Zwischen 1983 und 2003 hat sich Peter Bichsel nicht oft, dafür aber dann, wenn es geschah, um so prägnanter in öffentlichen Reden mit Autoren und anderen nicht unbekannten Menschen, die es mit Büchern zu tun haben, auseinandergesetzt. Und immer sind dabei Texte entstanden, die von der Lust am Lesen erzählen, von der gefährlichen Leidenschaft, ja unheilbaren Sucht, Buchstaben, Wörtern und Sätzen verfallen zu sein. In seinen Reden über die Eröffnung einer Buchhandlung, zu einem Geburtstag des Verlegers Siegfried Unseld, über Jean Paul, Gottfried Keller und Peter von Matt zeigt Peter Bichsel, wie ernst und zugleich undogmatisch er mit Büchern umgeht und was ihm die "Solidarität der Leser" bedeutet: angesichts einer Lektüre mit jemandem zusammenzusein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2004Darauf einen Tscho-ni-wo-ka
Was sich liebt, das liest sich: Peter Bichsels Reden zur Literatur
Jean Paul hat nie eine öffentliche Rede gehalten, Peter Bichsel, sein Schweizer Bewunderer, um so öfter, so etwa 1991 als Festredner zur Eröffnung der Jean-Paul-Woche in Bayreuth. Insgesamt sind der Anlässe viele: Geburtstagsfeste, Preisverleihungen, Dichterfeiern oder die Gründung einer Buchhandlung - Großes wie Kleines aus dem literarischen Sonntag oder Alltag hat den Anstoß gegeben für die hier erstmals in Buchform versammelten Lobreden auf das "süße Gift der Buchstaben", von dem der begeisterte Leser Bichsel, wie er mehrfach bekennt, seit langer Zeit abhängig ist.
Anrührend ist zum Beispiel die Beschreibung einer späten, zweiten Alphabetisierung. Bei einem Aufenthalt in Seoul ließ sich Bichsel von seiner Dolmetscherin die Struktur der koreanischen Buchstabenschrift erläutern und wurde unversehens zum enthusiastischen Schüler, der stolz wie ein Abc-Schütze den eigenen Namen buchstabiert - "Peta Bigsele" - und, nun schon nicht mehr auf Erstkläßler-Niveau, Whisky-Reklamen entziffert: "Tscho ni wo ka". Lautes Lesen verrät, welche weltweit bekannte Marke gemeint ist.
Freilich enthalten nicht alle Reden solche Überraschungen, vielmehr entspricht es dem Wesen einer dokumentierenden Sammlung, daß sich Themen wie Aperçus zwangsläufig wiederholen. Zu Bichsels Lieblingsgedanken gehört die Beschwörung der Solidarität der Leser, die zum universalen Beziehungsstifter wird: "Wenn ich auf der Straße zwei Menschen sehe, die aufeinander zulaufen und sich umarmen, ist mein erster Gedanke immer wieder: Die haben wohl dasselbe Buch gelesen." Was wie das Bekenntnis eines lesesüchtigen und etwas schlichten Voyeurs klingen könnte, verrät bei aller forcierten Naivität doch das tiefe Vertrauen in die gemeinschaftstiftende Kraft der Literatur, von der Bichsel in immer neuen Anläufen erzählt. Vielleicht war's ja auch gar ein Buch von ihm.
Daß Literatur alle Arten von Grenzen überwinden kann, gerade auch die der Nationalstaaten, ist ein zentraler Glaubenssatz Bichsels. Die vielsprachige Schweiz dient ihm als Beweis dafür, daß die Rede von "Nationalliteraturen" ein längst überholtes Konstrukt ist. Denn - damit zitiert Bichsel eine bekannte Tatsache - die Literaturen der französischen und der deutschen Schweiz haben kaum Gemeinsamkeiten, und ein Schriftsteller der deutschsprachigen Schweiz braucht den Rückhalt deutscher Verlage, um im Heimatland Anerkennung zu finden. Möglicherweise klingt in dieser Beobachtung ein wenig das Ressentiment des Propheten nach, der sich von seinen Landsleuten unterschätzt fühlt. In seiner Geburtstagsrede auf den siebzigjährigen Siegfried Unseld kokettiert Bichsel denn auch damit, in späten Jahren selbst zum Suhrkamp-Autor geworden zu sein und den Parnaß deutscher Geistigkeit erreicht zu haben - was die Edition dieser Reden offenkundig einmal mehr beweisen soll.
