'Wenn eine Gesellschaft vor ihrer literarischen Kultur keine Achtung mehr hat, wenn die Achtung nicht so beschaffen ist, daß sie es als achtenswert empfindet, über diese Kultur einigermaßen Bescheid zu wissen, wenn sie also das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit - ihre Unbildung - nicht mehr als bedauerlichen Mangel empfindet, der nur durch die Bildung einer kulturellen Elite kompensiert werden kann, dann ist nichts mehr zu machen.' Jan Philipp Reemtsma
Warum studiert, warum lehrt man Literaturwissenschaften? Welche Bedeutung haben Literatur und Kunst für die Gesellschaft? Wieviel Tradition braucht das Theater und wie wenig Experiment ist bekömmlich? Wie soll man Klassiker inszenieren? Um solche Fragen kreist das neue Buch von Jan Philipp Reemtsma, das sechs Texte versammelt, denen allen eines gemeinsam ist: die Überzeugung, daß eine Gesellschaft, die keine Achtung mehr vor ihrer eigenen Kultur hat, der ihre eigene Unbildung gleichgültig geworden ist, nicht nur ernsthaft gefährdet, sondern im Grunde hoffnungslos ist. Wenn selbst die Bildung einer kulturellen Elite für überflüssig gehalten wird, weil man ihr Wertschöpfungspotential nicht zu beziffern vermag, dann hat der Ausverkauf der eigenen literarischen Tradition begonnen.
Sprachlich brillant, in der Zuspitzung der Argumente ebenso scharfsinnig wie un-bequem, präsentiert sich Reemtsma in diesen Aufsätzen nicht nur als leidenschaftlicher Anwalt des 'exquisiten Vergnügens zu lesen, was zu lesen sich lohnt', sondern auch als angriffslustiger Germanist, der all jenen Mut macht, die die Sache der Kultur noch nicht verloren geben wollen.
Warum studiert, warum lehrt man Literaturwissenschaften? Welche Bedeutung haben Literatur und Kunst für die Gesellschaft? Wieviel Tradition braucht das Theater und wie wenig Experiment ist bekömmlich? Wie soll man Klassiker inszenieren? Um solche Fragen kreist das neue Buch von Jan Philipp Reemtsma, das sechs Texte versammelt, denen allen eines gemeinsam ist: die Überzeugung, daß eine Gesellschaft, die keine Achtung mehr vor ihrer eigenen Kultur hat, der ihre eigene Unbildung gleichgültig geworden ist, nicht nur ernsthaft gefährdet, sondern im Grunde hoffnungslos ist. Wenn selbst die Bildung einer kulturellen Elite für überflüssig gehalten wird, weil man ihr Wertschöpfungspotential nicht zu beziffern vermag, dann hat der Ausverkauf der eigenen literarischen Tradition begonnen.
Sprachlich brillant, in der Zuspitzung der Argumente ebenso scharfsinnig wie un-bequem, präsentiert sich Reemtsma in diesen Aufsätzen nicht nur als leidenschaftlicher Anwalt des 'exquisiten Vergnügens zu lesen, was zu lesen sich lohnt', sondern auch als angriffslustiger Germanist, der all jenen Mut macht, die die Sache der Kultur noch nicht verloren geben wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.09.2006Wozu überhaupt Kunst?
O Schreck: Der Bürger Reemtsma verachtet die dumme Mehrheit
Als Christoph Martin Wieland sich 1803 zum Verkauf seines Anwesens in Oßmannstedt genötigt sah, giftete er in einem Brief an einen Bekannten, daß in Deutschland allen Autoren, die vom bloßen Buchmachen leben müssen oder wollen, der Hungertod drohe. Daß dieses Gut zwei Jahrhunderte später als Museum und Forschungsstelle eröffnet und der Acker gewissermaßen in den Bezirk der Kultur wieder eingemeindet werden konnte, ist nicht zuletzt dem Literaturwissenschaftler und Mäzen Jan Philipp Reemtsma zu verdanken.
