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Für Jacques Derrida bildete die Tätigkeit als Lehrender zeitlebens eine Quelle seines Denkens und Schreibens. Die Gesamtausgabe seiner Seminare bietet dem Leser die - im mehrfachen Wortsinn - unerhörte Chance, mit dem gesprochenen Wort des Philosophen in Berührung zu kommen. Den Anfang macht das letzte Seminar La bête et le souverain, das Derrida von Herbst 2001 bis Frühjahr 2003 an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris gehalten hat. Untersucht wird die politische und onto-theologische Geschichte des Begriffs und der Gestalten der Souveränität in ihren Verflechtungen mit…mehr

Produktbeschreibung
Für Jacques Derrida bildete die Tätigkeit als Lehrender zeitlebens eine Quelle seines Denkens und Schreibens. Die Gesamtausgabe seiner Seminare bietet dem Leser die - im mehrfachen Wortsinn - unerhörte Chance, mit dem gesprochenen Wort des Philosophen in Berührung zu kommen. Den Anfang macht das letzte Seminar La bête et le souverain, das Derrida von Herbst 2001 bis Frühjahr 2003 an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris gehalten hat. Untersucht wird die politische und onto-theologische Geschichte des Begriffs und der Gestalten der Souveränität in ihren Verflechtungen mit der Geschichte eines Denkens des Lebenden. In Frage steht dabei insbesondere der Umgang mit dem tierlich genannten Lebenden im Verhältnis zum sogenannten "Eigenen des Menschen".La Fontaines Fabel Der Wolf und das Lamm, in der sich eine lange Tradition des Denkens über den Zusammenhang von Macht, Gewalt und Recht verdichtet, dient Derrida dabei als Ausgangs- und Bezugspunkt einer minutiösen Lektüre von Texten von Machiavelli, Hobbes, Rousseau, C. Schmitt, Heidegger, Agamben, Lacan, Deleuze, Valéry, Celan und anderen. So zeichnet sich nach und nach "eine Art Taxonomie der Tierfiguren des Politischen" und der Souveränität ab.
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Autorenporträt
Jacques Derrida (1930-2004) lehrte Philosophie in Paris und den USA.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.06.2015

Tiere wie wir
Jacques Derridas letztes Seminar handelte von Saddam Hussein, Carl Schmitt, Tauben, Wölfen, Souveränen und vor allem davon, wie das alles zusammenhängt

Es macht einen Unterschied, ob man auf Taubenfüßen trippelt oder auf Wolfssohlen schleicht. Auch wenn beide Gangarten still, diskret und unscheinbar und deshalb kaum zu hören sind, gehören sie ganz unterschiedlichen philosophischen Traditionen an. Auf Taubenfüßen, wie ein Dieb in der Nacht, trat beim heiligen Paulus die Wahrheit ganz leise in die Welt. Und in Friedrich Nietzsches "Also sprach Zarathustra" durchquert eine Taube das Lied mit dem Titel "Die stillste Stunde".

Die "stillste Stunde" ist in dem Gesang der Name einer furchteinflößenden Souveränin, einer furchtbaren Herrin, die Zarathustra bestimmt zurechtweist. "Das ist dein Unverzeihlichstes: du hast die Macht und willst nicht herrschen", kritisiert sie ihn. Worauf dem zaghaften Zarathustra immerhin einfällt, darauf hinzuweisen, dass ihm zu allem Befehlen die Stimme des Löwen fehle und es die stillsten Worte seien, die den Sturm bringen: "Gedanken, die mit Taubenfüßen kommen, lenken die Welt." Diese stillen Gedanken, die auf Taubenfüßen daherkommen, sind aber die stillen Befehle, welche die Welt im Sinne des heiligen Paulus zur Wahrheit lenken, die immer eine Wahrheit des Friedens ist. Demgegenüber kündigen die Schritte auf leisen Wolfssohlen das Gegenteil an: Sie sind Boten des Krieges, des Kriegsherrn, des den Krieg befehlenden Souveräns. Sie gehören in die lange und wirkmächtige Tradition, in welcher der Mensch dem Menschen ein Wolf ist.

