Im neunten Band seiner aufschlussreichen Tagebücher kommentiert Harry Graf Kessler die politischen Entwicklungen der Zeit vom Ende der Weimarer Republik bis zum Beginn des Nationalsozialismus.In diesem Band seines Tagebuches zeigt sich Kessler einmal mehr als aufmerksamer Kommentator, dessen Betrachtungen diesmal von den Krisenjahren der Weimarer Republik bis zum beginnenden Nationalsozialismus reichen. Dies dokumentieren nicht zuletzt zahlreiche von ihm in den Band eingefügte und kommentierte Zeitungsausschnitte.Im Februar 1933 nahm Kessler am Kongress »Das Freie Wort« in der Berliner Krolloper teil, der letzten großen Protestaktion für Meinungs-, Rede-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit. Während eines anschließenden Paris-Aufenthalts wurde ihm mitgeteilt, dass er sich mit einer Rückkehr nach Deutschland in Gefahr bringen würde. Kesslers Wunsch, zu einem späteren Zeitpunkt nach Deutschland zurückzukehren, ließ sich nie verwirklichen. Der Aufenthalt in Paris mündete ins Exil. VonNovember 1933 bis Mai 1935 lebte Kessler in Palma de Mallorca und arbeitete dort an seinen Memoiren. Am 30. November 1937 starb Kessler in Lyon.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.05.2004Als das Ich gegründet wurde
Weltgeschichte als Liebesgeschichte: Die Tagebücher von Samuel Pepys erzählen vom Anfang des Privaten
Vielleicht hätte Samuel Pepys an diesem Morgen nicht auf den Jahrmarkt gehen sollen. Die Peinlichkeit wäre ihm erspart geblieben. Aber da der neugierige Schiffahrtsbeamte Pepys noch nie in seinem Leben eine staunenswerte Attraktion ausgelassen hatte, mußte er also am 1. September 1668 auf den Jahrmarkt, um die berühmte Stute zu bewundern, die rechnen und Geld zählen konnte. Sie rechnete auch wirklich schön und zählte, und nach manch anderem Kunststück wurde sie aufgefordert, jenen Mann im Publikum aufzusuchen, der am liebsten den Frauen nachsteige. Kein Problem für das schlaue Pferd. "Die Stute kommt geradewegs zu mir", schreibt der entlarvte Beamte am Abend in sein Tagebuch. Einen weiteren Kommentar spart er sich. Er weiß ja selbst, wie recht die Stute hat und daß hier vor ausgelassenem Publikum der wohl größte Damenhinterhersteiger der damaligen Welt entlarvt wurde. Doch ist ihm das peinlich? Zeigt sich Scham in seinem Inneren? Keine Spur, überhaupt keine Spur.
Die geheimen Tagebücher, die Samule Pepys, der in kürzester Zeit vom kleinen Beamten zum Flottenbeauftragten des Königs aufstieg, zwischen 1660 und 1669 führte und die jetzt in einer neuen Zusammenstellung auf deutsch erscheinen, sind ein Dokument der Schamlosigkeit, der schonungslosen Selbstbetrachtung, der selbstzweifelsfreien Ich-Feier, der Lebensfeier durch die Schrift. Entstanden in einer Zeit, als "das Private" überhaupt erst entdeckt wurde, sich langsam vom "Öffentlichen" abspaltete und das Individuum sich gegen die zunehmende Macht des Staates mehr und mehr behaupten mußte: Das Ich betrat die Bühne, und Samuel Pepys war sein früher Dokumentarist. Seine Tagebücher sind eine Manifestation dieser selbstbewußten Privatheit. Einer neuen Ich-Begeisterung. Einer radikalen Subjektivität. Als sie Anfang des 19. Jahrhunderts in England entdeckt worden waren und man die wenig bekannte Stenographenschrift, in der sie geschrieben waren, entschlüsselt hatte, waren sie eine Sensation. Und das sind sie auch heute. Während um uns herum jede Privatheit mit immer grelleren Scheinwerfern ausgeleuchtet und damit abgeschafft wird, sind diese Texte aus den Gründungszeiten des Ichs und des privaten Lebens fast ein Wunder.
