindheit und Jugend den Kosmos einer Gesellschaft zu zeichnen." Tilman Spengler, Süddeutsche Zeitung, 21.10.21
"'Das Stadttor geht auf' beschreibt innere und äußere Landschaften der Demütigung und des physischen wie auch geistigen Hungers. Eine immens wichtige Lektüre." Marko Martin, Deutschlandfunk Kultur, 21.10.21
"Bei Daos Prosa ist von schlichter Anmut." Martin Gasser, Kleine Zeitung, 05.02.22
"Bei Daos Leben und Werk sind der Inbegriff der Dichtung: zeitlos schimmernde Kleinodien. Stets stellt er das Mögliche über das Polemische, unverdrossene Hoffnung über allzu bequemen Zynismus. All das findet sich in erweiterter Form in seiner Prosa wieder." Ocean Vuong
"Seinen literarischen Reiz hat 'Das Stadttor geht auf' als Peking-Elegie. Seinen mentalitätsgeschichtlichen Wert hat es als Dokument einer verschwindenden Generation, deren Traumata doch noch das wirtschaftlich entfesselten China von heuteprägen." Gregor Dotzauer, Tagesspiegel, 10.11.21
"Mit künstlerischer Meisterschaft versteht es Bei Dao, mit ganz wenigen und doch so präzisen Strichen aus vermeintlichen Alltagsgeschichten seiner Kindheit und Jugend den Kosmos einer Gesellschaft zu zeichnen." Tilman Spengler, Süddeutsche Zeitung, 21.10.21
"'Das Stadttor geht auf' beschreibt innere und äußere Landschaften der Demütigung und des physischen wie auch geistigen Hungers. Eine immens wichtige Lektüre." Marko Martin, Deutschlandfunk Kultur, 21.10.21
"Bei Daos Prosa ist von schlichter Anmut." Martin Gasser, Kleine Zeitung, 05.02.22
"Bei Daos Leben und Werk sind der Inbegriff der Dichtung: zeitlos schimmernde Kleinodien. Stets stellt er das Mögliche über das Polemische, unverdrossene Hoffnung über allzu bequemen Zynismus. All das findet sich in erweiterter Form in seiner Prosa wieder." Ocean Vuong