Carol Shields, die für diesen Roman den Pulitzerpreis erhielt, erzählt ein Frauenleben. An einem allzu heißen Nachmittag des Jahres 1905 kommt Daisy Goodwill in einer Sturzgeburt auf die Welt. Die Mutter stirbt, und ihr bleibt nur der lebenslang traurige, verträumte Vater. Erst nach einer schwierigen Jugend und einer unglücklichen Ehe findet Daisy die große Liebe und Erfüllung im Schreiben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1995Ratschläge für die Blumenzucht
Carol Shields knetet den Stoff, aus dem der Frauenroman ist
Familienalben sind selten vollständig. Die Chronologie reißt mehrmals ab, weist erhebliche Lücken auf. Scheinbar zufällige Augenblicke sind zuweilen in vielfachen Versionen intensiv festgehalten, andere von Bedeutung fehlen ganz. Manchmal scheinen die Fotos willkürlich aneinandergereiht. Und doch gibt das Ganze beim Hinundherblättern einen Sinn, verbinden sich die einzelnen Bilder zu einem Panorama, aus dem die Hauptpersonen deutlich hervortreten.
"Das Tagebuch der Daisy Goodwill" ist nach dem Prinzip des Fotoalbums geschrieben. Scheinbar sorglos setzt es sich über alle Regeln des gleichmäßigen Erzählflusses hinweg. Gegenwart und Vergangenheit überschneiden sich, die Erzähler wechseln, und oft wird im Zeitraffertempo nachgeholt, was die verschiedenen Figuren inzwischen erlebt haben. Briefe, Gesprächsfetzen, Kochrezepte oder Ratschläge für die Blumenzucht sind eingestreut in die Geschichte einer Frau, die dramatisch beginnt, aber in die beruhigende Gewißheit mündet, daß die Wechselfälle des Lebens zu bewältigen sind, unverhoffte Hilfe sich oft dann einstellt, wenn sie am nötigsten gebraucht wird, und die Frage nach dem großen Glück sich gar nicht erst stellt, weil sie möglicherweise zweitrangig ist.
Stoff, aus dem Frauenromane gemacht sind - wer wollte es leugnen, nicht mal die Autorin Carol Shields, die für "Das Tagebuch der Daisy Goodwill" den Pulitzerpreis erhielt. Siebzig Prozent der Leser seien weiblich, hat sie einmal gesagt. Aber Männer seien dabei, sich zu ändern, möglicherweise auch ihre Lesegewohnheiten. Vielleicht würden sie bei der Lektüre der "Daisy Goodwill" mehr Verständnis für die Psyche von Frauen gewinnen.
Carol Shields macht sich keine Illusionen. Bei ihr leben Frauen und Männer mehr oder weniger freundlich nebeneinander her. Sie hüten ihre Geheimnisse. Es gibt keine Kämpfe. Trennungen und Scheidungen werden bedauernd erwähnt, aber nicht näher beschrieben. Daisys Schulfreundin zählt ihre dreiundfünfzig oder vierundfünfzig Liebhaber zusammen, doch davon läßt Daisy, Jahrgang 1905, sich keinesfalls beirren; sie ist treu und verläßlich. Das Wort Emanzipation hat sie erst im Alter gehört. Es betrifft sie nicht. Sie hat sich nie abhängig gefühlt, und ihre Ziele, wenn sie überhaupt jemals etwas außerhalb von Haus und Familie angestrebt haben sollte, waren bescheiden: Eine Kolumne für Pflanzenliebhaber in der Lokalzeitung bestätigt und befriedigt sie. Diese Frau, immerhin mit Collegeabschluß, macht von ihrem Intellekt selten Gebrauch, sie verläßt sich auf ihre Gefühle. Ihre häuslichen Aufgaben erfüllt sie geschickt und gern; sie sorgt für Mann und Kinder wie für weitere Verwandte, Freunde und ihren geliebten Garten, ist aber, wenn erforderlich, zu überraschenden Entschlüssen fähig.
Ein Schatten von Melancholie verdunkelt zuweilen ihre sonst so ausgeglichene Seelenlage. Bei Daisys Geburt starb die Mutter; der Vater, ein Arbeiter im Steinbruch und begabter Steinmetz, übergab das Kind einer Nachbarin und beschränkte sich in seiner Fürsorge auf Geldüberweisungen. Daisy hat es trotzdem nicht schlecht getroffen. Ihre Pflegemutter ist liebevoll, und deren Sohn Barker, Biologe und Pflanzenzüchter, wird später ihr ältlicher Ehemann.