"Irgendwo müssen wir ja hin mit unserm Dank", schreibt Reemtsma in einer seiner sechs Reden über Literatur und Kunst, "und darum wollen wir etwas tun für das Fortleben im Andenken der Nachwelt, der Nachwelt, die wir sind und die die sein werden, denen wir doch nicht durch unsere Versäumnisse die Chance nehmen wollen, dasselbe tun zu können."
Tatsächlich dürfte es nicht allein intellektuelle Affinität sein, durch die sich der Hamburger Patriziersohn dem Weimarer Prinzenerzieher verpflichtet fühlt. Auch den klammen Arno Schmidt hat Reemtsma zu Lebzeiten unterstützt und nach dessen Tod viel für die Verbreitung seines Werkes getan. Aber es griffe zu kurz, die Auswahl der von Reemtsma Geförderten nur dem individuellen Geschmack eines reichen Gönners zuzuschreiben.
Aus Reemtsmas Reden spricht ein geradezu altmodischer Kulturernst, der sich der Bewahrung und Verteidigung gerade des scheinbar Nutzlosen verpflichtet fühlt. Erst die Symbolisierungsfähigkeit der vermittelnden Kunst ermögliche der Gesellschaft eine Kommunikation zweiter Ordnung und damit Distanz gegenüber den Forderungen einer totalen, unmittelbaren Realität der Oberfläche, lautet Reemtsmas These, die er unter ausführlichem Rückgriff auf Metapherntheorien und sprachphilosophische Überlegungen gegen eine egalitäre Massenkultur ins Feld führt.
Man nimmt es dem Autor dabei kaum ab, wenn er sine ira et studio zu sprechen vorgibt, denn seine Reden sind in ihrem elitären Duktus und Gehalt nicht nur provozierend unzeitgemäß, sondern von einer bisweilen schneidenden Verachtung durchzogen, die sich gegen Massenkultur, Fernsehen und Spaßgesellschaft richtet, den "Mob, der sich in den Fernsehstudios ankeift, den Mob vor den Bildschirmen, der sich was Besseres dünkt". Damit kommt Reemtsma auf den klassischen, polemischen Gegensatz von Elite und Masse zurück. Dem von ihm diagnostizierten Kulturverfall kann er nur ein Achselzucken abgewinnen: Kultur ist Luxus, na und?
Solange es eine kulturelle Elite gebe, die das "unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit" kompensiere, sei noch nicht alles verloren. Sein wahrer Adressat ist eben diese kulturelle Elite, es sind die Studierenden, die Mitglieder von Kulturstiftungen und Fördervereinen, vor denen er seine Reden gehalten hat, eine Elite deshalb, weil sie als einzige gesellschaftliche Gruppe "ihre Identität durch einen weltanschauungsunabhängigen Kunstbezug" gewinne.
Reemtsmas Appell richtet sich allerdings, das mag den eindringlichen, strengen Ton seiner Reden erklären, an ein Publikum, dem ein ungezwungenes Selbstverständnis als Elite schon deshalb nicht mehr gegeben ist, weil es ihm einst von seinen Generationsgenossen ausgetrieben wurde. Eine Elite ohne Selbstbewußtsein aber wird auch ihrer kulturellen Verantwortung nicht mit der nötigen Tatkraft nachgehen. Privilegierte, die sich ihrer Privilegien schämen, schreibt Reemtsma, mögen ein erbaulicher Anblick sein. Aber ein Privilegierter, der seine Privilegien nicht nutzt, verdiene unsere Verachtung.
Nichts trauriger als einer, "der dieß alles hat, und vom Genießen Nichts versteht - ein roher grober Knoll", wie es in Wielands Fabel vom Garten heißt, der just dann verdorrt, als sein Besitzer den einzigen Singvogel darin zu Geld machen will. Zum Kunstgenuß gehören für Reemtsma Geschmack, Takt und Manieren, Maßstäbe und die Fähigkeit zu unterscheiden.
