Eines Tages taucht René im Dorf wieder auf, der längere Zeit als Söldner in Afrika verschollene Sohn einer Familie, die sich recht und schlecht mit einem Schnapsladen durchschlägt. Doch von seinen Erlebnissen erzählt René nichts.
Er lümmelt herum und steckt mit Charlie zusammen, dem Kriegskumpan, der in einem Campingwagen im nahen Wäldchen lebt. Da beginnt eine Serie von bizarren Krankheits- und Todesfällen das Dorf zu erschüttern, in dem bald nichts mehr so ist wie früher. Zwar haben Filz, Mißgunst und Amoral die Atmosphäre unter den Bewohnern schon immer bestimmt, doch wirkt die Rückkehr des verlorenen Sohnes wie ein Katalysator: Lange in der Geschichte verborgene Schuld kommt ans Tageslicht. In seinem neuen Roman - halb Krimi, halb figurenreiche Provinztragödie - inszeniert Claus den Ausbruch einer kollektiven Hysterie.
Die spannende Geschichte einer alltäglichen Katastrophe - Claus erzählt sie mit Hellsicht und illusionslosem Mitgefühl.
Er lümmelt herum und steckt mit Charlie zusammen, dem Kriegskumpan, der in einem Campingwagen im nahen Wäldchen lebt. Da beginnt eine Serie von bizarren Krankheits- und Todesfällen das Dorf zu erschüttern, in dem bald nichts mehr so ist wie früher. Zwar haben Filz, Mißgunst und Amoral die Atmosphäre unter den Bewohnern schon immer bestimmt, doch wirkt die Rückkehr des verlorenen Sohnes wie ein Katalysator: Lange in der Geschichte verborgene Schuld kommt ans Tageslicht. In seinem neuen Roman - halb Krimi, halb figurenreiche Provinztragödie - inszeniert Claus den Ausbruch einer kollektiven Hysterie.
Die spannende Geschichte einer alltäglichen Katastrophe - Claus erzählt sie mit Hellsicht und illusionslosem Mitgefühl.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.1998Wir sind die Kneipe
Die Lügen und Laster des Hugo Claus · Von Christoph Bartmann
Wie soll man nur des Bösen Herr werden, das mit einem Mal im Dörfchen Alegem wahre Triumphe feiert? Hochwürden Lamantijn ist sich nicht sicher, ob er seiner Pfarrfamilie angesichts der herrschenden "Pest" noch Römer zwölf, Vers einundzwanzig empfehlen soll, der da lautet: "Laß dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute." Oder ob es im Blick auf die schlimmen Vorkommnisse nicht anzuraten sei, "dem, der das alles angerichtet hat, ein Ende zu bereiten, ein radikales, unerbittliches, notfalls auch grausames und unmenschliches Ende". Kaum hat der Pfarrer zur Menschenjagd geblasen, rutscht er auf der Kanzel aus und landet "todunglücklich auf einer Grabplatte aus Stein" - letztes Glied in einer Kette unheimlicher Krankheits- und Todesfälle, von der Alegem seit René Catrijsses unerwartetem Auftauchen heimgesucht wird.
"Das Stillschweigen", der neueste und nunmehr zwanzigste Roman von Hugo Claus, Flanderns bedeutendstem lebenden Schriftsteller, ist ein moralischer Kriminalroman, eine schwarze Provinzposse - und vor allem eine flämische Apokalypse. Dem Buch voran stehen zwei Zeilen von John Donne: "Tis all in pieces, all coherence gone / All just supply and all relation". Worte, die unverzüglich an den aktuellen Zustand des belgischen Staatswesens denken lassen. Man kann, wenn man Claus' Roman liest, die Skandale der letzten Jahre nicht ausblenden. Doch der Autor hat alles Aktuelle konsequent verfremdet.
"Das Stillschweigen" - im Original heißt der Roman "De Geruchten", "Das Gerücht" - spielt nicht im Belgien von Marc Dutroux und Willy Claas, sondern dreißig Jahre früher, als Paul-Henri Spaak Außenminister ist, in Brüssel ein Kaufhaus brennt und der Söldner René Catrijsse ausgezehrt, verroht - und maulfaul wie eh und je - aus dem Söldnerkrieg im Kongo in sein westflämisches Heimatdorf zurückkehrt.