Und genau in diese Tradition wollte Jacques Derrida in seinem letzten Seminar mit dem Titel "Das Tier und der Souverän", das er im Jahr 2001/2002 in Paris abgehalten hat, eindringen. Der dicke Band, jetzt auf Deutsch im Passagen-Verlag erschienen, ist der Auftakt eines riesigen Editionsprojekts, in dem, neben den bereits veröffentlichten Büchern, Interviews und Vorträge, Vorlesungen und Seminare zugänglich gemacht werden sollen. Dabei ist es in mehrfacher Hinsicht ein Glücksfall, dass die Herausgeber mit dem letzten Seminar begonnen haben. Der 2004 verstorbene Derrida plante immer, ein Buch zu schreiben, in dem er alle sein Werk durchziehenden Bemerkungen, die Tiere betreffen, in einem Gedankengang zusammenführen wollte. Dazu ist er nicht mehr gekommen. Mit dem vorliegenden Seminar und seinem 2010 ebenfalls bei Passagen erschienenen Langvortrag "Das Tier, das ich also bin" hat man jetzt aber wesentlich mehr als nur eine skizzenhafte Auseinandersetzung von Derridas Tier-Denken in der Hand.

Ohne Übertreibung kann man schon mit dem ersten Band der Seminare feststellen, dass, ähnlich wie bei der Veröffentlichung von Michel Foucaults Vorlesungen, dem Werk Derridas noch einmal eine Dimension hinzugefügt wird. Eine Dimension, die bei allen Überschneidungen und Ähnlichkeiten mit dem bisher veröffentlichten Werk dem Gleiten der Wörter zwischen ihren Bedeutungen und dem, was sie nicht oder noch nicht bedeuten, einen neuen Rhythmus verleiht. Einen Rhythmus, der in der speziellen Situation im Seminarraum wirklich vorstellbar macht, dass man mit gleitenden Worten oder verschobenen Bedeutungen dem Wolfsgang der (Gewalt-)Geschichte den Boden entziehen kann.

Das geht natürlich nicht ohne eine ganz bestimmte Mimikry. Und so will Derrida denn auch "auf leisen Wolfssohlen" durch das Seminar führen. Eine Gangart, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich mit Umwegen auskennt und nicht viel mehr als undeutliche Spuren hinterlässt. Wolfsforscher wissen das. Derrida beginnt mit dem Hinweis auf das, wovon er nicht handeln wird: von den Taubenfüßen. Mit dem schönen Bild Immanuel Kants von der leichten Taube, die im Flug den Luftwiderstand spürt und sich vorstellt, dass es im luftleeren Raum noch besser ginge, verankert Derrida sie im Gedächtnis. Das Bild bleibt, auch wenn von den Tauben nicht mehr die Rede ist. Genauso wichtig: der Hinweis auf den Widerstand des Materials. Nachdem er einige idiomatische und sprichwörtliche Ausdrücke wie "mit den Wölfen heulen" oder den "Wolfshunger" vorgestellt hat, erklärt Derrida, dass sie sich nicht alle von einer Sprache oder Kultur in eine andere übersetzen lassen. Nicht überall gibt es Wölfe, und die Erfahrungen, die man in Alaska oder in den Alpen, im Mittelalter oder heutzutage mit Wölfen macht, sind nicht dieselben. Die Sprichwörter und die Figuren, die Interpretationen, die Fabeln und die Phantasmen variieren von einem Ort und einem historischen Augenblick zum anderen.

