Es war einmal: eine alte Geschichte, nämlich das Grimm'sche Märchen vom tapferen Schneiderlein, das sich nach der wackeren Abmurksung von nicht weniger als sieben Fliegen auf einmal in die weite Welt begibt. Aber halt: Wir sind keine kleinen Kinder mehr, was will man uns da Märchen erzählen! Dass das gar nicht so leicht ist, beweist Éric Chevillards jüngster Streich. In seiner eigentlich unmöglichen Neu- oder Draufloserzählung eines alten Märchens wimmelt es wie gehabt von Königstöchtern, Riesen, Königen, Feen, Drachen - und von Abschweifungen, die sich wie die sieben herumschwirrenden Fliegen dem Autor wie dem Leser immer wieder frech aufs Marmeladenbrot setzen. Und genau da beginnt der Spaß. Ein Lesevergnügen auf der Höhe unserer Zeit, in dem sich Perlen finden wie hundert unabdingbare Vorschläge für neue Heldentaten, etwa: »das Wasser ausschütten (alles Wasser)«.
Das nur scheinbar allzu bekannte Märchen von Grimm & Grimm als völlig verdrehtes Remake für Erwachsene: zum Kaputtlachen.
Kongenial übersetzt von Anne Weber.
Das nur scheinbar allzu bekannte Märchen von Grimm & Grimm als völlig verdrehtes Remake für Erwachsene: zum Kaputtlachen.
Kongenial übersetzt von Anne Weber.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2015Wilhelm, was machst du da?
Éric Chevillards Remake vom "Tapferen Schneiderlein"
"Das tapfere Schneiderlein" gehört zum Kernbestand der Grimmschen Märchen, es war schon in der ersten Sammlung der Brüder von 1812 zu finden. Angeblich aufgezeichnet nach den Erzählungen zweier alter hessischer Damen, war die Geschichte auch in anderen Sprachen verbreitet; die Grimms selbst zitierten 1856 eine niederländische Fassung. Da hatten sie selbst auch schon etliche Veränderungen an ihrem ursprünglichen Text vorgenommen, etwa aus dem Apfel, der die Fliegen anlockte, ein Musbrot gemacht. Und so durfte sich der französische Autor Éric Chevillard vor zwölf Jahren berechtigt fühlen, seinerseits "Das tapfere Schneiderlein" umzuformen: zu einem - ja, was ist es? Ein Roman? Eine Parodie? Ein Palimpsest? All das, und der deutsche Verlag wählt dafür den in der Literaturtheorie noch nicht eingeführten Gattungsbegriff "Remake".
Die Schriftstellerin Anne Weber, die ihre eigenen Bücher abwechselnd auf Deutsch und Französisch schreibt, hat den Band übersetzt. Das ist mit Blick auf ein Land, in dem diese Geschichte zum kollektiven Gedächtnis gehört, nicht ganz einfach, aber gelöst hat sie es wunderbar. Wobei Weber zupasskommt, dass sich schon Chevillard einen Spaß aus der Sache gemacht hat. Bevor es losgeht, erzählt er erst mal das Grimmsche Märchen "Hans mein Igel" neu, später gibt's als Exkurs noch den Perraultschen "Däumling" als in Frankreich besonders populäres Märchen in aktualisierter Version (wobei auch da die Grimms mit ihrem "Daumesdick" Anteil dran haben). Mit einem Wort: postmodern - so erzählt Chevillard.
Und äußerst witzig, denn was er da dem "Tapferen Schneiderlein" angedeihen lässt, ist wohlreflektiert, bis hin zur Legitimation seines Humors durch die Bemerkung, dass die Gravitas der Grimms, wie sie auch das berühmte Doppelporträt der Brüder von Elisabeth Jerichau-Baumann (F.A.Z. vom 2. Juni), dessen Standort Chevillard 2003 offenbar besser kannte als die Berliner Nationalgalerie selbst, ausdrückt, reine Pose gewesen sei: "Eure Gesichter haben einen gewissen Ernst, doch diese strenge Maske ist nicht eure wirkliche Physiognomie, davon bin ich überzeugt, es ist eine Pose für den Maler - im Übrigen hat Jacob, ganz mit dieser Grimasse beschäftigt, vergessen, seinen Clownshut abzunehmen, und Wilhelm trägt unter dem Tisch immer seine riesigen violetten Schuhe mit den hupenförmigen Absätzen (ich habe sie gesehen, als ich meinen Radiergummi aufhob)."
Derart aberwitzig geht es zu im "Tapferen Schneiderlein" Chevillardscher Provenienz. Ob man's so mag, ist Geschmackssache. Es gibt viel zu lachen, wenn man Nonsens liebt, und viel zu denken, wenn man die Vorlage (und nicht nur sie) kennt. Aber daraus rundet sich keine neue und erst recht nicht die alte Geschichte. Was Chevillard hier vorführt, ist ein Schreibexperiment, ein wenig in der Tradition des Oulipo. Bedingung: Halte dich streng an die Konstellation des Ausgangsmärchens. Herausforderung: Erzähl es trotzdem völlig anders. Das ist reizvoll, aber es setzt mündige Leser voraus. Die sich daran freuen, wenn die bei den Grimms erwähnten herausgerissenen Bäume, die zwei Riesen zum gegenseitigen Abschlachten dienen, für Chevillard dann zu Rohstofflieferanten des Stoffs werden, aus dem die Bücher sind: "Es ist natürlich bewundernswert und ungewöhnlich, dass das Papier eines Buches dem Autor von seinem Helden geliefert wird, es gibt da, scheint mir, einen Fortschritt."
Den gibt es in der zeitgenössischen Literatur fürwahr, aber woanders, formal nämlich. Im "Tapferen Schneiderlein" steckt jedoch auch genug von dem, was dem Autor von den Grimms vorgeschrieben wurde, so dass das Buch der Gefahr, als reine art pour l'art gelesen zu werden, entgeht.