Es gibt, so läßt Claus erkennen, ein Syndrom, das Belgiens Gegenwart und Geschichte auf beängstigende Weise zusammenschweißt: das "notorische flämische Stillschweigen", von dem Hubert van Hoof, Versicherungsvertreter, Feierabendjournalist und künftiges Mordopfer, an einer Stelle spricht. Stillschweigen ist auch der auffälligste Charakterzug von René Catrijsse, der kein Wort der Erklärung für die rätselhafte Epidemie beisteuert, die er allem Anschein nach aber selbst ausgelöst hat. "Zum Stillschweigen" ist schließlich der sprechende Name der Dorfkneipe von Alegem. Hier entscheidet sich seit jeher, woraus ein Gerücht wird und worüber man nach gutem Brauch doch besser den Mantel des Schweigens breitet.
Mit der Heimkehr von René Catrijsse lösen sich die alten Schweige-Solidaritäten auf. Kleine Sünder von vorgestern sehen sich mit einem Mal an den Pranger gestellt. Allen voran Alma Catrijsse, Renés Mutter, die sich während des Krieges in Deutschland mit einem flämischen Arzt und Nationalsozialisten eingelassen hat und nun an der Mauer ihres Gemischtwarenladens frisch gesprayte Hakenkreuze findet.
Hugo Claus' Roman entwirft ein ausladendes und tiefenscharfes Panorama der Laster und Lügen, in denen sich die dörfliche Gesellschaft von Alegem eingerichtet hat. Korruption und Lebensfreude verschwistern sich darin aufs innigste. Der blaue Schaum, der unbescholtenen Bürgern neuerdings beim Ausbruch der Todeskrankheit urplötzlich vor den Mund tritt, läßt den Pfarrer sofort an ägyptische Plagen denken. Die skurrilen Todesarten von Alegem sind ein Strafgericht für flämische Sünden: vom Stillschweigen über die Völlerei bis hin zum Kolonialkrieg in Afrika, dessen Greuel in René Catrijsses Albträumen beharrlich wiederkehren. René, der Todesengel, fungiert zugleich als Sündenbock, der die Untaten seines Stammes sühnt. Renés eigenen, ebenfalls gewaltsamen Tod setzt Claus als nicht nur ironische Katharsis in Szene: "Die Erscheinungen sind verschwunden", beginnt das letzte Kapitel. "Unser Dorf ist gerettet." Das behaupten zumindest die rauhen Stimmen am Tresen, auf die in der Regel aber wenig Verlaß ist.
Vom Anfang bis zum scheinbar harmlosen Ende dominiert in Claus' Roman die menschliche Niedertracht. Der allmählichen Vergiftung des Sozialklimas in Alegem sieht man als Leser mit Interesse, ja mit Spannung zu. Denn Hugo Claus ist ein begnadeter Erzähler, der ohne avancierte Kunstmittel eine Vielzahl von Perspektiven und Stimmen zu erzeugen vermag. Seine Figuren lädt er gleichsam nacheinander vor, läßt sie ihre Sicht der Dinge entwickeln und charakterisiert sie mit wenigen Strichen: Alma Catrijsses und ihren trägen Gatten Dolf, das gegensätzliche Brüderpaar René und Noël, Charlie, Renés kriminellen Kompagnon, Julia Rombouts, Noëls Freundin, "zweiundzwanzig, Jungfrau, naturblond" und Teilzeit-Sängerin in der "südwestflämischen Gruppe Die Weinbergschnecken".
Daneben treten Briefträger, Lehrer und Polizisten auf und manchmal ein örtliches Kollektivsubjekt namens "Wir". Wir, das sind die Männer, die in der Kneipe "Zum Stillschweigen" beim Bier sitzen und warten, bis die Kirche aus ist und die Frauen aus der Messe kommen. "So redeten wir unter uns, bei Bier und Schnaps", heißt es einmal, "und was zeigt sich auf unserer Netzhaut, während wir am Tresen stehen?" Die Wahrheit wird es schon nicht sein, was sich da auf der Netzhaut zeigt, denn sie bleibt in Claus' Universum unerreichbar. Mit Reden kommt man ihr so wenig nahe wie durch Schweigen, und das wird auch dann so bleiben, wenn die "Erscheinungen" von Alegem verschwunden sind. Vielleicht ist das die trostlos erheiternde Quintessenz aus Hugo Claus' kleiner, gemeiner Comédie Humaine an Flamen.