Das Leben enthüllen
Pepys' (sprich übrigens: Pieps!) Tagebücher sind der Anfang. Der Anfang jener tagebuchfreudigen Enthüllungswelt von heute. Was ist das, dieses Tagebuchding? Warum sind alle Kritiker und Leser so hemmungslos begeistert etwa von den gerade erschienenen Tagebüchern des Weltmannes, Dandys, Kunstsammlers, Autors und Mäzens Harry Graf Kessler vom Ende des 19. Jahrhunderts? Ist es Hoffnung auf Authentizität, die man hier zu finden glaubt? Eine gefühlte Teilnahme an einem Leben, das man für glanzvoller hält als das heutige? Die Namensliste eines einzigen Bandes der Kessler-Tagebücher umfaßt 224 Seiten. 12 000 Namen werden in den Tagebüchern genannt. Die Kessler-Tagebücher sind die "Bunte" der vorvergangenen Jahrhundertwende, und der Diarist soll Klatschreporter der Künstlerwelt von damals sein. Doch leider verweigert sich Kessler dieser Rolle meist. Deutet - vor allem die eigenen - Leidenschaften meist nur an, wägt, mit innerlich abgespreiztem kleinen Finger, immer alles kritisch ab, zweifelt, denkt unentwegt über die eigene Rolle nach, sagt Wir statt Ich, überwacht die Welt und läßt sich selbst keinen Moment unbeobachtet. Und wenn ihm sein Ich in einem schwachen Moment einmal entschlüpft, dann deutet der Diarist nur an: "Nachher noch im Pschorr; sehr wüst". Aha. Insgesamt: sehr vornehm, sehr lehrreich, aber auch enttäuschend. Da hat sich eine gigantische Fiktions- und Andeutungsmaschine als Dokumentation verkleidet. Neun Bände sollen es insgesamt werden. Keine Kessler-Zeile soll verlorengehen. Und kein Name in der endlos langen Liste.
Von Pepys' Tagebüchern gibt es auch in der neuen Ausgabe auf deutsch wieder nur Auszüge. Das Original in voller Länge kann man im Internet unter www.pepysdiary.com lesen. Doch die Auszüge sind gut gewählt. Wir wollen ja nicht gelangweilt werden. Und gelangweilt wird man in diesem herrlichen Enthüllungsbuch in keiner Zeile. Das liegt nicht nur daran, daß hier einer, der von der Publikationsmöglichkeit eines Tagebuchs nicht im entferntesten etwas ahnt, ganz unverstellt und selbstschutzlos aus seinem glücklichen Beamten- und Liebesleben berichtet, sondern auch daran, daß er von einer geschichtlichen Epoche erzählt, in der sich in London in so kurzer Zeit so viel Außerordentliches ereignet wie kaum je davor oder danach. Es ist die Zeit der Restauration. Der Königsmörder Cromwell ist tot und wird nach der Krönung von Charles II. aus seinem Grab geholt und öffentlich gevierteilt. Der Krieg gegen die Holländer tobt immer heftiger, man fürchtet täglich den Sturm der Stadt; die schwerste Pest sucht London heim und rafft in kürzester Zeit ein Sechstel der Bevölkerung dahin, nur ein Jahr später zerstört das große Feuer vier Fünftel der City.
Pepys ist überall dabei. Und Pepys schreibt alles mit. Subjektiv, ungeschönt, ungerecht. Weltgeschichte als Privatgeschichte. London brennt, und Herr Pepys vergräbt seinen Parmesankäse im Garten. Die Pest wütet, und Herr Pepys fragt sich, "wie sich das auf die Perückenmode nach der Zeit der Pest auswirken wird", da doch niemand sicher sein kann, daß für das erstandene Stück nicht das Haar eines Pestopfers verwendet wurde. Die Holländer kommen, und Herr Pepys versucht, sein Gold zu retten und seine Tagebücher. Die Frauen englischer Kriegsgefangener wollen sein Haus stürmen, da er dafür verantwortlich zu sein scheint, daß ihre Männer keinen Sold bekommen, solange sie in Gefangenschaft sind, und Herr Pepys sorgt sich darum, ob das jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt ist, seinen Diener loszuschicken, um eine Wildbretpastete zu kaufen. Während der Krönungsfeierlichkeiten werden wir über die Dringlichkeit seines Harndrangs informiert.
Vom König hält Samuel Pepys nicht viel. Denn wenn auch in diesem Tagebuch ein jedes Lebensereignis von diesem unfaßbar lebensbegeisterten Menschen in persönliches Glück gewendet wird, bei dem jedes Jahr mit einer persönlichen Glücksbilanz - Frau gesund, ich gesund, Vermögen gewachsen - abgeschlossen wird, wenn es um den König geht, fängt Pepys' Unglück an. Der Mann ist der Untergang des Königreichs, durch Verschwendungssucht, unmoralisches Leben, Trunksucht und Regierungsmüdigkeit bringt er das große Glück ins Wanken. Er regiert nicht, schweift nur aus. Und bevor er Tennis spielt, läßt er eine große Stahlwaage auf den Platz tragen, läßt sich öffentlich wiegen, spielt eine Weile und läßt dann erneut die Waage bringen. Ergebnis: viereinhalb Pfund hat er verloren. Applaus, Applaus. Ein lächerlicher Fitneßkönig im Diätdelirium. Nicht ernst zu nehmen. Als Pepys ihn frühzeitig auf den großen Brand aufmerksam macht, der sich auszubreiten droht, und Strategien entwickelt, wie dieser einzudämmen sei, erntet er nur Schulterzucken. Später begegnet er ihm wieder. Beide beobachten von der Themse aus den Untergang der brennenden Stadt. Der König hätte es verhindern können.
Das Glück festhalten
Doch ist das Königsunglück für Pepys klein im Vergleich zu all den Glücksmöglichkeiten des Lebens. Alles kann Samuel Pepys preisen. Alles kann der Grund sein für besonders gute Laune. Jeden zweiten Tag hat er einen Jubelgrund: den schönsten Hund gesehen, die beste Lammschulter gegessen, die schönste Frau berührt, das beste Fest gefeiert, den schönsten Theaterabend erlebt, den besten Wein der Welt getrunken. Pepys kann sein Glück nicht fassen, und deshalb hält er es jeden Abend im Buch fest. Ganz fest. Und man kann heute noch lesend miterleben, wie es war, im 17. Jahrhundert zum ersten Mal ein Orangenbäumchen zu sehen, zum ersten Mal ein Aquarium, zum ersten Mal Orangensaft zu trinken ("Es ist ein gutes Getränk, doch da es neu ist, weiß ich nicht, ob es mir bekommen wird") oder zum ersten Mal eine Uhr zu tragen: "Mein Gott, wie eitel und kindisch ich bin, daß ich den ganzen Nachmittag in der Kutsche die Uhr in der Hand halten und wohl hundert Mal nachsehen mußte, wie spät es war."
Doch das größte Glück sind immer: die Frauen. Obwohl in romantischer Liebesheirat glücklich mit der Hugenottin Elizabeth vereint, ist Pepys unentwegt auf Busensuche, ständig fingert er die Frauen an, nutzt jede Kutschfahrt, jeden Theaterbesuch zum Miederöffnen und umschreibt die nur selten abgewiesenen Liebesakte präzise, aber doch leicht verschämt in einem italienisch-spanisch-französischen Sprachgemisch. Doch manchmal hat auch der Glücklichste Pech: "Ausgerechnet in dem Moment, als ich con meiner Hand sub su Rock war und meine main tatsächlich in ihrer Ritze hatte, stand plötzlich meine Frau im Zimmer . . ." Da kommt selbst der tausendschlaue Samuel Pepys in Erklärungsnöte. Und schreibt es alles auf.
Warum eigentlich? Warum hat er es aufgeschrieben, haben sich viele Forscher gefragt. Kein Gedanke war, als er es schrieb, natürlich an eine Veröffentlichung. Auch Freunde hat er nie hineinsehen lassen. Schon gar nicht, selbstverständlich, seine Frau. Und auch er selbst hat scheinbar nie zurückgeblättert. Warum also? Vielleicht ja wirklich nur, um all das festzuhalten. Die Flüchtigkeit. Das Glück. Als er, nach neun Jahren das Schreiben wegen eines Augenleidens plötzlich einstellen muß, schreibt er dazu: "So beschreite ich denn diesen Weg, der mir fast vorkommt, als ginge ich in mein eigenes Grab." Leben war Schreiben für Samuel Pepys. Und uns bleibt dieses einmalige Dokument. Vom Anfang des Ich. Von der Schamlosigkeit. Vom Geheimnis. Und von seiner Offenbarung.
VOLKER WEIDERMANN
Samuel Pepys: Die geheimen Tagebücher. Hrsg. von Volker Kriegel und Roger Willemsen. Deutsch von Georg Deggerich. Mit Illustrationen von F. W. Bernstein, Robert Gernhardt, Greser & Lenz u. v. a. Eichborn Berlin. 2004. 400 Seiten. 29,90 Euro.
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Zweiter Band 1892-1897. Hrsg. von Günter Riederer und Jörg Schuster. Klett-Cotta 2004. 777 Seiten. 58 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weltgeschichte als Liebesgeschichte: Die Tagebücher von Samuel Pepys erzählen vom Anfang des Privaten
Vielleicht hätte Samuel Pepys an diesem Morgen nicht auf den Jahrmarkt gehen sollen. Die Peinlichkeit wäre ihm erspart geblieben. Aber da der neugierige Schiffahrtsbeamte Pepys noch nie in seinem Leben eine staunenswerte Attraktion ausgelassen hatte, mußte er also am 1. September 1668 auf den Jahrmarkt, um die berühmte Stute zu bewundern, die rechnen und Geld zählen konnte. Sie rechnete auch wirklich schön und zählte, und nach manch anderem Kunststück wurde sie aufgefordert, jenen Mann im Publikum aufzusuchen, der am liebsten den Frauen nachsteige. Kein Problem für das schlaue Pferd. "Die Stute kommt geradewegs zu mir", schreibt der entlarvte Beamte am Abend in sein Tagebuch. Einen weiteren Kommentar spart er sich. Er weiß ja selbst, wie recht die Stute hat und daß hier vor ausgelassenem Publikum der wohl größte Damenhinterhersteiger der damaligen Welt entlarvt wurde. Doch ist ihm das peinlich? Zeigt sich Scham in seinem Inneren? Keine Spur, überhaupt keine Spur.
Die geheimen Tagebücher, die Samule Pepys, der in kürzester Zeit vom kleinen Beamten zum Flottenbeauftragten des Königs aufstieg, zwischen 1660 und 1669 führte und die jetzt in einer neuen Zusammenstellung auf deutsch erscheinen, sind ein Dokument der Schamlosigkeit, der schonungslosen Selbstbetrachtung, der selbstzweifelsfreien Ich-Feier, der Lebensfeier durch die Schrift. Entstanden in einer Zeit, als "das Private" überhaupt erst entdeckt wurde, sich langsam vom "Öffentlichen" abspaltete und das Individuum sich gegen die zunehmende Macht des Staates mehr und mehr behaupten mußte: Das Ich betrat die Bühne, und Samuel Pepys war sein früher Dokumentarist. Seine Tagebücher sind eine Manifestation dieser selbstbewußten Privatheit. Einer neuen Ich-Begeisterung. Einer radikalen Subjektivität. Als sie Anfang des 19. Jahrhunderts in England entdeckt worden waren und man die wenig bekannte Stenographenschrift, in der sie geschrieben waren, entschlüsselt hatte, waren sie eine Sensation. Und das sind sie auch heute. Während um uns herum jede Privatheit mit immer grelleren Scheinwerfern ausgeleuchtet und damit abgeschafft wird, sind diese Texte aus den Gründungszeiten des Ichs und des privaten Lebens fast ein Wunder.
Das Leben enthüllen
Pepys' (sprich übrigens: Pieps!) Tagebücher sind der Anfang. Der Anfang jener tagebuchfreudigen Enthüllungswelt von heute. Was ist das, dieses Tagebuchding? Warum sind alle Kritiker und Leser so hemmungslos begeistert etwa von den gerade erschienenen Tagebüchern des Weltmannes, Dandys, Kunstsammlers, Autors und Mäzens Harry Graf Kessler vom Ende des 19. Jahrhunderts? Ist es Hoffnung auf Authentizität, die man hier zu finden glaubt? Eine gefühlte Teilnahme an einem Leben, das man für glanzvoller hält als das heutige? Die Namensliste eines einzigen Bandes der Kessler-Tagebücher umfaßt 224 Seiten. 12 000 Namen werden in den Tagebüchern genannt. Die Kessler-Tagebücher sind die "Bunte" der vorvergangenen Jahrhundertwende, und der Diarist soll Klatschreporter der Künstlerwelt von damals sein. Doch leider verweigert sich Kessler dieser Rolle meist. Deutet - vor allem die eigenen - Leidenschaften meist nur an, wägt, mit innerlich abgespreiztem kleinen Finger, immer alles kritisch ab, zweifelt, denkt unentwegt über die eigene Rolle nach, sagt Wir statt Ich, überwacht die Welt und läßt sich selbst keinen Moment unbeobachtet. Und wenn ihm sein Ich in einem schwachen Moment einmal entschlüpft, dann deutet der Diarist nur an: "Nachher noch im Pschorr; sehr wüst". Aha. Insgesamt: sehr vornehm, sehr lehrreich, aber auch enttäuschend. Da hat sich eine gigantische Fiktions- und Andeutungsmaschine als Dokumentation verkleidet. Neun Bände sollen es insgesamt werden. Keine Kessler-Zeile soll verlorengehen. Und kein Name in der endlos langen Liste.