Bichsel verharrt mit seinen literatursoziologischen Betrachtungen indes nicht in der Gegenwart, sondern zitiert immer wieder gern seine Lieblinge aus der Schweizer Literaturgeschichte. An erster Stelle steht dabei Gottfried Keller, der ihm zum Vorbild seiner Ablehnung des heutigen "Neoliberalismus" wird. Allerdings bleiben Bichsels polemische Ausfälle gegen "höchst angesehene und skrupellose Verwaltungsräte" in ihrer Pauschalität dann doch beträchtlich hinter den genauen Analysen gesellschaftlicher Veränderungen in Kellers letztem Roman "Martin Salander" zurück. Und Bichsels Bemerkungen zum Ende der DDR, aufgezeichnet im Jahr 1991, wirken aus dem Abstand von mehr als einem Jahrzehnt vor allem rührend pathetisch. Seine Bewunderung der "Leser und Leserinnen in der DDR" und seine nachdrückliche Verteidigung des "Rechts auf Biographie" spiegeln da eher nur die Stimmung vieler westlicher Intellektueller kurz nach dem Fall der Mauer wider.
So liegt denn auch der eigentliche Wert der vorliegenden Sammlung in ihrem dokumentarischen Charakter. Die elf Reden aus zwanzig Jahren sind jeweils ganz auf den historischen Moment und ihren spezifischen Anlaß berechnet; tiefergreifende politische Analysen darf man von ihnen ebensowenig erwarten wie literarhistorische Entdeckungen. Bei aller Zufälligkeit der Chronologie verrät die Anordnung der Texte schließlich viel über das Selbstbewußtsein ihres Autors: Am Anfang des Bandes wird Goethe zitiert, an seinem Ende Martin Luther. Irgendwo zwischen diesen beiden Vorgängern mag Peter Bichsel seinen eigenen Ort als Leser und Schriftsteller sehen. Oder doch näher bei Jean Paul, der allerdings keine öffentlichen Reden gehalten hat?
SABINE DOERING
Peter Bichsel: "Das süße Gift der Buchstaben". Reden zur Literatur. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 142 S., br., 8,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was sich liebt, das liest sich: Peter Bichsels Reden zur Literatur
Jean Paul hat nie eine öffentliche Rede gehalten, Peter Bichsel, sein Schweizer Bewunderer, um so öfter, so etwa 1991 als Festredner zur Eröffnung der Jean-Paul-Woche in Bayreuth. Insgesamt sind der Anlässe viele: Geburtstagsfeste, Preisverleihungen, Dichterfeiern oder die Gründung einer Buchhandlung - Großes wie Kleines aus dem literarischen Sonntag oder Alltag hat den Anstoß gegeben für die hier erstmals in Buchform versammelten Lobreden auf das "süße Gift der Buchstaben", von dem der begeisterte Leser Bichsel, wie er mehrfach bekennt, seit langer Zeit abhängig ist.
Anrührend ist zum Beispiel die Beschreibung einer späten, zweiten Alphabetisierung. Bei einem Aufenthalt in Seoul ließ sich Bichsel von seiner Dolmetscherin die Struktur der koreanischen Buchstabenschrift erläutern und wurde unversehens zum enthusiastischen Schüler, der stolz wie ein Abc-Schütze den eigenen Namen buchstabiert - "Peta Bigsele" - und, nun schon nicht mehr auf Erstkläßler-Niveau, Whisky-Reklamen entziffert: "Tscho ni wo ka". Lautes Lesen verrät, welche weltweit bekannte Marke gemeint ist.
Freilich enthalten nicht alle Reden solche Überraschungen, vielmehr entspricht es dem Wesen einer dokumentierenden Sammlung, daß sich Themen wie Aperçus zwangsläufig wiederholen. Zu Bichsels Lieblingsgedanken gehört die Beschwörung der Solidarität der Leser, die zum universalen Beziehungsstifter wird: "Wenn ich auf der Straße zwei Menschen sehe, die aufeinander zulaufen und sich umarmen, ist mein erster Gedanke immer wieder: Die haben wohl dasselbe Buch gelesen." Was wie das Bekenntnis eines lesesüchtigen und etwas schlichten Voyeurs klingen könnte, verrät bei aller forcierten Naivität doch das tiefe Vertrauen in die gemeinschaftstiftende Kraft der Literatur, von der Bichsel in immer neuen Anläufen erzählt. Vielleicht war's ja auch gar ein Buch von ihm.