ANDREAS PLATTHAUS
Éric Chevillard: "Das tapfere Schneiderlein".
Aus dem Französischen von Anne Weber. Diaphanes Verlag, Zürich 2015. 256 S., br., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Éric Chevillards Remake vom "Tapferen Schneiderlein"
"Das tapfere Schneiderlein" gehört zum Kernbestand der Grimmschen Märchen, es war schon in der ersten Sammlung der Brüder von 1812 zu finden. Angeblich aufgezeichnet nach den Erzählungen zweier alter hessischer Damen, war die Geschichte auch in anderen Sprachen verbreitet; die Grimms selbst zitierten 1856 eine niederländische Fassung. Da hatten sie selbst auch schon etliche Veränderungen an ihrem ursprünglichen Text vorgenommen, etwa aus dem Apfel, der die Fliegen anlockte, ein Musbrot gemacht. Und so durfte sich der französische Autor Éric Chevillard vor zwölf Jahren berechtigt fühlen, seinerseits "Das tapfere Schneiderlein" umzuformen: zu einem - ja, was ist es? Ein Roman? Eine Parodie? Ein Palimpsest? All das, und der deutsche Verlag wählt dafür den in der Literaturtheorie noch nicht eingeführten Gattungsbegriff "Remake".
Die Schriftstellerin Anne Weber, die ihre eigenen Bücher abwechselnd auf Deutsch und Französisch schreibt, hat den Band übersetzt. Das ist mit Blick auf ein Land, in dem diese Geschichte zum kollektiven Gedächtnis gehört, nicht ganz einfach, aber gelöst hat sie es wunderbar. Wobei Weber zupasskommt, dass sich schon Chevillard einen Spaß aus der Sache gemacht hat. Bevor es losgeht, erzählt er erst mal das Grimmsche Märchen "Hans mein Igel" neu, später gibt's als Exkurs noch den Perraultschen "Däumling" als in Frankreich besonders populäres Märchen in aktualisierter Version (wobei auch da die Grimms mit ihrem "Daumesdick" Anteil dran haben). Mit einem Wort: postmodern - so erzählt Chevillard.
Und äußerst witzig, denn was er da dem "Tapferen Schneiderlein" angedeihen lässt, ist wohlreflektiert, bis hin zur Legitimation seines Humors durch die Bemerkung, dass die Gravitas der Grimms, wie sie auch das berühmte Doppelporträt der Brüder von Elisabeth Jerichau-Baumann (F.A.Z. vom 2. Juni), dessen Standort Chevillard 2003 offenbar besser kannte als die Berliner Nationalgalerie selbst, ausdrückt, reine Pose gewesen sei: "Eure Gesichter haben einen gewissen Ernst, doch diese strenge Maske ist nicht eure wirkliche Physiognomie, davon bin ich überzeugt, es ist eine Pose für den Maler - im Übrigen hat Jacob, ganz mit dieser Grimasse beschäftigt, vergessen, seinen Clownshut abzunehmen, und Wilhelm trägt unter dem Tisch immer seine riesigen violetten Schuhe mit den hupenförmigen Absätzen (ich habe sie gesehen, als ich meinen Radiergummi aufhob)."
Derart aberwitzig geht es zu im "Tapferen Schneiderlein" Chevillardscher Provenienz. Ob man's so mag, ist Geschmackssache. Es gibt viel zu lachen, wenn man Nonsens liebt, und viel zu denken, wenn man die Vorlage (und nicht nur sie) kennt. Aber daraus rundet sich keine neue und erst recht nicht die alte Geschichte. Was Chevillard hier vorführt, ist ein Schreibexperiment, ein wenig in der Tradition des Oulipo. Bedingung: Halte dich streng an die Konstellation des Ausgangsmärchens. Herausforderung: Erzähl es trotzdem völlig anders. Das ist reizvoll, aber es setzt mündige Leser voraus. Die sich daran freuen, wenn die bei den Grimms erwähnten herausgerissenen Bäume, die zwei Riesen zum gegenseitigen Abschlachten dienen, für Chevillard dann zu Rohstofflieferanten des Stoffs werden, aus dem die Bücher sind: "Es ist natürlich bewundernswert und ungewöhnlich, dass das Papier eines Buches dem Autor von seinem Helden geliefert wird, es gibt da, scheint mir, einen Fortschritt."
Den gibt es in der zeitgenössischen Literatur fürwahr, aber woanders, formal nämlich. Im "Tapferen Schneiderlein" steckt jedoch auch genug von dem, was dem Autor von den Grimms vorgeschrieben wurde, so dass das Buch der Gefahr, als reine art pour l'art gelesen zu werden, entgeht.
ANDREAS PLATTHAUS
Éric Chevillard: "Das tapfere Schneiderlein".
Aus dem Französischen von Anne Weber. Diaphanes Verlag, Zürich 2015. 256 S., br., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Jürgen Ritte amüsiert sich königlich mit Eric Chevillards launiger Verlängerung des Grimmschen Märchens. Chevillards kleine Retuschen, vor allem aber seine ausufernde und abschweifende Entschleunigung und Dehnung des knappen Originals mittels Exkursen über Angst, Mut, Folter, Kirschbäume, Riesen und Marmelade haben es dem Rezensenten angetan. Barock, verschwurbelt, clownesk, meint Ritte, wie von Monty Python und Laurence Sterne erdacht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Postmodern, so erzählt Chevillard - und äußerst witzig ... Es gibt viel zu lachen, wenn man Nonsens mag, und viel zu denken, wenn man die Vorlage (und nicht nur sie) kennt.« Andreas Platthaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung