Mit den Suleika-Gedichten, die Goethe unter seinem Namen im West-östlichen Divan veröffentlichte, hat Marianne von Willemer (1784 bis 1860) Literaturgeschichte geschrieben. Aus ihrem Besitz stammt das hier in Faksimilequalität reproduzierte Stammbuch, das Unikate aus den Jahren 1810 bis 1855 enthält und das einen zauberhaften Einblick in die Bürgerkultur des 19. Jahrhunderts gewährt. Unter "Stammbuch" verstand man das, was man heute vielleicht als ein Gästebuch oder ein Poesiealbum bezeichnen würde. Das Exemplar der Marianne von Willemer ist überdies nicht gebunden, sondern hat die Gestalt einer Schatulle in Buchform, in die die 56 Erinnerungsstücke einzeln eingelegt sind. Es enthält Gedichte, Widmungsblätter und Bilder in verschiedenen Techniken so auch entsprechend den heutigen Postkarten als Reiseandenken verkaufte Gouachen oder die aus einem Ahornblatt herausgeschabte Silhouette Napoleons zu Pferde. Jedes dieser Stücke wird farbig abgebildet, beschrieben und kommentiert; die Texte werden transkribiert. Die Geschichten, die sich an die einzelnen Stücke knüpfen, werden von Kurt Andreae, einem Nachfahren Johann Jakob von Willemers, mit viel Anteilnahme erzählt so etwa jene zu einem Gedicht Herman Grimms, dem Marianne, das "Großmütterchen", 1850 ihre Autorschaft der Divan-Gedichte unter der Maßgabe anvertraute, daß er ihr Geheimnis bis nach ihrem Tod bewahren würde.
Mit dieser Faksimileedition des Stammbuchs der Marianne von Willemer wird ein kulturhistorisches Dokument ersten Ranges zugänglich gemacht. Vor dem Betrachter und Leser entsteht ein Panorama des gesellschaftlichen Lebens und des Tourismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber auch das Porträt einer auch über ihre Begegnung mit Goethe hinaus faszinierenden Frau, der Suleika aus Goethes West-östlichem Divan, die bis ins hohe Alter am gesellschaftlichen Leben als Gastgeberin und Künstlerin teilnahm.
Mit dieser Faksimileedition des Stammbuchs der Marianne von Willemer wird ein kulturhistorisches Dokument ersten Ranges zugänglich gemacht. Vor dem Betrachter und Leser entsteht ein Panorama des gesellschaftlichen Lebens und des Tourismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber auch das Porträt einer auch über ihre Begegnung mit Goethe hinaus faszinierenden Frau, der Suleika aus Goethes West-östlichem Divan, die bis ins hohe Alter am gesellschaftlichen Leben als Gastgeberin und Künstlerin teilnahm.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.2007Sie beschämt wie Morgenröte
Zauberhaft: Marianne von Willemers Stammbuch
"Glückliche Tage, die wie helle Punkte in meinem Leben stehen", verbrachte Marianne von Willemer nicht nur mit Goethe, den sie 1814 während der Arbeit am "West-Östlichen Divan" kennenlernte, in dem ihr mit der Figur der Suleika ein literarisches Zeugnis gesetzt wurde und zu dem sie auch vier Gedichte aus eigener Feder beisteuerte. Die 1784 geborene Willemer, die von 1798 bis zu ihrem Tod im Jahr 1860 in Frankfurt am Main lebte, muss von vielen geschätzt und geliebt worden sein. Zeugnis davon gibt die Veröffentlichung ihres Stammbuches, das sie, selbst kinderlos, an ihre Stiefenkel vererbt hat und das sich bis heute in Familienbesitz befindet.
Das Stammbuch, Vorläufer des Poesiealbums und eine Art protestantische Fortsetzung mittelalterlicher Emblembücher, erlebte seine Hochblüte in der Goethezeit. Es war Ausdrucksmittel von Freundschaft und Zuneigung. Der typische Eintrag aus Motto oder Widmung, einem selbstverfassten Gedicht oder Lied, Belehrung oder Zuspruch, wurde vom Verfasser datiert, unterzeichnet und mit Illustrationen, gepressten Pflanzen, Silhouetten, Haarlocken oder Stickereien ergänzt.
Willemers Stammbuch ist ein besonders schönes, wenn auch formal untypisches Exemplar. In einer hölzernen Kassette wurden lose Blätter aus drei verschiedenen Abschnitten von 1810 bis 1853 zu einem Konvolut zusammengefasst. Man staunt über die Phantasie und Sorgfalt, die von Beiträgern wie dem Erzherzog Johann von Österreich, dem Maler Edward von Steinle und Mitgliedern der Familie Brentano darauf verwandt wurden, die Blätter zu gestalten und die Zuneigung zu Marianne von Willemer anders zu bekunden, als es Goethe, selbst ohne Stammbuch-Eintrag, in den Divan-Gedichten tat.
Das wohl bemerkenswerteste Blatt liegt in der Kassette zuunterst: Ein sogenanntes Skeleton-Leave zeigt den reitenden Napoleon. Gefertigt ist es in einer Technik, die um 1800 von Seeleuten aus China nach Europa gebracht wurde. Man kochte dicke, geäderte Laubblätter in Sodalösung und ließ sie ziehen, bis sich das Blattgewebe auflöste. Mit einer Bürste konnten die unversehrten Blattadern freigelegt werden. Großes Geschick war notwendig, eine Silhouette stehenzulassen. Nur wenige von den fragilen Exemplaren dieser Blätter haben die Zeiten überdauert.
