Gleich im ersten Kapitel räumt Rechtspsychologin Julia Shaw mit verbreiteten Vorstellungen über Gedächtnisleistungen auf, die aus neurobiologischer Sicht unmöglich sind. Dazu zählen frühkindliche Erinnerungen sowie Erinnerungen an die eigene Geburt oder an die Zeit davor. Die strukturelle
Entwicklung des Babygehirns, der Mangel an Organisation und die fehlende Sprache verhindern, dass bewusste…mehrGleich im ersten Kapitel räumt Rechtspsychologin Julia Shaw mit verbreiteten Vorstellungen über Gedächtnisleistungen auf, die aus neurobiologischer Sicht unmöglich sind. Dazu zählen frühkindliche Erinnerungen sowie Erinnerungen an die eigene Geburt oder an die Zeit davor. Die strukturelle Entwicklung des Babygehirns, der Mangel an Organisation und die fehlende Sprache verhindern, dass bewusste Erinnerungen entstehen können. (34)
Die Autorin erläutert bildhaft die Physiologie des Gehirns, dessen Formbarkeit und Anpassungsfähigkeit für eine Welt der Unsicherheit und Entscheidungsfähigkeit geschaffen wurde. Dafür werden Erinnerungsfehler als Nebenprodukt in Kauf genommen. Der Fokus liegt auf diesen Schwächen des Gehirns, die einem selbst nicht bewusst sind, sondern erst durch empirische Untersuchungen zutage treten. Betroffen von diesem Phänomen sind auch sog. Gedächtnisgenies. (105)
Erinnerungen bilden wir nicht im Schlaf, sondern nur wenn wir aufmerksam sind. Schlaf dient im Gegenteil dazu, einer Reizüberflutung entgegen zu wirken, die zu einer Schädigung der Nervenzellen führen kann. (140) Da für die Erzeugung von Erinnerungen Aufmerksamkeit erforderlich ist, hält die Autorin auch intelligenzfördernde Babyvideos, Hypnose oder sublime Botschaften im Hinblick auf Beeinflussungen für Fiktionen. (156) Dabei beruft sie sich auf zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen.
Die Autorin muss als Kriminalpsychologin Expertengutachten erstellen. Sie bedauert, dass Polizei und Justiz zu wenig über Erinnerungsprobleme und Wahrnehmungsverzerrungen wissen. Aufgrund mangelhafter Selbsteinschätzung gab es und gibt es zahlreiche Justizirrtümer. Zum Thema hat sich bereits Thomas Fischer in "Im Recht" ausführlich geäußert, der Zeugenaussagen kritisch sieht und eine Lanze bricht für Indizienprozesse. Aus psychologischer Sicht sind seine Bedenken gerechtfertigt.
Menschen können suggestiv falsche Erinnerungen eingepflanzt werden. Hierzu gibt es zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen. Erinnerungen an emotionsgeladene Ereignisse können fehlerhaft sein, mit manchmal schrecklichen Folgen für Betroffene. "Das trügerische Gedächtnis" richtet sich gegen die Selbstüberschätzung des Menschen. Julia Shaw beweist mit ihrer kritischen Haltung Bodenhaftung. Die Begründungen könnten mehr in die Tiefe gehen, dennoch handelt es sich um ein wichtiges Aufklärungsbuch.