Hugo Claus: "Das Stillschweigen". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Waltraud Hüsmert. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998. 245 S., geb., 38,- DM.
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Die Lügen und Laster des Hugo Claus · Von Christoph Bartmann
Wie soll man nur des Bösen Herr werden, das mit einem Mal im Dörfchen Alegem wahre Triumphe feiert? Hochwürden Lamantijn ist sich nicht sicher, ob er seiner Pfarrfamilie angesichts der herrschenden "Pest" noch Römer zwölf, Vers einundzwanzig empfehlen soll, der da lautet: "Laß dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute." Oder ob es im Blick auf die schlimmen Vorkommnisse nicht anzuraten sei, "dem, der das alles angerichtet hat, ein Ende zu bereiten, ein radikales, unerbittliches, notfalls auch grausames und unmenschliches Ende". Kaum hat der Pfarrer zur Menschenjagd geblasen, rutscht er auf der Kanzel aus und landet "todunglücklich auf einer Grabplatte aus Stein" - letztes Glied in einer Kette unheimlicher Krankheits- und Todesfälle, von der Alegem seit René Catrijsses unerwartetem Auftauchen heimgesucht wird.
"Das Stillschweigen", der neueste und nunmehr zwanzigste Roman von Hugo Claus, Flanderns bedeutendstem lebenden Schriftsteller, ist ein moralischer Kriminalroman, eine schwarze Provinzposse - und vor allem eine flämische Apokalypse. Dem Buch voran stehen zwei Zeilen von John Donne: "Tis all in pieces, all coherence gone / All just supply and all relation". Worte, die unverzüglich an den aktuellen Zustand des belgischen Staatswesens denken lassen. Man kann, wenn man Claus' Roman liest, die Skandale der letzten Jahre nicht ausblenden. Doch der Autor hat alles Aktuelle konsequent verfremdet.
"Das Stillschweigen" - im Original heißt der Roman "De Geruchten", "Das Gerücht" - spielt nicht im Belgien von Marc Dutroux und Willy Claas, sondern dreißig Jahre früher, als Paul-Henri Spaak Außenminister ist, in Brüssel ein Kaufhaus brennt und der Söldner René Catrijsse ausgezehrt, verroht - und maulfaul wie eh und je - aus dem Söldnerkrieg im Kongo in sein westflämisches Heimatdorf zurückkehrt.
Es gibt, so läßt Claus erkennen, ein Syndrom, das Belgiens Gegenwart und Geschichte auf beängstigende Weise zusammenschweißt: das "notorische flämische Stillschweigen", von dem Hubert van Hoof, Versicherungsvertreter, Feierabendjournalist und künftiges Mordopfer, an einer Stelle spricht. Stillschweigen ist auch der auffälligste Charakterzug von René Catrijsse, der kein Wort der Erklärung für die rätselhafte Epidemie beisteuert, die er allem Anschein nach aber selbst ausgelöst hat. "Zum Stillschweigen" ist schließlich der sprechende Name der Dorfkneipe von Alegem. Hier entscheidet sich seit jeher, woraus ein Gerücht wird und worüber man nach gutem Brauch doch besser den Mantel des Schweigens breitet.
Mit der Heimkehr von René Catrijsse lösen sich die alten Schweige-Solidaritäten auf. Kleine Sünder von vorgestern sehen sich mit einem Mal an den Pranger gestellt. Allen voran Alma Catrijsse, Renés Mutter, die sich während des Krieges in Deutschland mit einem flämischen Arzt und Nationalsozialisten eingelassen hat und nun an der Mauer ihres Gemischtwarenladens frisch gesprayte Hakenkreuze findet.
