Was von den Verächtern der Gegenwartsgesellschaft als Dekadenz und Verfall begriffen wird, sehen die Verfechter dieser Gesellschaft als Fortschritt und Befreiung an. Beide Seiten sind nach Taylors Analyse im Irrtum.
Ohne Schwächen und negative Seiten unserer realen Situation zu verkennen, zeigt er, daß das, was den Verächtern wie Verfall erscheint, in Wirklichkeit nur die Schattenseiten eines im Grunde positiven Ideals der Authentizität sind, das jedoch im Gegensatz zur Meinung der Verfechter des gesellschaftlichen Status quo bei weitem nicht erfüllt ist.
Erst durch Einsicht in die wahren historischen Quellen des Ideals der Authentizität und durch Besinnung auf die darin angelegten Möglichkeiten zur Stärkung sozialer wie individueller Anlagen kann es gelingen, die selbstzerstörerischen Tendenzen der gesellschaftlichen Fragmentierung züi überwinden.
Ohne Schwächen und negative Seiten unserer realen Situation zu verkennen, zeigt er, daß das, was den Verächtern wie Verfall erscheint, in Wirklichkeit nur die Schattenseiten eines im Grunde positiven Ideals der Authentizität sind, das jedoch im Gegensatz zur Meinung der Verfechter des gesellschaftlichen Status quo bei weitem nicht erfüllt ist.
Erst durch Einsicht in die wahren historischen Quellen des Ideals der Authentizität und durch Besinnung auf die darin angelegten Möglichkeiten zur Stärkung sozialer wie individueller Anlagen kann es gelingen, die selbstzerstörerischen Tendenzen der gesellschaftlichen Fragmentierung züi überwinden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.1995Der Ehebruch als philosophische Konsequenz betrachtet
Charles Taylor erinnert an vergessene Reichtümer, doch seine philosophische Rettung der Gegenwart gelingt nicht ganz
Philosophie, so lautet ein berühmter, wenn auch inzwischen eher selten angeführter Satz Hegels, ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Das Zitat hat seine Popularität unter Theoretikern verloren, seit die Theorie ihre Hoffnung auf revolutionäre Praxis aufgeben mußte. Dabei hatte Hegel, als er seine These 1821 aufstellte, keineswegs zu ideenpolitischem Aktionismus auffordern wollen. Im Gegenteil: Wenn der Geist lediglich seine Zeit in Gedanken erfassen kann, so vermag er diese Zeit gerade nicht zu revolutionieren. Er bringt nur auf den Begriff und zu Bewußtsein, was in den bestehenden Verhältnissen unausgesprochen angelegt ist. Hegel hat mit dem Gegenwartsbezug der Philosophie, auf den sich fortan alle engagierten Intellektuellen berufen sollten, zugleich ihre Gegenwartsabhängigkeit demonstriert, an der jedes radikale Engagement scheitern mußte.
Das heißt freilich nicht, daß aus hegelianischer Sicht gar keine Kritik an der Gegenwart möglich wäre. Sie muß allerdings die Bedingungen der Gegenwart akzeptieren und die gegebene Realität daran messen, was sie zu sein vorgibt. Die Kritik an der Wirklichkeit muß gleichsam eine stellvertretende Selbstkritik der Wirklichkeit sein. Der kanadische Philosoph Charles Taylor, der vor zwanzig Jahren ein bedeutendes Buch über Hegel publiziert hat und dessen jüngstes Hauptwerk "Quellen des Selbst" (siehe F.A.Z. vom 4. Oktober 1994) das gleichfalls insgeheim hegelianische Unternehmen einer Rechtfertigung der Neuzeit durch Aufklärung über ihre ursprünglichen Beweggründe betreibt, versucht in "Das Unbehagen an der Moderne" eine solche dialektische Darstellung unserer Zeit.
Taylor geht von der verbreiteten Wahrnehmung sozialer und moralischer Zersplitterung aus. Der Individualismus zieht die Teilnahme der Menschen an den öffentlichen Angelegenheiten ebenso in Mitleidenschaft wie ihre Verläßlichkeit in persönlichen Beziehungen. Gemeinsinn und Treue schwinden. Taylor möchte diese Atomisierung weder, wie die Anwälte des Weiter-so-Liberalismus, für unbedenklich noch, wie die nostalgische Kulturkritik, für den Beweis erklären, daß die Moderne eben Teufelszeug sei. Er will das Verlangen nach Selbstverwirklichung vielmehr insofern retten, als er es auf ein anspruchsvolles und selbst philosophisch begründetes Ideal zurückführt, auf das Streben nach unverfälschtem Selbstsein, nach Echtheit und Eigentlichkeit, nach Authentizität.