"Die Figuren des Wolfs stoßen also auf - und stellen uns vor - die dornigen Probleme der Grenze", fasst Derrida das Problem. Während die realen Wölfe, ohne um Erlaubnis zu fragen, nationale und institutionelle Grenzen passieren, die von Menschen und ihren souveränen Nationalstaaten gesetzt wurden. Es geht Derrida bei den grenzüberschreitenden realen Wölfen nicht um den banalen Kontrast zwischen Fabeltier und biologischer Gestalt. Indem er das Bild des realen Wolfs aufruft, das während des Seminars präsent bleibt, will er einen anderen Schrecken sichtbar machen, um ihm zu entweichen: die Zoologisierung der menschlichen Barbarei. Wir dürften uns nie damit begnügen, schreibt er, das Soziale, das Politische und die Ausübung der Souveränität in ihnen nur als verkleidete Manifestationen animalischer Kraft zu verstehen, deren Wahrheit uns die Zoologie liefert. Der Grund für Bestialität und unmenschliche Barbarei, heißt das, ist nicht unter den Tieren zu suchen. Derrida möchte das Bild, nach dem der politische Mensch immer noch animalisch ist, umdrehen: Man könnte auch annehmen, dass bereits das Tier politisch ist.

Es ließen sich zahlreiche Beispiele aus Tiergesellschaften, von Affen über Graupapageien bis zu Delphinen, anführen, in denen "raffinierte, komplizierte Organisationen in Erscheinung treten, mit hierarchischen Strukturen, Attributen der Autorität und der Macht, Phänomenen symbolischen Kredits, mit so vielem, das man oft der menschlich genannten Kultur - im Gegensatz zur Natur - zuschreibt und ihr derart naiv vorbehält." Die Fragilität und Durchlässigkeit der Grenze von Natur und Kultur wird an dieser Stelle so klar, dass Derrida selbst ganz mulmig wird. Gleich im Anschluss stellt er die einzige Regel auf, die er glaubt, seinem Seminar geben zu müssen. Sie besteht darin, den allgemein anerkannten und einen Gegensatz konstituierenden Grenzen zwischen Natur und Kultur, Natur und Gesetz, Gott, den Menschen und dem Tier "einerseits nicht zu vertrauen, andererseits aber auch nicht alles zu vermischen und uns nicht per Analogie überstürzt auf Ähnlichkeiten oder Identitäten einzulassen". Jedes Mal also, wenn man eine Grenze und einen Gegensatz in Frage stelle, müsse man, weit davon entfernt, deshalb auf Identität zu schließen, verstärkt auf Unterschiede achten und die Analyse verfeinern.

Diese Maxime hat ihren genauen Ort im Seminar: Denn es folgt die erschreckende und eindrücklich unheimliche Darstellung der Ähnlichkeiten zwischen dem Tier, dem Souverän und dem Verbrecher in bestimmten Textkonstruktionen. Alle drei stehen danach außerhalb des Gesetzes. An Lektüren von Carl Schmitt, Walter Benjamin und an der Karriere des Begriffs "Schurkenstaat" vor allem in Amerika zeigt Derrida, wie der Souverän in der menschlichen Gesellschaft einerseits kraft Vernunft als über dem Tier stehend gesehen wird, um im nächsten Moment als Manifestation der menschlichen Bestialität aufzutreten.

Möglich wird die Verbindung von Souverän und Tier, weil sie die einzigartige Position teilen, außerhalb des Gesetzes zu stehen. Das Tier, da es das Gesetz nicht kennt, und der Souverän, da er das Recht hat, das Gesetz zu suspendieren. Er stellt sich über das Gesetz, das er ist, das er macht und über das er souverän entscheidet. Der Souverän ist kein Engel. "Wer auf souverän macht, macht auf Tier, er macht sich zum Tier", schreibt Derrida. Und dies tun Souveräne nicht nur über die Staatstiere, die sie sich selbst zuschreiben, sondern auch über die Verdammung anderer. Derridas Beschreibung, wie Saddam Hussein vom Freund Amerikas zum "Beast of Bagdad" wurde, ist ein eingängiges Beispiel. Es steht aber nur am Ende einer langen Kette von historischen Symptomen, die es weder mit dem Tier noch mit der Politik in den Momenten der Unentscheidbarkeit zu genau nehmen. Für Derrida kann es aber nur darum gehen, das Unentscheidbare ins Recht zu setzen, sozusagen mit Taubenfüßen in die politische Ordnung zu treten.

CORD RIECHELMANN

Jacques Derrida: "Das Tier und der Souverän I. Seminar 2001-2002". Übersetzt von Markus Sedlaczek, Passagen-Verlag, 544 Seiten, 65 Euro

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