Daß Literatur alle Arten von Grenzen überwinden kann, gerade auch die der Nationalstaaten, ist ein zentraler Glaubenssatz Bichsels. Die vielsprachige Schweiz dient ihm als Beweis dafür, daß die Rede von "Nationalliteraturen" ein längst überholtes Konstrukt ist. Denn - damit zitiert Bichsel eine bekannte Tatsache - die Literaturen der französischen und der deutschen Schweiz haben kaum Gemeinsamkeiten, und ein Schriftsteller der deutschsprachigen Schweiz braucht den Rückhalt deutscher Verlage, um im Heimatland Anerkennung zu finden. Möglicherweise klingt in dieser Beobachtung ein wenig das Ressentiment des Propheten nach, der sich von seinen Landsleuten unterschätzt fühlt. In seiner Geburtstagsrede auf den siebzigjährigen Siegfried Unseld kokettiert Bichsel denn auch damit, in späten Jahren selbst zum Suhrkamp-Autor geworden zu sein und den Parnaß deutscher Geistigkeit erreicht zu haben - was die Edition dieser Reden offenkundig einmal mehr beweisen soll.
Bichsel verharrt mit seinen literatursoziologischen Betrachtungen indes nicht in der Gegenwart, sondern zitiert immer wieder gern seine Lieblinge aus der Schweizer Literaturgeschichte. An erster Stelle steht dabei Gottfried Keller, der ihm zum Vorbild seiner Ablehnung des heutigen "Neoliberalismus" wird. Allerdings bleiben Bichsels polemische Ausfälle gegen "höchst angesehene und skrupellose Verwaltungsräte" in ihrer Pauschalität dann doch beträchtlich hinter den genauen Analysen gesellschaftlicher Veränderungen in Kellers letztem Roman "Martin Salander" zurück. Und Bichsels Bemerkungen zum Ende der DDR, aufgezeichnet im Jahr 1991, wirken aus dem Abstand von mehr als einem Jahrzehnt vor allem rührend pathetisch. Seine Bewunderung der "Leser und Leserinnen in der DDR" und seine nachdrückliche Verteidigung des "Rechts auf Biographie" spiegeln da eher nur die Stimmung vieler westlicher Intellektueller kurz nach dem Fall der Mauer wider.
So liegt denn auch der eigentliche Wert der vorliegenden Sammlung in ihrem dokumentarischen Charakter. Die elf Reden aus zwanzig Jahren sind jeweils ganz auf den historischen Moment und ihren spezifischen Anlaß berechnet; tiefergreifende politische Analysen darf man von ihnen ebensowenig erwarten wie literarhistorische Entdeckungen. Bei aller Zufälligkeit der Chronologie verrät die Anordnung der Texte schließlich viel über das Selbstbewußtsein ihres Autors: Am Anfang des Bandes wird Goethe zitiert, an seinem Ende Martin Luther. Irgendwo zwischen diesen beiden Vorgängern mag Peter Bichsel seinen eigenen Ort als Leser und Schriftsteller sehen. Oder doch näher bei Jean Paul, der allerdings keine öffentlichen Reden gehalten hat?
SABINE DOERING
Peter Bichsel: "Das süße Gift der Buchstaben". Reden zur Literatur. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 142 S., br., 8,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ist nicht doch leichte Enttäuschung bei Sabine Doering zu bemerken? Zwar beeilt sie sich zu versichern, der Wert von Peter Bichsels gesammelten Reden aus zwei Jahrzehnten liege "in ihrem dokumentarischen Charakter", aber damit weist sie zugleich auf die Grenzen dieser Redensammlung hin, die häufig auf einen historischen Moment, für einen bestimmten Anlass geschrieben wurden. Das ist dann rückschauend rührend, so Doering, wie ein Schweizer Intellektueller Anfang der neunziger Jahre über den Mauerfall dachte. Überhaupt sind die meisten Reden Lobreden, nicht auf Personen, sondern die Literatur allgemein, denn Bichsel sei ein passionierter Leser, meint Doering, der nach wie vor an die sinngebende und gemeinschaftsstiftende Kraft der Literatur glaube. Tiefgreifende politische Analysen oder literaturhistorische Entdeckungen dürfe man sich von den Bichselschen Reden nicht versprechen, gesteht Doering und weist darauf hin, dass Bichsel mit Goethe beginnt und mit Martin Luther schließt - irgendwo dazwischen positioniere sich wohl auch der Leser und Autor Peter Bichsel, vermutet Doering.
© Perlentaucher Medien GmbH
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