„Das Testament Donadieu“ ist ein recht dickleibiger Roman - zumindest für Georges Simenon, dessen Romane meist nur knapp den halben Seitenumfang besitzen. Der Leser wird auf den reichlich 500 Seiten in die Hafenstadt La Rochelle entführt, ein ruhiges Städtchen mit schmucken Häuserfassaden.
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lebt die altehrwürdige Familie Donadieu, die zu den großen Reeder-Familien des Ortes gehört.…mehr„Das Testament Donadieu“ ist ein recht dickleibiger Roman - zumindest für Georges Simenon, dessen Romane meist nur knapp den halben Seitenumfang besitzen. Der Leser wird auf den reichlich 500 Seiten in die Hafenstadt La Rochelle entführt, ein ruhiges Städtchen mit schmucken Häuserfassaden.
Hier lebt die altehrwürdige Familie Donadieu, die zu den großen Reeder-Familien des Ortes gehört. Oberhaupt der Familie oder besser des Clans ist Oscar Donadieu sen. - ein Vorbild und eine Stütze der Gesellschaft. In dem stattlichen Haus in der Rue Réaumur, das einer Festung gleicht, wohnt er mit seiner Frau und seinen beiden jüngsten Kindern Martine und Oscar jun., dazu noch der älteste Sohn Michel und sein Schwiegersohn Jean mit ihren Familien. Alle Familienmitglieder stellen ihr Denken und Handeln in den Dienst der Firma.
Eines Abends kehrt jedoch Oscar Donadieu von einem Klubbesuch nicht nach Hause zurück, vielmehr findet man seine Leiche einige Tage später im Hafenbecken. Unfall, Selbstmord oder gar Mord? Das wird nie geklärt. Als dann das Testament eröffnet wird, folgt die nächste Überraschung, denn Oscar Donadieu sen. hat seine Ehefrau quasi mit einer bescheidenen Rente enterbt. Das Riesenvermögen dagegen geht zu gleichen Teilen an seine Kinder. Das führt zu einem tiefen Riss quer durch die Familie.
Doch Madame Donadieu lässt sich nicht kleinkriegen, sie übernimmt die Geschäfte. Konsequent verlangt sie, dass jedes Papier durch ihre Hände geht, sie nimmt selbst die Anrufe entgegen und leitet die monatlichen Konferenzen der wichtigsten Reeder der Stadt. Natürlich leiden die Kinder unter dieser Bevormundung und die Atmosphäre in dem Haus wird immer unerträglicher.
Dann macht sich 17jährige Martine gemeinsam mit ihrem Liebhaber und Habenichts Philippe nach Paris davon. Auch Michel, der sich für einen Posten in der Stadt bewirbt, leistet sich einen Skandal: er schwängert seine Sekretärin. Allein Schwiegersohn Jean führt ein halbwegs geordnetes Familienleben, aber der ist ja nur ein Eingeheirateter.
Im Laufe der Handlung werden Martine und Philippe immer mehr zu Hauptpersonen, denn der frühere Taugenichts macht in Paris gute Geschäfte. Damit könnte er den Fall der Familie Donadieu aufhalten, doch er hat nur ein Ziel: er will nach oben. Außerdem ist die Beziehung zwischen den beiden längst eine gescheiterte Liebe.
Meisterhaft schildert Georges Simenon in „Das Testament Donadieu“ den Untergang einer Familie, die im Laufe einer Generation zerrieben wird von unerfüllter Liebe, Skandalen, Verbrechen und Wirtschaftskriminalität. Der Roman wird dabei oft mit den „Buddenbrooks“ von Thomas Mann verglichen. Simenon gelingt es, dass der Leser unmittelbarer Beteiligter an dem Familienschicksal wird. Er hofft mit den Donadieus, freut sich über jeden Erfolg und verzweifelt angesichts der Niederlagen.
Der Roman erschien 1937 unter dem Originaltitel „Le testament Donadieu“. Die deutsche Erstausgabe wurde erst 1985, also knapp fünfzig Jahre später, im Diogenes Verlag ver-öffentlicht. Für die vorliegende Edition der „Ausgewählten Romane“ wurde die Übersetzung noch einmal überarbeitet.
Manfred Orlick