Von Pepys' Tagebüchern gibt es auch in der neuen Ausgabe auf deutsch wieder nur Auszüge. Das Original in voller Länge kann man im Internet unter www.pepysdiary.com lesen. Doch die Auszüge sind gut gewählt. Wir wollen ja nicht gelangweilt werden. Und gelangweilt wird man in diesem herrlichen Enthüllungsbuch in keiner Zeile. Das liegt nicht nur daran, daß hier einer, der von der Publikationsmöglichkeit eines Tagebuchs nicht im entferntesten etwas ahnt, ganz unverstellt und selbstschutzlos aus seinem glücklichen Beamten- und Liebesleben berichtet, sondern auch daran, daß er von einer geschichtlichen Epoche erzählt, in der sich in London in so kurzer Zeit so viel Außerordentliches ereignet wie kaum je davor oder danach. Es ist die Zeit der Restauration. Der Königsmörder Cromwell ist tot und wird nach der Krönung von Charles II. aus seinem Grab geholt und öffentlich gevierteilt. Der Krieg gegen die Holländer tobt immer heftiger, man fürchtet täglich den Sturm der Stadt; die schwerste Pest sucht London heim und rafft in kürzester Zeit ein Sechstel der Bevölkerung dahin, nur ein Jahr später zerstört das große Feuer vier Fünftel der City.
Pepys ist überall dabei. Und Pepys schreibt alles mit. Subjektiv, ungeschönt, ungerecht. Weltgeschichte als Privatgeschichte. London brennt, und Herr Pepys vergräbt seinen Parmesankäse im Garten. Die Pest wütet, und Herr Pepys fragt sich, "wie sich das auf die Perückenmode nach der Zeit der Pest auswirken wird", da doch niemand sicher sein kann, daß für das erstandene Stück nicht das Haar eines Pestopfers verwendet wurde. Die Holländer kommen, und Herr Pepys versucht, sein Gold zu retten und seine Tagebücher. Die Frauen englischer Kriegsgefangener wollen sein Haus stürmen, da er dafür verantwortlich zu sein scheint, daß ihre Männer keinen Sold bekommen, solange sie in Gefangenschaft sind, und Herr Pepys sorgt sich darum, ob das jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt ist, seinen Diener loszuschicken, um eine Wildbretpastete zu kaufen. Während der Krönungsfeierlichkeiten werden wir über die Dringlichkeit seines Harndrangs informiert.
Vom König hält Samuel Pepys nicht viel. Denn wenn auch in diesem Tagebuch ein jedes Lebensereignis von diesem unfaßbar lebensbegeisterten Menschen in persönliches Glück gewendet wird, bei dem jedes Jahr mit einer persönlichen Glücksbilanz - Frau gesund, ich gesund, Vermögen gewachsen - abgeschlossen wird, wenn es um den König geht, fängt Pepys' Unglück an. Der Mann ist der Untergang des Königreichs, durch Verschwendungssucht, unmoralisches Leben, Trunksucht und Regierungsmüdigkeit bringt er das große Glück ins Wanken. Er regiert nicht, schweift nur aus. Und bevor er Tennis spielt, läßt er eine große Stahlwaage auf den Platz tragen, läßt sich öffentlich wiegen, spielt eine Weile und läßt dann erneut die Waage bringen. Ergebnis: viereinhalb Pfund hat er verloren. Applaus, Applaus. Ein lächerlicher Fitneßkönig im Diätdelirium. Nicht ernst zu nehmen. Als Pepys ihn frühzeitig auf den großen Brand aufmerksam macht, der sich auszubreiten droht, und Strategien entwickelt, wie dieser einzudämmen sei, erntet er nur Schulterzucken. Später begegnet er ihm wieder. Beide beobachten von der Themse aus den Untergang der brennenden Stadt. Der König hätte es verhindern können.