Die ersten fünfzig, Daisys Eltern gewidmeten Seiten sind eine geradezu hymnische Huldigung für die sanfte, dicke, sinnliche Mutter und ihre naive Fähigkeit, zu genießen. Die Tochter, um Identifikation bemüht, malt sich die Ehe ihrer Eltern aus. Der seltsam schüchterne, zarte Vater liebt seine füllige Frau abgöttisch, doch er findet erst nach ihrem Tod einen Ausdruck dafür, indem er ihr eigenhändig ein Denkmal aus kunstvoll bearbeiteten Kalksteinen setzt. Kalksteine, die später seinen Erfolg als Geschäftsmann begründen.
Carol Shields erzählt von den alltäglichen Dingen mit großer Intensität. Mühelos gelingt es ihr, von der Geburt bis zum Tod Daisys genug Spannung zu schaffen, so daß der Leser auch die Nebenstränge der Lebensgeschichte und die vielen, zuweilen irritierenden Episoden weiter verfolgt. Gerade dieses Beiwerk einer durchschnittlichen Biographie arbeitet Carol Shields mit merkbarer Lust und Genauigkeit aus.
Hier hat sie Gelegenheit, Humor, Ironie, manchmal auch Hintersinn oder Sarkasmus zu zeigen. Carol Shields ist in Amerika geboren und lebt seit Jahrzehnten in Kanada. Sie lehrt an der Manitoba-Universität in Winnipeg englische Literatur, hat fünf Kinder und ist mit einem Naturwissenschaftler verheiratet. In Kanada, ihrer Wahlheimat, wird sie mit Margaret Atwood verglichen. Aber die beiden haben außer der Fähigkeit, in einer sinnlichen, reichen Sprache zu schreiben, wenig gemein. Die Heldinnen der Atwood sind Exzentrikerinnen, die ihre Neigungen ausleben, während Carol Shields' Frauengestalten niemals den Boden unter den Füßen verlieren. Bei aller Zurückhaltung und unausgesprochenen Sehnsucht bewahren sie eine besondere Würde, das Geheimnis eines gelungenen Lebens. MARIA FRISÉ
Carol Shields: "Das Tagebuch der Daisy Goodwill". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Margarete Längsfeld. Piper Verlag, München 1995. 380 Seiten, 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Carol Shields knetet den Stoff, aus dem der Frauenroman ist
Familienalben sind selten vollständig. Die Chronologie reißt mehrmals ab, weist erhebliche Lücken auf. Scheinbar zufällige Augenblicke sind zuweilen in vielfachen Versionen intensiv festgehalten, andere von Bedeutung fehlen ganz. Manchmal scheinen die Fotos willkürlich aneinandergereiht. Und doch gibt das Ganze beim Hinundherblättern einen Sinn, verbinden sich die einzelnen Bilder zu einem Panorama, aus dem die Hauptpersonen deutlich hervortreten.
"Das Tagebuch der Daisy Goodwill" ist nach dem Prinzip des Fotoalbums geschrieben. Scheinbar sorglos setzt es sich über alle Regeln des gleichmäßigen Erzählflusses hinweg. Gegenwart und Vergangenheit überschneiden sich, die Erzähler wechseln, und oft wird im Zeitraffertempo nachgeholt, was die verschiedenen Figuren inzwischen erlebt haben. Briefe, Gesprächsfetzen, Kochrezepte oder Ratschläge für die Blumenzucht sind eingestreut in die Geschichte einer Frau, die dramatisch beginnt, aber in die beruhigende Gewißheit mündet, daß die Wechselfälle des Lebens zu bewältigen sind, unverhoffte Hilfe sich oft dann einstellt, wenn sie am nötigsten gebraucht wird, und die Frage nach dem großen Glück sich gar nicht erst stellt, weil sie möglicherweise zweitrangig ist.
Stoff, aus dem Frauenromane gemacht sind - wer wollte es leugnen, nicht mal die Autorin Carol Shields, die für "Das Tagebuch der Daisy Goodwill" den Pulitzerpreis erhielt. Siebzig Prozent der Leser seien weiblich, hat sie einmal gesagt. Aber Männer seien dabei, sich zu ändern, möglicherweise auch ihre Lesegewohnheiten. Vielleicht würden sie bei der Lektüre der "Daisy Goodwill" mehr Verständnis für die Psyche von Frauen gewinnen.