Seinen Studenten erklärt er: "Die akademische Ausbildung zu einem kompetenten Teilnehmer an ästhetischer Kommunikation ist eine auf Dauer gestellte Prüfung, in der es seitens des Sich-Ausbildenden um Vermeidung von Blamage und Mißbilligung geht, seitens des Ausbildenden um das freundliche Aufweisen von Risiken von Blamage und Mißbilligung." Das Bachelorstudium ein bürgerlicher Benimmkurs? Eher verbirgt sich hinter dem bildungsbürgerlichen Vokabular die Skepsis eines Einzelgängers.
Man mag die Selbstsicherheit wohlfeil nennen, mit der Reemtsma aus der sicheren Position eigener Unabhängigkeit die Autonomie der Kunst verteidigt. Doch sein Engagement trifft einen Nerv. Wenn ein ordentlicher Professor in Anzug und Weste heute solche Reden hält, dann ist das angesichts einer zunehmend ökonomisierten Hochschule und deren demoralisierten Insassen schon wieder radikaler, als auf die Straße zu rennen und gegen Studiengebühren zu demonstrieren. Fast scheint es nun, als sei Jan Philipp Reemtsma halb Bürgerschreck und halb erschrockener Bürger, wie es einmal von Erich Kästner hieß. Der könnte bald Gesellschaft bekommen.
MALTE HERWIG
Jan Philipp Reemtsma: "Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit". Sechs Reden über Literatur und Kunst. C. H. Beck Verlag, München 2005. 170 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
O Schreck: Der Bürger Reemtsma verachtet die dumme Mehrheit
Als Christoph Martin Wieland sich 1803 zum Verkauf seines Anwesens in Oßmannstedt genötigt sah, giftete er in einem Brief an einen Bekannten, daß in Deutschland allen Autoren, die vom bloßen Buchmachen leben müssen oder wollen, der Hungertod drohe. Daß dieses Gut zwei Jahrhunderte später als Museum und Forschungsstelle eröffnet und der Acker gewissermaßen in den Bezirk der Kultur wieder eingemeindet werden konnte, ist nicht zuletzt dem Literaturwissenschaftler und Mäzen Jan Philipp Reemtsma zu verdanken.
"Irgendwo müssen wir ja hin mit unserm Dank", schreibt Reemtsma in einer seiner sechs Reden über Literatur und Kunst, "und darum wollen wir etwas tun für das Fortleben im Andenken der Nachwelt, der Nachwelt, die wir sind und die die sein werden, denen wir doch nicht durch unsere Versäumnisse die Chance nehmen wollen, dasselbe tun zu können."
Tatsächlich dürfte es nicht allein intellektuelle Affinität sein, durch die sich der Hamburger Patriziersohn dem Weimarer Prinzenerzieher verpflichtet fühlt. Auch den klammen Arno Schmidt hat Reemtsma zu Lebzeiten unterstützt und nach dessen Tod viel für die Verbreitung seines Werkes getan. Aber es griffe zu kurz, die Auswahl der von Reemtsma Geförderten nur dem individuellen Geschmack eines reichen Gönners zuzuschreiben.
Aus Reemtsmas Reden spricht ein geradezu altmodischer Kulturernst, der sich der Bewahrung und Verteidigung gerade des scheinbar Nutzlosen verpflichtet fühlt. Erst die Symbolisierungsfähigkeit der vermittelnden Kunst ermögliche der Gesellschaft eine Kommunikation zweiter Ordnung und damit Distanz gegenüber den Forderungen einer totalen, unmittelbaren Realität der Oberfläche, lautet Reemtsmas These, die er unter ausführlichem Rückgriff auf Metapherntheorien und sprachphilosophische Überlegungen gegen eine egalitäre Massenkultur ins Feld führt.
Man nimmt es dem Autor dabei kaum ab, wenn er sine ira et studio zu sprechen vorgibt, denn seine Reden sind in ihrem elitären Duktus und Gehalt nicht nur provozierend unzeitgemäß, sondern von einer bisweilen schneidenden Verachtung durchzogen, die sich gegen Massenkultur, Fernsehen und Spaßgesellschaft richtet, den "Mob, der sich in den Fernsehstudios ankeift, den Mob vor den Bildschirmen, der sich was Besseres dünkt". Damit kommt Reemtsma auf den klassischen, polemischen Gegensatz von Elite und Masse zurück. Dem von ihm diagnostizierten Kulturverfall kann er nur ein Achselzucken abgewinnen: Kultur ist Luxus, na und?
