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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.12.2003

Würgen mit bernsteinfarbenem Zopf
Georges Rodenbachs „Brügge. Tote Stadt” in neuer Übersetzung
„Gesten einfrieren” ist heute ein geläufiger Begriff in der Kunst. Eine Geste ist dort entstanden, wo sich Zeichen zu einem Sinn zusammenzurotten scheinen, einem intensiven Bild, das einer klassischen Allegorie ähneln kann. Ein wichtiger Unterschied ist, dass die Zeichen aus denen die Geste geformt ist, in ihrer Deutung weniger festgelegt sind.
Viel von der Attraktion, die Georges Rodenbachs 1892 erschienene Novelle „Brügge. Tote Stadt” noch heute vermittelt, hat zu tun mit ihrem Einfrieren von Sachen und Menschen in Bildern aus Wörtern. Auf emphatische Weise konserviert Rodenbach in einem der Hauptwerke des belgischen Symbolismus vor allem zwei Dinge: die Stadt Brügge, und in ihr die Gedanken und Gefühle von Hugues Viane, einem Wittwer um die vierzig.
Was Erstere angeht, schreibt Rodenbach in seiner knappen, aber wichtigen Vorbemerkung zu Bruges-la-Morte: „In dieser Studie der Leidenschaft wollten wir ganz besonders auch eine Stadt vor Augen führen, die Stadt als eine Hauptperson, den Seelenzuständen verbunden, die Rat gibt, warnt, zum Handeln veranlasst.” Die Novelle erschien zuerst als Fortsetzungsroman im „Figaro”, aber schon die erste Buchveröffentlichung, ein halbes Jahr später, war begleitet von nicht weniger als fünfundreißig ganzseitigen Fotografien mit unbedruckter Rückseite: Kaimauern, leere Straßen, alte Bürgerhäuser, Grachten, Kirchen, „damit jene, die uns lesen, den Einfluss und die Gegenwärtigkeit der Stadt ebenso ertragen, die Ansteckung von den benachbarten Kanälen nachempfinden, den Schatten der hohen Türme, der über dem Text liegt, selbst verspüren.”
Kaum ermattender Kuß
Wenn man so will, ist Rodenbachs „Brügge. Tote Stadt”, tatsächlich eine frühe Form des Fotoromans, die Rainer Moritz im Nachwort bemerkt. Und die das Buch zwischen alle stilistischen Stühle seiner Zeit setzt. Der Text selbst gibt sich hochsymbolistisch, Gegenständliches wird ebenso knapp wie vage und gleichzeitig bedeutungsheischend beschrieben, doch die Fotos verweisen auf den Vorläufer-Feind, den Naturalismus, dessen Kunst nicht eigenständiges Bild werden wollte, sondern Abbild.
Pathetisch dagegen bringt Rodenbach die Bewegung der Stadt zum Stillstand im Bild: „Das tote Brügge selbst lag im Grab seiner steinernen Grachten, denn die Adern seiner Kanäle waren erstarrt, als der große Puls des Meeres aufgehört hatte, hier zu schlagen”. Genau einen Tag nach dem Tod seiner Frau ist Hugues Viane nach Brügge gezogen. Bis dahin war er glücklich gewesen: Das Paar hatte „in Paris, im Ausland oder an der See eine Art Kosmopolitenleben” geführt und kannte „das unablässige Fieber, den kaum ermattenden Kuss.” So deutlich wie das Gefühl des Glücks mit der Leidenschaft verbunden war, so konsequent setzt Rodenbach den Fall seines Helden: „Der toten Frau musste eine tote Stadt entsprechen (,,,) Brügge war seine Tote und seine Tote war Brügge”
Eine ganze Weile lang folgt das Buch seinem Helden, wie er sich selbst einpassen möchte in das Bild der gefrorenen Stadt: Hugues sucht, frei nach Baudelaire, „in den einsamen Kanälen und Kirchenvierteln (...) nach Übereinstimmungen mit seiner Melancholie”. Sein erklärtes Ziel ist eine „graue Seele”. Einen Teil seines Hauses hat er als Schrein für die tote Frau angelegt. „Und die Spiegel, so schien es, durften nur behutsam mit Schwämmen und weichen Tüchern geputzt werden, um ihr Gesicht, das darin schlief, nicht zu verwischen.” Die unvergänglichste Reliquie aber ist der lange, bernsteinfarbene Zopf, zu dem die Frau ihr Haar in den letzten Tagen gebunden hatte.