Carol Shields macht sich keine Illusionen. Bei ihr leben Frauen und Männer mehr oder weniger freundlich nebeneinander her. Sie hüten ihre Geheimnisse. Es gibt keine Kämpfe. Trennungen und Scheidungen werden bedauernd erwähnt, aber nicht näher beschrieben. Daisys Schulfreundin zählt ihre dreiundfünfzig oder vierundfünfzig Liebhaber zusammen, doch davon läßt Daisy, Jahrgang 1905, sich keinesfalls beirren; sie ist treu und verläßlich. Das Wort Emanzipation hat sie erst im Alter gehört. Es betrifft sie nicht. Sie hat sich nie abhängig gefühlt, und ihre Ziele, wenn sie überhaupt jemals etwas außerhalb von Haus und Familie angestrebt haben sollte, waren bescheiden: Eine Kolumne für Pflanzenliebhaber in der Lokalzeitung bestätigt und befriedigt sie. Diese Frau, immerhin mit Collegeabschluß, macht von ihrem Intellekt selten Gebrauch, sie verläßt sich auf ihre Gefühle. Ihre häuslichen Aufgaben erfüllt sie geschickt und gern; sie sorgt für Mann und Kinder wie für weitere Verwandte, Freunde und ihren geliebten Garten, ist aber, wenn erforderlich, zu überraschenden Entschlüssen fähig.
Ein Schatten von Melancholie verdunkelt zuweilen ihre sonst so ausgeglichene Seelenlage. Bei Daisys Geburt starb die Mutter; der Vater, ein Arbeiter im Steinbruch und begabter Steinmetz, übergab das Kind einer Nachbarin und beschränkte sich in seiner Fürsorge auf Geldüberweisungen. Daisy hat es trotzdem nicht schlecht getroffen. Ihre Pflegemutter ist liebevoll, und deren Sohn Barker, Biologe und Pflanzenzüchter, wird später ihr ältlicher Ehemann.
Die ersten fünfzig, Daisys Eltern gewidmeten Seiten sind eine geradezu hymnische Huldigung für die sanfte, dicke, sinnliche Mutter und ihre naive Fähigkeit, zu genießen. Die Tochter, um Identifikation bemüht, malt sich die Ehe ihrer Eltern aus. Der seltsam schüchterne, zarte Vater liebt seine füllige Frau abgöttisch, doch er findet erst nach ihrem Tod einen Ausdruck dafür, indem er ihr eigenhändig ein Denkmal aus kunstvoll bearbeiteten Kalksteinen setzt. Kalksteine, die später seinen Erfolg als Geschäftsmann begründen.
Carol Shields erzählt von den alltäglichen Dingen mit großer Intensität. Mühelos gelingt es ihr, von der Geburt bis zum Tod Daisys genug Spannung zu schaffen, so daß der Leser auch die Nebenstränge der Lebensgeschichte und die vielen, zuweilen irritierenden Episoden weiter verfolgt. Gerade dieses Beiwerk einer durchschnittlichen Biographie arbeitet Carol Shields mit merkbarer Lust und Genauigkeit aus.
Hier hat sie Gelegenheit, Humor, Ironie, manchmal auch Hintersinn oder Sarkasmus zu zeigen. Carol Shields ist in Amerika geboren und lebt seit Jahrzehnten in Kanada. Sie lehrt an der Manitoba-Universität in Winnipeg englische Literatur, hat fünf Kinder und ist mit einem Naturwissenschaftler verheiratet. In Kanada, ihrer Wahlheimat, wird sie mit Margaret Atwood verglichen. Aber die beiden haben außer der Fähigkeit, in einer sinnlichen, reichen Sprache zu schreiben, wenig gemein. Die Heldinnen der Atwood sind Exzentrikerinnen, die ihre Neigungen ausleben, während Carol Shields' Frauengestalten niemals den Boden unter den Füßen verlieren. Bei aller Zurückhaltung und unausgesprochenen Sehnsucht bewahren sie eine besondere Würde, das Geheimnis eines gelungenen Lebens. MARIA FRISÉ
Carol Shields: "Das Tagebuch der Daisy Goodwill". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Margarete Längsfeld. Piper Verlag, München 1995. 380 Seiten, 39,80 DM.
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»In ihrem Roman beschreibt Carol Shields auf einfühlsame Weise und mit enormem Sprachvermögen die Geschichte einer einfachen Frau, für die das Leben alles andere als eine Romanze ist.« (Berliner Morgenpost)