Solange es eine kulturelle Elite gebe, die das "unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit" kompensiere, sei noch nicht alles verloren. Sein wahrer Adressat ist eben diese kulturelle Elite, es sind die Studierenden, die Mitglieder von Kulturstiftungen und Fördervereinen, vor denen er seine Reden gehalten hat, eine Elite deshalb, weil sie als einzige gesellschaftliche Gruppe "ihre Identität durch einen weltanschauungsunabhängigen Kunstbezug" gewinne.
Reemtsmas Appell richtet sich allerdings, das mag den eindringlichen, strengen Ton seiner Reden erklären, an ein Publikum, dem ein ungezwungenes Selbstverständnis als Elite schon deshalb nicht mehr gegeben ist, weil es ihm einst von seinen Generationsgenossen ausgetrieben wurde. Eine Elite ohne Selbstbewußtsein aber wird auch ihrer kulturellen Verantwortung nicht mit der nötigen Tatkraft nachgehen. Privilegierte, die sich ihrer Privilegien schämen, schreibt Reemtsma, mögen ein erbaulicher Anblick sein. Aber ein Privilegierter, der seine Privilegien nicht nutzt, verdiene unsere Verachtung.
Nichts trauriger als einer, "der dieß alles hat, und vom Genießen Nichts versteht - ein roher grober Knoll", wie es in Wielands Fabel vom Garten heißt, der just dann verdorrt, als sein Besitzer den einzigen Singvogel darin zu Geld machen will. Zum Kunstgenuß gehören für Reemtsma Geschmack, Takt und Manieren, Maßstäbe und die Fähigkeit zu unterscheiden.
Seinen Studenten erklärt er: "Die akademische Ausbildung zu einem kompetenten Teilnehmer an ästhetischer Kommunikation ist eine auf Dauer gestellte Prüfung, in der es seitens des Sich-Ausbildenden um Vermeidung von Blamage und Mißbilligung geht, seitens des Ausbildenden um das freundliche Aufweisen von Risiken von Blamage und Mißbilligung." Das Bachelorstudium ein bürgerlicher Benimmkurs? Eher verbirgt sich hinter dem bildungsbürgerlichen Vokabular die Skepsis eines Einzelgängers.
Man mag die Selbstsicherheit wohlfeil nennen, mit der Reemtsma aus der sicheren Position eigener Unabhängigkeit die Autonomie der Kunst verteidigt. Doch sein Engagement trifft einen Nerv. Wenn ein ordentlicher Professor in Anzug und Weste heute solche Reden hält, dann ist das angesichts einer zunehmend ökonomisierten Hochschule und deren demoralisierten Insassen schon wieder radikaler, als auf die Straße zu rennen und gegen Studiengebühren zu demonstrieren. Fast scheint es nun, als sei Jan Philipp Reemtsma halb Bürgerschreck und halb erschrockener Bürger, wie es einmal von Erich Kästner hieß. Der könnte bald Gesellschaft bekommen.
MALTE HERWIG
Jan Philipp Reemtsma: "Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit". Sechs Reden über Literatur und Kunst. C. H. Beck Verlag, München 2005. 170 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der Band versammelt sechs Reden des Kulturtheoretikers Jan Philipp Reemtsma. Er zeigt den Autor, wie der Rezensent Martin Krumbholz in seiner kurzen Notiz findet, souverän auf dem Grat zwischen Faszination für die Moderne und dem Sinn für Bewahrung der Tradition wandelnd. So befasst sich Reemtsma mit neueren Theorien zur Art, in der Metaphern Bedeutung erzeugen - etwa mit den Philosophen Richard Rorty und Donald Davidson -, betont im Gegenzug aber die Notwendigkeit, weiterhin auf die bewährte Kraft von Symbol und Metapher zu bauen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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