Doch Rodenbach reißt seinen Helden aus der Verliebtheit ins Bild: Eines Tages sieht Hugues eine wirkliche Frau, die seiner unersetzlichen äußerlich in allen Punkten zu gleichen scheint. Er folgt ihr, findet heraus, dass sie eine Tänzerin ist, was den hochmoralischen Hugues schockiert, aber „er schien zugleich angezogen und abgestoßen wie von einem Brunnen, in dem man ein Gesicht zu enträtseln sucht.” Jane Scott, ein Künstlername, hat auch die gleiche Stimme wie die Tote. Hugues beginnt ein Verhältnis und hat nicht einmal das Gefühl, zu betrügen, küsst er doch „ihren” Mund. Darüber vergisst er sogar „den Schmerz der Dinge”, die Stadt.
Der neue Körper rettet Hugues vor der Erstarrung, doch da der Körper dies nur tun kann, weil er dem Bild entspricht, wird er nicht zur Befreiung. Statt selber der traurigen Stadt gleich werden zu wollen, verwendet Hugues nun das Bild der toten Frau als Sarg für die lebende. Doch der Körper will nicht ins Gemälde.
Als Hugues Jane auch noch die Kleider der Toten gibt, ist diese beim Anprobieren des alten Zeugs fröhlich-frivol und der verzweifelte Hugues fühlt statt Ähnlichkeit nur Differenz: der Schmerz hat seinen „entlaufenen Priester” zurück Und auch die Stadt möchte ihn wieder: Bestimmt von Resten des spanischen Katholizismus, „von jenem Glauben, bei dem die Gewissensbisse und die Furcht stärker sind als das Gottvertrauen und die mehr Angst vor der Hölle als Sehnsucht nach dem Himmel verbreitet.”, versucht ihn Barbe, die von einer Ordensschwester ermahnte fromme Haushälterin Hugues’, von einer Einladung der Schauspielerin zu sich nach Hause abzubringen. Doch der Körper ist dabei, das Bild auf die übliche Weise zu sprengen, Jane wirkt inzwischen auch durch ihren sinnlichen Reiz.
Hugues, der Jane eine Wohnung eingerichtet hatte, empfängt sie zum erstenmal bei sich, aber durch seine Schuldgefühle nach Barbes Kündigung ist er empfindlich. Als Jane, die nur noch auf Hugues Erbe aus ist, nach einem Streit in den Reliquienraum tritt und ihn spöttisch entheiligt, erwürgt Hugues sie – mit dem bernsteinfarbenen Zopf. Womit er die Lebende der Toten gleich macht, sie vereinigen sich im „einzigen Antlitz seiner Liebe”, dem Bild.
Bruges-la-Morte wurde für den Autor zu einem anhaltenden Erfolg: Nach vier Jahren waren 14000 Exemplare verkauft. Rodenbach, der nie in Brügge gelebt, aber die Schwärmerei für die Stadt schon von seinem Vater geerbt hatte, war bekannt, und Brügge wurde zum Kulturreiseziel. Doch das Vorzeichen passte den Einwohnern nicht. Keiner wollte in einer toten Stadt wohnen. Bruges-la-Morte wurde politisch einflussreich: Eine Art Bürgerinitiative forderte einen neuen Hafen, den Brügge mit Seebrugge später tatsächlich erhielt.
Grauer Länder Stimmung
Doch der Haupt-Erfolgsgrund des Buchs liegt nicht im Kleinstadt-Skandalwert, sondern in der, bis auf das Haushälterinnen-Kapitel, eindrucksvollen sprachlichen Geschlossenheit der Novelle, die als Prosagedicht im klassischen Alexandriner geschrieben ist. Was die neue Übersetzung von Dirk Hemjeoltmanns, die die über hundert Jahre alte Arbeit von Friedrich Oppeln-Bronikowski ablöst, zum erstenmal im Deutschen ahnen lässt. Fotos wie Vorbemerkung fehlten in der bisher allein erhältlichen Ausgabe, in der Hugues passenderweise Hugo heißt, ganz.
Schön wäre es aber, wenn man endlich auch die Gedichte des engen Freundes von Mallarmé und Verhaeren zur Kenntnis nähme. Die schwermütigen Texte stehen Bruges-la-Morte in ihrer ebenso übertriebenen wie kunstvollen Stilisierung der Stimmung der „grauen Länder” nicht nach. Selbst Rodenbachs Leben passt in einiger Hinsicht mit ins fin-de-siècle-Bild. Der 1855 in Tournai geborene, in Sainte-Barbe erzogene flämische Katholik starb am Weihnachtsabend des Jahres 1898 an Schwindsucht in Paris.
HANS-PETER KUNISCH
GEORGES RODENBACH: Brügge. Tote Stadt. Aus dem Französischen von Dirk Hemjeoltmans. Mit Fotografien und einem Nachwort von Rainer Moritz. Manholt-Verlag. Bremen. 124 S., 18 Euro.
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