Hugo Claus' Roman entwirft ein ausladendes und tiefenscharfes Panorama der Laster und Lügen, in denen sich die dörfliche Gesellschaft von Alegem eingerichtet hat. Korruption und Lebensfreude verschwistern sich darin aufs innigste. Der blaue Schaum, der unbescholtenen Bürgern neuerdings beim Ausbruch der Todeskrankheit urplötzlich vor den Mund tritt, läßt den Pfarrer sofort an ägyptische Plagen denken. Die skurrilen Todesarten von Alegem sind ein Strafgericht für flämische Sünden: vom Stillschweigen über die Völlerei bis hin zum Kolonialkrieg in Afrika, dessen Greuel in René Catrijsses Albträumen beharrlich wiederkehren. René, der Todesengel, fungiert zugleich als Sündenbock, der die Untaten seines Stammes sühnt. Renés eigenen, ebenfalls gewaltsamen Tod setzt Claus als nicht nur ironische Katharsis in Szene: "Die Erscheinungen sind verschwunden", beginnt das letzte Kapitel. "Unser Dorf ist gerettet." Das behaupten zumindest die rauhen Stimmen am Tresen, auf die in der Regel aber wenig Verlaß ist.
Vom Anfang bis zum scheinbar harmlosen Ende dominiert in Claus' Roman die menschliche Niedertracht. Der allmählichen Vergiftung des Sozialklimas in Alegem sieht man als Leser mit Interesse, ja mit Spannung zu. Denn Hugo Claus ist ein begnadeter Erzähler, der ohne avancierte Kunstmittel eine Vielzahl von Perspektiven und Stimmen zu erzeugen vermag. Seine Figuren lädt er gleichsam nacheinander vor, läßt sie ihre Sicht der Dinge entwickeln und charakterisiert sie mit wenigen Strichen: Alma Catrijsses und ihren trägen Gatten Dolf, das gegensätzliche Brüderpaar René und Noël, Charlie, Renés kriminellen Kompagnon, Julia Rombouts, Noëls Freundin, "zweiundzwanzig, Jungfrau, naturblond" und Teilzeit-Sängerin in der "südwestflämischen Gruppe Die Weinbergschnecken".
Daneben treten Briefträger, Lehrer und Polizisten auf und manchmal ein örtliches Kollektivsubjekt namens "Wir". Wir, das sind die Männer, die in der Kneipe "Zum Stillschweigen" beim Bier sitzen und warten, bis die Kirche aus ist und die Frauen aus der Messe kommen. "So redeten wir unter uns, bei Bier und Schnaps", heißt es einmal, "und was zeigt sich auf unserer Netzhaut, während wir am Tresen stehen?" Die Wahrheit wird es schon nicht sein, was sich da auf der Netzhaut zeigt, denn sie bleibt in Claus' Universum unerreichbar. Mit Reden kommt man ihr so wenig nahe wie durch Schweigen, und das wird auch dann so bleiben, wenn die "Erscheinungen" von Alegem verschwunden sind. Vielleicht ist das die trostlos erheiternde Quintessenz aus Hugo Claus' kleiner, gemeiner Comédie Humaine an Flamen.
Hugo Claus: "Das Stillschweigen". Roman. Aus dem Niederländischen übersetzt von Waltraud Hüsmert. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998. 245 S., geb., 38,- DM.
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"Alegem ist ein Weltdorf - und die Welt Alegem -, nicht weil Claus es raunend behauptet, sondern weil er es "stillschweigend" verlauten läßt. Und seine Kneipe, man hört das, ist bereits Mitte der 60er Jahre das Internet-Café, in dem wir uns heute angewidert über Fremdgänger und Sonderermittler verlustieren. Hugo Claus hat einen entsetzlich gültigen Roman geschrieben." Hermann Wallmann (Süddeutsche Zeitung, 10.10.1998) "Dieser Roman von Hugo Claus ist ein großes literarisches Dokument, in dem der Verlust jeder Einheit und jeder einheitsstiftenden Identität mit kalter Wut ratifiziert ist - gemäß dem Wort von John Donne, das dem Buch vorangestellt ist: "Tis all in pieces, all coherence gone."" Martin Jürgens (Frankfurter Rundschau, 07.10.1998)