Hinter den trivialen oder abstoßenden Erscheinungsformen des Narzißmus und der Bindungsunfähigkeit steht, so Taylor, jene Tendenz zur Selbstreflexion und zur Hochschätzung der Persönlichkeit, die das neuzeitliche Denken groß gemacht hat - von Descartes bis zu Rousseau und im Grunde schon seit Augustin. Sie muß nur aus dem Dunkel und der Entstellung der alltäglichen Ichsucht ans Licht des philosophischen Bewußtseins gehoben werden.
Die Anhänger der Selbstverwirklichung wollen freilich nichts davon wissen, daß sie unbemerkt einem höheren Gut nachstreben. Daß man sich zur Authentizität und damit auch zu ihren Degenerationsformen unter den Bedingungen der Moderne moralisch verpflichtet fühlt, entgeht ihnen ebenso wie ihren kulturkritischen Widersachern: "Das Resultat ist eine außerordentliche Inartikuliertheit mit Bezug auf eines der konstitutiven Ideale der modernen Kultur. Seine Gegner reden abschätzig darüber, während seine Freunde gar nicht davon sprechen können." So übersehen beide Seiten, daß in jedem Ehebruch eine Konsequenz aus mehreren Jahrhunderten Philosophie gezogen wird. Allerdings die falsche: Denn wenn der Egoismus der Gegenwart eigentlich eine Gestalt der epochalen Sorge um das Selbst ist, so muß der Egoist sich sagen lassen, daß sich dieses Selbst nur im Dialog mit anderen und vor dem Hintergrund objektiver Bedeutungen herausbildet. Wer nur an sich denkt, sägt am Ast, auf dem er sitzt.
Philosophische Anstrengungen, Schufte oder Dummköpfe durch die Darlegung der Selbstwidersprüchlichkeit ihres Verhaltens zur Räson zu bringen, haben immer etwas Mißliches. Unphilosophisch wie sie sind, lassen sich die Angesprochenen vom Nachweis ihrer Inkonsequenz nicht sonderlich beunruhigen. Doch Taylors Argumentation hat noch gravierendere Mängel als die absehbare Wirkungslosigkeit des Appells, auf den sie hinausläuft. Sein Opus magnum über die "Quellen des Selbst" war der imponierende Versuch gewesen, der Neuzeit insgesamt und zumal der Moderne, in der die Neuzeit gipfelt, die Fülle der Motive wieder zu vergegenwärtigen, aus denen sie einmal hervorgegangen waren. Taylor machte seinen Zeitgenossen einen Reichtum wieder zugänglich, den sie als Erbe besaßen, aber vergessen hatten.
Das Experiment jedoch, dieses Modell auf die Gegenwart im engsten Sinne zu übertragen und auch ihr, soweit sie durch das polemische Interesse der zeitgenössischen Zivilisationskritik definiert wird, das Bewußtsein eines besseren Selbst zu verschaffen, kann nicht gelingen. Authentizität mag ein hohes Gut sein. Aber ein einziges Gut macht noch keine Kultur; und wenn Taylors philosophische Anamnese am Alltagsegoisten immer nur den Willen zur Authentizität als verborgenen Beweggrund zutage fördert, dann bringt sie eben nicht, wie in den "Quellen des Selbst", einen geheimen Reichtum an den Tag, sondern nur noch einmal die längst bekannte Armut.
Es ist allerdings ohnehin zweifelhaft, ob sich der Zugang zu einer Zeit der Kreditkarten und des Telefonsex wirklich mit dem Schlüsselwort "Authentizität" finden läßt, das Taylor zwar nicht zum einzigen, aber doch zum einseitig dominierenden Leitbegriff seiner Analyse macht. Hegel hatte die bürgerliche Gesellschaft, die Gegenwart seiner Zeit also, durch das Widerspiel zwischen der Starre der objektivierten Institutionenwelt und der Freiheit des aufgeklärten Subjekts beschrieben. Das war eine wirklich dialektische Theorie gewesen, die den neuzeitlichen Gewinn an innerer Autonomie mit jener äußeren rationalen Kontrolle des Lebens in Verbindung gebracht hatte, für die Max Weber später das Wort vom "stahlharten Gehäuse" der Moderne prägen sollte.
