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Produktdetails
  • Verlag: Das Arsenal
  • Seitenzahl: 88
  • Unbestimmt
  • Abmessung: 205mm x 125mm
  • Gewicht: 110g
  • ISBN-13: 9783931109295
  • ISBN-10: 3931109291
  • Artikelnr.: 12327562

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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2005

In den Mauerspalten der Realität
Kantinenhelden: Ingrid Mylos schwerelose Erzählungen

Ein einzelner schwarzer Handschuh liegt auf dem Sitzplatz in der S-Bahn. Sein Zwillingsbruder ist nicht zu sehen, und die Hand, die ihm paßt, ist fort. Ringsherum andere Hände, aber keine Zwillingsbrüder. Dann, Stationen später, kommt ein Mann, nimmt den Handschuh, wirft ihn auf den nächsten Sitz und setzt sich. Da hat der Handschuh eine unschöne Begleitung und fährt weiter.

Die Hand, die ihm paßt, kommt nicht wieder. Der Handschuh wird vielleicht den Weg ins Fundbüro gehen; der Moment aber, den er im Niemandsland zwischen Gebrauch und Verlust zubrachte, ist verloren. Oder der Schuh am Rand der Autobahn - von welchem Drama der Rest, fragt Mylo und weiß, daß ein desolater Anblick nicht einmal ein Drama braucht. Altkleider, Altpapier und Schrott werden gesammelt und wiederverwertet, aber wo findet man den schnellen Seitenschritt der Wahrnehmung wieder, den man einmal wahrnahm? Wir treffen ihn wieder bei Ingrid Mylo, die mit ihrem Band "Das Treppenhaus und andere Landschaften" ein Fundbüro der verlorenen Anblicke und Einfälle eröffnet hat. Man kann darin umherspazieren, in dieses oder jenes Regal schauen und verschollene Gefühle, Eindrücke oder Ausdrücke wie alte Bekannte grüßen.

Wer an literarischem Eintopf übersatt ist, der wird in diesem Band genau jene schwerelos-schlanke Prosa finden, deren Stoff nicht gewichtig ausladend sein muß, um bedeutend zu sein. Ein Labsal an Witz, Einfall und Genauigkeit. Da ist zum Beispiel der Mann, der immer eine große Reise unternehmen will, ganz weit weg, so weit und so anders und so mutig, daß ihn seine Kollegen und Bekannten insgeheim schon sehr bewundern. Aber schließlich merken sie, daß er ein Kantinenheld, ein Dampfredner ist und tatsächlich immer nur darüber redet, darüber hinweg nämlich, und schließlich glaubt ihm keiner mehr das große Ziel. Dann aber fällt dem Großsprecher seine Familie ein: Wenn es nur um ihn ginge, ja dann hätte er die Reise längst angetreten, aber bitte, mit Familie - unmöglich.

Oder der Heimkehrer, unter der Überschrift "Motelnächte": Lange allein in der Ferne gewesen und gefährlich gelebt, hat er sich selbst ganz neu erfahren. Kommt nach Hause zurück und wird von seiner Liebsten begrüßt mit den Worten: Ganz der alte, du hast dich ja gar nicht verändert! Ein Schock und eine Wahrheit auch. Was Augenblicke bloßer Irritation sein könnten, macht Ingrid Mylo als etwas Eigenständiges sichtbar, als Ritzen im Mauerwerk der Realität. Die Autorin kommt so auseinanderfallenden Bild- und Bewußtseinswelten auf die Spur, sie hört das Hohle hinter den Wänden und sieht den Schatten ohne Licht. Beim Betrachten zweier Pappelreihen, die "sich in schnurgeraden Linien streng und endlos durch den Wiesengrund fortsetzen", fühlt sie, daß sie das alles schon einmal gesehen und gespürt hat, diese Kombination von "Striktheit und Sehnsucht beim Anblick der Pappelreihen". Dann aber beläßt Ingrid Mylo es nicht beim Eindruck des Déjà-vu, sondern dreht ihn überraschend um, indem sie fragt, ob jener Kindertag schon einen Hinweis gerade auf den Moment der zeitlich viel weiter entfernten Gegenwart gab und ob, wenn sie ihn damals hätte verstehen können, das Kind nicht in eine andere Zeit aufgeblüht wäre. Das ist eine höchst poetisch-plötzliche Zeitlosigkeit, die in Sprungmustern einen roten Faden webt.

Es wäre allerdings ein Mißverständnis, unterstellte man Ingrid Mylo eine besessene Sinn- und Bedeutungssuche, die sich gerade im Mikroskopischen beweisen wollte. Im Gegenteil. Sie erzählt Geschichten und pfeift auf die Bedeutung, ja sie stellt die billigen Bedeutungsgesten bloß, all die Eselsbrücken, über die wir Esel gehen, wenn wir klug sein wollen. Aber sie tut es so leichthin, mit Eleganz und Zeitgefühl, daß der Leser es sich nie so leichtmachen kann, sich angegriffen zu fühlen.

Es setzt sich ein junger Mann zu ihr ins Zugabteil mit einem leicht verwischten blauen Stempelaufdruck "Rebel by Choice" auf der Wange, den es wahrscheinlich als Eintrittskarte bei einem Rockkonzert oder einer Disko gab. Dieser Rebell weist die Erzählerin darauf hin, daß das Rauchen hier verboten sei, und sie drückt die Zigarette am Fenster aus. Und er kommt mit seinem Taschentuch und wischt das Fenster sauber. Legt ihr das Taschentuch hin und sagt, sie solle es als Andenken bewahren. Und sie denkt an Georges oder Janwillem in Brüssel, der am Morgen danach sagte: "Behalte es in guter Erinnerung." Diese glorifizierenden Girlanden, mit denen die Schwäche des eigenen Augenblicks behängt wird, damit er zu glänzen beginnt und erfüllt, was nicht mehr zu erfüllen ist.

Landschaften nennt Ingrid Mylo das Interieur ihres Fundbüros. In diesen Landschaften kann man mit "der Wirklichkeit der Welt" verhandeln, und der Jahresbeginn ist kein schlechter Augenblick, damit anzufangen. Der Leser braucht keine Wanderstiefel, um die Landschaften zu durchstreifen, und keinen Kompaß. Es reicht, daß er etwas sucht: Hier findet es sich.

MICHAEL JEISMANN

Ingrid Mylo: "Das Treppenhaus und andere Landschaften". Verlag Das Arsenal, Berlin 2004. 88 S., br., 9,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Ein Labsal an Witz, Einfall und Genauigkeit!" jubelt Rezensent Michael Jeismann über diese Erzählungen von Ingrid Mylo, die ihn auch durch ihre schwerelos-schlanke Prosa begeistert haben. Der Stoff ihrer Geschichten sei bedeutend, ohne je ausladend zu sein: Mylo höre das Hohle hinter den Wänden und sehe den Schatten ohne Licht und habe überhaupt mit diesem Band ein Fundbüro der verlorenen Anblicke und Eindrücke eröffnet, setzt Jeismann seine Hymne fort. Er lässt skizzenhaft Figuren und Themen der Erzählungen aufblitzen und freut sich immer wieder an der Eleganz und Leichtigkeit der Autorin, in deren Landschaften man als Leser mit der Wirklichkeit der Welt verhandeln und sogar zu sich selber finden könne.

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