Marianne von Willemers Stammbuch ist das zauberhafte Zeugnis einer untergegangenen Erinnerungskultur. Digitale und standardisierte Freundschaftsbeweise unserer Zeit werden unter den Betrachtern der Nachwelt wohl kein vergleichbares Entzücken auslösen.
BEATE TRÖGER
Kurt Andreae (Hrsg.): "Das Stammbuch der Marianne von Willemer". Mitarbeit von Marianne Küffner. Kunsthistorische Bearbeitung von Gerhard Kölsch. Insel Verlag, Frankfurt am Main, Leipzig 2006. 191 S., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zauberhaft: Marianne von Willemers Stammbuch
"Glückliche Tage, die wie helle Punkte in meinem Leben stehen", verbrachte Marianne von Willemer nicht nur mit Goethe, den sie 1814 während der Arbeit am "West-Östlichen Divan" kennenlernte, in dem ihr mit der Figur der Suleika ein literarisches Zeugnis gesetzt wurde und zu dem sie auch vier Gedichte aus eigener Feder beisteuerte. Die 1784 geborene Willemer, die von 1798 bis zu ihrem Tod im Jahr 1860 in Frankfurt am Main lebte, muss von vielen geschätzt und geliebt worden sein. Zeugnis davon gibt die Veröffentlichung ihres Stammbuches, das sie, selbst kinderlos, an ihre Stiefenkel vererbt hat und das sich bis heute in Familienbesitz befindet.
Das Stammbuch, Vorläufer des Poesiealbums und eine Art protestantische Fortsetzung mittelalterlicher Emblembücher, erlebte seine Hochblüte in der Goethezeit. Es war Ausdrucksmittel von Freundschaft und Zuneigung. Der typische Eintrag aus Motto oder Widmung, einem selbstverfassten Gedicht oder Lied, Belehrung oder Zuspruch, wurde vom Verfasser datiert, unterzeichnet und mit Illustrationen, gepressten Pflanzen, Silhouetten, Haarlocken oder Stickereien ergänzt.
Willemers Stammbuch ist ein besonders schönes, wenn auch formal untypisches Exemplar. In einer hölzernen Kassette wurden lose Blätter aus drei verschiedenen Abschnitten von 1810 bis 1853 zu einem Konvolut zusammengefasst. Man staunt über die Phantasie und Sorgfalt, die von Beiträgern wie dem Erzherzog Johann von Österreich, dem Maler Edward von Steinle und Mitgliedern der Familie Brentano darauf verwandt wurden, die Blätter zu gestalten und die Zuneigung zu Marianne von Willemer anders zu bekunden, als es Goethe, selbst ohne Stammbuch-Eintrag, in den Divan-Gedichten tat.
Das wohl bemerkenswerteste Blatt liegt in der Kassette zuunterst: Ein sogenanntes Skeleton-Leave zeigt den reitenden Napoleon. Gefertigt ist es in einer Technik, die um 1800 von Seeleuten aus China nach Europa gebracht wurde. Man kochte dicke, geäderte Laubblätter in Sodalösung und ließ sie ziehen, bis sich das Blattgewebe auflöste. Mit einer Bürste konnten die unversehrten Blattadern freigelegt werden. Großes Geschick war notwendig, eine Silhouette stehenzulassen. Nur wenige von den fragilen Exemplaren dieser Blätter haben die Zeiten überdauert.
Marianne von Willemers Stammbuch ist das zauberhafte Zeugnis einer untergegangenen Erinnerungskultur. Digitale und standardisierte Freundschaftsbeweise unserer Zeit werden unter den Betrachtern der Nachwelt wohl kein vergleichbares Entzücken auslösen.
BEATE TRÖGER
Kurt Andreae (Hrsg.): "Das Stammbuch der Marianne von Willemer". Mitarbeit von Marianne Küffner. Kunsthistorische Bearbeitung von Gerhard Kölsch. Insel Verlag, Frankfurt am Main, Leipzig 2006. 191 S., geb., 38,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Marianne von Willemer, Frankfurterin und Zeitgenössin Goethes pflegte viele Freundschaften. Während der deutsche Dichter sie als Suleika im "West-Östlichen Diwan" verewigte, gestalteten andere, wie die Familie Brentano, ihre Gunstbeweise mit einem Gedicht, Lied, einer Weisheit oder einem Ratschlag, geschmückt mit Illustrationen oder anderem Beiwerk. Gesammelt wurden sie in einem "Stammbuch", dem Vorläufer des Poesiealbums. Rezensentin Beate Tröger begeistert dieses "zauberhafte Zeugnis einer vergangenen Erinnerungskultur", das hier als Loseblattsammlung vorliegt und damit eine formale Besonderheit darstellt. Außergewöhnlich schön und selten sei das letzte Blatt der Kassette, das eine aus Blattadern geformte Silhouette des reitenden Napoleons zeige. Digitalisierte Freundschaftsbeweise werden der Nachwelt "kein vergleichbares Entzücken" bereiten, so das Fazit der Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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