Bei Taylor fehlt es an dieser Spannung zwischen dem Ich und seiner Welt. Die Gefahr einer Vorherrschaft der "instrumentellen Vernunft", der Wärterin des stahlharten Gehäuses, spielt nur eine unklare Nebenrolle und verblaßt neben dem übermächtigen Willen zum unentfremdeten Selbstsein. Man müßte sich aber wundern, wenn die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, undialektisch, nur mehr vom Hunger nach Authentizität getrieben wären. Sollte es jedoch so sein, dann könnten sie eben keinen Gegenstand dialektischer Reflexion mehr abgeben. Entweder also hat die Gegenwart in Charles Taylor ihren Hegel nur noch nicht gefunden, oder sie hat gar keinen Hegel verdient. JAN ROSS
Charles Taylor: "Das Unbehagen an der Moderne". Übersetzt von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 137 S., br., 16,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Charles Taylor erinnert an vergessene Reichtümer, doch seine philosophische Rettung der Gegenwart gelingt nicht ganz
Philosophie, so lautet ein berühmter, wenn auch inzwischen eher selten angeführter Satz Hegels, ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Das Zitat hat seine Popularität unter Theoretikern verloren, seit die Theorie ihre Hoffnung auf revolutionäre Praxis aufgeben mußte. Dabei hatte Hegel, als er seine These 1821 aufstellte, keineswegs zu ideenpolitischem Aktionismus auffordern wollen. Im Gegenteil: Wenn der Geist lediglich seine Zeit in Gedanken erfassen kann, so vermag er diese Zeit gerade nicht zu revolutionieren. Er bringt nur auf den Begriff und zu Bewußtsein, was in den bestehenden Verhältnissen unausgesprochen angelegt ist. Hegel hat mit dem Gegenwartsbezug der Philosophie, auf den sich fortan alle engagierten Intellektuellen berufen sollten, zugleich ihre Gegenwartsabhängigkeit demonstriert, an der jedes radikale Engagement scheitern mußte.
Das heißt freilich nicht, daß aus hegelianischer Sicht gar keine Kritik an der Gegenwart möglich wäre. Sie muß allerdings die Bedingungen der Gegenwart akzeptieren und die gegebene Realität daran messen, was sie zu sein vorgibt. Die Kritik an der Wirklichkeit muß gleichsam eine stellvertretende Selbstkritik der Wirklichkeit sein. Der kanadische Philosoph Charles Taylor, der vor zwanzig Jahren ein bedeutendes Buch über Hegel publiziert hat und dessen jüngstes Hauptwerk "Quellen des Selbst" (siehe F.A.Z. vom 4. Oktober 1994) das gleichfalls insgeheim hegelianische Unternehmen einer Rechtfertigung der Neuzeit durch Aufklärung über ihre ursprünglichen Beweggründe betreibt, versucht in "Das Unbehagen an der Moderne" eine solche dialektische Darstellung unserer Zeit.
Taylor geht von der verbreiteten Wahrnehmung sozialer und moralischer Zersplitterung aus. Der Individualismus zieht die Teilnahme der Menschen an den öffentlichen Angelegenheiten ebenso in Mitleidenschaft wie ihre Verläßlichkeit in persönlichen Beziehungen. Gemeinsinn und Treue schwinden. Taylor möchte diese Atomisierung weder, wie die Anwälte des Weiter-so-Liberalismus, für unbedenklich noch, wie die nostalgische Kulturkritik, für den Beweis erklären, daß die Moderne eben Teufelszeug sei. Er will das Verlangen nach Selbstverwirklichung vielmehr insofern retten, als er es auf ein anspruchsvolles und selbst philosophisch begründetes Ideal zurückführt, auf das Streben nach unverfälschtem Selbstsein, nach Echtheit und Eigentlichkeit, nach Authentizität.
Hinter den trivialen oder abstoßenden Erscheinungsformen des Narzißmus und der Bindungsunfähigkeit steht, so Taylor, jene Tendenz zur Selbstreflexion und zur Hochschätzung der Persönlichkeit, die das neuzeitliche Denken groß gemacht hat - von Descartes bis zu Rousseau und im Grunde schon seit Augustin. Sie muß nur aus dem Dunkel und der Entstellung der alltäglichen Ichsucht ans Licht des philosophischen Bewußtseins gehoben werden.