Das Glück festhalten
Doch ist das Königsunglück für Pepys klein im Vergleich zu all den Glücksmöglichkeiten des Lebens. Alles kann Samuel Pepys preisen. Alles kann der Grund sein für besonders gute Laune. Jeden zweiten Tag hat er einen Jubelgrund: den schönsten Hund gesehen, die beste Lammschulter gegessen, die schönste Frau berührt, das beste Fest gefeiert, den schönsten Theaterabend erlebt, den besten Wein der Welt getrunken. Pepys kann sein Glück nicht fassen, und deshalb hält er es jeden Abend im Buch fest. Ganz fest. Und man kann heute noch lesend miterleben, wie es war, im 17. Jahrhundert zum ersten Mal ein Orangenbäumchen zu sehen, zum ersten Mal ein Aquarium, zum ersten Mal Orangensaft zu trinken ("Es ist ein gutes Getränk, doch da es neu ist, weiß ich nicht, ob es mir bekommen wird") oder zum ersten Mal eine Uhr zu tragen: "Mein Gott, wie eitel und kindisch ich bin, daß ich den ganzen Nachmittag in der Kutsche die Uhr in der Hand halten und wohl hundert Mal nachsehen mußte, wie spät es war."
Doch das größte Glück sind immer: die Frauen. Obwohl in romantischer Liebesheirat glücklich mit der Hugenottin Elizabeth vereint, ist Pepys unentwegt auf Busensuche, ständig fingert er die Frauen an, nutzt jede Kutschfahrt, jeden Theaterbesuch zum Miederöffnen und umschreibt die nur selten abgewiesenen Liebesakte präzise, aber doch leicht verschämt in einem italienisch-spanisch-französischen Sprachgemisch. Doch manchmal hat auch der Glücklichste Pech: "Ausgerechnet in dem Moment, als ich con meiner Hand sub su Rock war und meine main tatsächlich in ihrer Ritze hatte, stand plötzlich meine Frau im Zimmer . . ." Da kommt selbst der tausendschlaue Samuel Pepys in Erklärungsnöte. Und schreibt es alles auf.
Warum eigentlich? Warum hat er es aufgeschrieben, haben sich viele Forscher gefragt. Kein Gedanke war, als er es schrieb, natürlich an eine Veröffentlichung. Auch Freunde hat er nie hineinsehen lassen. Schon gar nicht, selbstverständlich, seine Frau. Und auch er selbst hat scheinbar nie zurückgeblättert. Warum also? Vielleicht ja wirklich nur, um all das festzuhalten. Die Flüchtigkeit. Das Glück. Als er, nach neun Jahren das Schreiben wegen eines Augenleidens plötzlich einstellen muß, schreibt er dazu: "So beschreite ich denn diesen Weg, der mir fast vorkommt, als ginge ich in mein eigenes Grab." Leben war Schreiben für Samuel Pepys. Und uns bleibt dieses einmalige Dokument. Vom Anfang des Ich. Von der Schamlosigkeit. Vom Geheimnis. Und von seiner Offenbarung.
VOLKER WEIDERMANN
Samuel Pepys: Die geheimen Tagebücher. Hrsg. von Volker Kriegel und Roger Willemsen. Deutsch von Georg Deggerich. Mit Illustrationen von F. W. Bernstein, Robert Gernhardt, Greser & Lenz u. v. a. Eichborn Berlin. 2004. 400 Seiten. 29,90 Euro.
Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Zweiter Band 1892-1897. Hrsg. von Günter Riederer und Jörg Schuster. Klett-Cotta 2004. 777 Seiten. 58 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Manfred Koch erklärt das Großprojekt der Publikation von Harry Graf Kesslers Tagebüchern mit dem vorliegenden neunten Band für fast abgeschlossen, weist allerdings auf den noch fehlenden ersten Band hin. Kessler war ein überaus einflussreicher und umtriebiger Schriftsteller, Politiker, Kunstsammler und Mäzen, der aber vor allem durch seine 57 Jahre währende, akribische Tagebuchführung als aufmerksamer Chronist der Weimarer Republik und darüber hinaus gilt, erfahren wir. Während auch der neunte Band wenig über das Innenleben des Autors preisgibt, ergibt sich mit der Lektüre ein eindrucksvolles Epochenbild, das sich mit der Nazizeit auch unter der Feder Kesslers spürbar verdüsterte, lässt Koch wissen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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