Franz Schrekers Oper "Der ferne Klang" ist ein Schlüsselwerk der Wiener Moderne und das Frühwerk eines Komponisten, der auf der Suche nach avanciertem Ausdruck für das Lebensgefühl seiner verwirrenden und von Paradoxien geprägten Zeit neue Wege musikdramatischer Gestaltung erschließt. Ulrike Kienzle bietet zum ersten Mal eine detaillierte Gesamtinterpretation dieses faszinierenden Musikdramas. Zwei junge Menschen sind auf der Suche nach sich selbst, aber beide Versuche der Selbstfindung scheitern: Der Komponist Fritz, der auszieht, seine künstlerische Vision zu verwirklichen, verfehlt trotz äußerer Erfolge sein Ziel. Die romantische Hoffnung, er könne das Geheimnis des kosmischen Klingens ergründen, das er zu hören glaubt, wird ebenso enttäuscht wie die Sehnsucht seiner Geliebten Grete nach erotischer Erfüllung. Während Fritz auf der Suche nach dem "fernen Klang" den destruktiven Halluzinationen seiner Psyche verfällt, endet Gretes Sehnsucht nach Einswerden mit der Natur in der banalen Realität einer Existenz als Straßendirne. Für beide enthüllt sich hinter dem Traum das Trauma der Vergeblichkeit. Die Utopie einer Versöhnung von Kunst und Leben - die zentrale Vision des Jugendstils - versagt. Die fatalistische Aussage des Werks spiegelt damit die Befindlichkeit des Menschen in einer zunehmend fremdbestimmten Welt. Traum und Trauma sind Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse, mit denen auch die Werkaussage des "Fernen Klang" beschrieben werden kann. Schreker gestaltet ein subtiles Psychogramm seiner Protagonisten, in dem die grundlegenden Werke der frühen Psychoanalyse ihre Spuren hinterlassen haben: Sigmund Freuds "Traumdeutung" und die gemeinsam mit Josef Breuer verfaßten "Studien über Hysterie". Zur Umsetzung dieser musikdramatischen Konzeption entwickelt Schreker eine neuartige Technik der musikalischen Vermittlung: Das Orchester zeichnet das Werden und Vergehen von Assoziationen und Gefühlen, die subtile Wandlung von Bewußtseinsprozessen, die Grenzgänge der Seele zwischen Wachbewußtsein, Somnambulismus und hysterischer Entfremdung in einer musikalischen Sprache nach, die bis an die Grenzen der Tonalität vorstößt, eine spezifische Methodik der Klangkomposition und der Leitmotivik einführt und Verfahrensweisen der Collage sowie die freie, assoziative Entwicklung formaler Modelle einschließt. Das Buch beleuchtet Schrekers musikdramatische Technik von der Außenschicht der Handlungsmotivation und der Bilderwelt bis in die Tiefenschichten der textlichen und musikalischen Strukturen. Die Autorin geht dabei konsequent interdisziplinär vor: Die musikalische Analyse steht in Wechselwirkung mit vergleichenden Reflexionen zur Literatur und Bildenden Kunst ebenso wie zum zeitgenössischen Musiktheater; sie bezieht zudem geistesgeschichtliche Betrachtungen und Fragestellungen der frühen Psychoanalyse ein. Damit entwickelt sie zugleich eine neue, integrale Analyse-Methode, die das Zusammenwirken der unterschiedlichen Ausdrucksebenen im Musiktheater differenziert beleuchtet. Weitere Informationen finden Sie im Internet unter www.editionargus.de Als Ergänzung zu diesem Buch ist ebenfalls in der Edition Argus eine Studienpartitur der Oper "Der ferne Klang" erschienen (inzwischen vergriffen). Es handelt sich um die Reproduktion der Dirigierpartitur aus dem Jahre 1912, die bislang nur als Leihmaterial verfügbar war. Da noch keine kritische Ausgabe der Werke von Franz Schreker existiert, bietet diese Fassung den zur Zeit einzig verbindlichen Notentext der Partitur des "Fernen Klang". Verweise auf Notenbeispiele in den Analysen des Buches beziehen sich in der Regel auf diese Studienpartitur.