Die Anhänger der Selbstverwirklichung wollen freilich nichts davon wissen, daß sie unbemerkt einem höheren Gut nachstreben. Daß man sich zur Authentizität und damit auch zu ihren Degenerationsformen unter den Bedingungen der Moderne moralisch verpflichtet fühlt, entgeht ihnen ebenso wie ihren kulturkritischen Widersachern: "Das Resultat ist eine außerordentliche Inartikuliertheit mit Bezug auf eines der konstitutiven Ideale der modernen Kultur. Seine Gegner reden abschätzig darüber, während seine Freunde gar nicht davon sprechen können." So übersehen beide Seiten, daß in jedem Ehebruch eine Konsequenz aus mehreren Jahrhunderten Philosophie gezogen wird. Allerdings die falsche: Denn wenn der Egoismus der Gegenwart eigentlich eine Gestalt der epochalen Sorge um das Selbst ist, so muß der Egoist sich sagen lassen, daß sich dieses Selbst nur im Dialog mit anderen und vor dem Hintergrund objektiver Bedeutungen herausbildet. Wer nur an sich denkt, sägt am Ast, auf dem er sitzt.
Philosophische Anstrengungen, Schufte oder Dummköpfe durch die Darlegung der Selbstwidersprüchlichkeit ihres Verhaltens zur Räson zu bringen, haben immer etwas Mißliches. Unphilosophisch wie sie sind, lassen sich die Angesprochenen vom Nachweis ihrer Inkonsequenz nicht sonderlich beunruhigen. Doch Taylors Argumentation hat noch gravierendere Mängel als die absehbare Wirkungslosigkeit des Appells, auf den sie hinausläuft. Sein Opus magnum über die "Quellen des Selbst" war der imponierende Versuch gewesen, der Neuzeit insgesamt und zumal der Moderne, in der die Neuzeit gipfelt, die Fülle der Motive wieder zu vergegenwärtigen, aus denen sie einmal hervorgegangen waren. Taylor machte seinen Zeitgenossen einen Reichtum wieder zugänglich, den sie als Erbe besaßen, aber vergessen hatten.
Das Experiment jedoch, dieses Modell auf die Gegenwart im engsten Sinne zu übertragen und auch ihr, soweit sie durch das polemische Interesse der zeitgenössischen Zivilisationskritik definiert wird, das Bewußtsein eines besseren Selbst zu verschaffen, kann nicht gelingen. Authentizität mag ein hohes Gut sein. Aber ein einziges Gut macht noch keine Kultur; und wenn Taylors philosophische Anamnese am Alltagsegoisten immer nur den Willen zur Authentizität als verborgenen Beweggrund zutage fördert, dann bringt sie eben nicht, wie in den "Quellen des Selbst", einen geheimen Reichtum an den Tag, sondern nur noch einmal die längst bekannte Armut.
Es ist allerdings ohnehin zweifelhaft, ob sich der Zugang zu einer Zeit der Kreditkarten und des Telefonsex wirklich mit dem Schlüsselwort "Authentizität" finden läßt, das Taylor zwar nicht zum einzigen, aber doch zum einseitig dominierenden Leitbegriff seiner Analyse macht. Hegel hatte die bürgerliche Gesellschaft, die Gegenwart seiner Zeit also, durch das Widerspiel zwischen der Starre der objektivierten Institutionenwelt und der Freiheit des aufgeklärten Subjekts beschrieben. Das war eine wirklich dialektische Theorie gewesen, die den neuzeitlichen Gewinn an innerer Autonomie mit jener äußeren rationalen Kontrolle des Lebens in Verbindung gebracht hatte, für die Max Weber später das Wort vom "stahlharten Gehäuse" der Moderne prägen sollte.
Bei Taylor fehlt es an dieser Spannung zwischen dem Ich und seiner Welt. Die Gefahr einer Vorherrschaft der "instrumentellen Vernunft", der Wärterin des stahlharten Gehäuses, spielt nur eine unklare Nebenrolle und verblaßt neben dem übermächtigen Willen zum unentfremdeten Selbstsein. Man müßte sich aber wundern, wenn die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, undialektisch, nur mehr vom Hunger nach Authentizität getrieben wären. Sollte es jedoch so sein, dann könnten sie eben keinen Gegenstand dialektischer Reflexion mehr abgeben. Entweder also hat die Gegenwart in Charles Taylor ihren Hegel nur noch nicht gefunden, oder sie hat gar keinen Hegel verdient. JAN ROSS
Charles Taylor: "Das Unbehagen an der Moderne". Übersetzt von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 137 S., br., 16,80 DM.
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