In den letzten Jahrzehnten sind in den westlichen Gesellschaften die Freiheitsspielräume und Wahlmöglichkeiten bei der individuellen Lebensgestaltung enorm gewachsen. Im Zuge der Liberalisierung und Privatisierung wurden traditionelle Rollenvorgaben und gesellschaftliche Bindungen aufgelöst. Die alte Frage »Was darf ich tun?« ist abgelöst worden von der neuen Frage »Wozu bin ich fähig, was kann ich tun?«. Dadurch sehen sich die Menschen heute mit einer neuen Quelle des Leidens konfrontiert: ihrer Unfähigkeit, die Freiheitsspielräume und Wahlmöglichkeiten für ein gelingendes Leben zu nutzen. Eine rapide Zunahme narzißtischer Persönlichkeitsstörungen und depressiver Erkrankungen ist nach Alain Ehrenberg die Folge. In seiner monumentalen Studie verfolgt Ehrenberg diese Entwicklung und ihre diskursive Verarbeitung unter anderem anhand zweier großangelegter Fallstudien in Frankreich und den USA. Autonomie ist auf je spezifische Weise zum höchsten Wert dieser Gesellschaften geworden; zugleich kommt es in diesen Gesellschaften mit dem Scheitern am Ideal des selbstbestimmten Lebens zunehmend zu psychischen Pathologien. Diese individuellen Pathologien sind jedoch für Ehrenberg immer auch soziale Pathologien: Phänomene einer individualistischen und privatisierten, einer kranken Gesellschaft.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Als "gewichtigen Beitrag zum höchsten Wert westlicher Gesellschaften" preist Rezensentin Elisabeth von Thadden diese Studie des französischen Soziologen Alain Ehrenberg, der sich mit seiner großen Studie "Das erschöpfte Selbst" Ruhm erworben hat. Während er darin schilderte, wie das Individuum von der ihm auferlegten Autonomie überfordert ist und depressiv wird, versucht er nun, eine Politik zu begründen, die dennoch auf die individuelle Autonomie baut. Wie Thadden erklärt, orientiert sich Ehrenberg dabei an Amartya Sen und Axel Honneth, die das Individuum nicht nur als konstituierend für eine Marktökonomie betrachten, sondern als Ursprung und Grund für sinnvolles soziales Handeln. Geradezu brillant findet Thadden, wie Ehrenberg das Verhältnis von Individuum und Institution in Frankreich und den USA untersucht, groß auch, dass Ehrenberg das Leiden in Frankreich als sozial beschreibt. Die Datenbasis hätte sich die Rezensentin bei einer solche großen Studie allerdings etwas umfangreicher und belastbarer gewünscht. Und auch der deutsche Titel lehnt sich ihrer Ansicht nach zu sehr an Freuds "Unbehagen in der Kultur" an, worum es darum doch genau nicht geht, das französische Original heiße nämlich "La societe du malaise".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Zu den Glanzstücken des Buches gehört es, wie Ehrenberg in der amerikanischen Geistesgeschichte die Psychologie als demokratische Methode erfasst, die sich mit der puritanischen Auffassung verbindet, jeder einzelne Mensch sei eine Kirche für sich.« Elisabeth von Thadden DIE ZEIT 20110519
»Ehrenberg präsentiert sich mit seinem Buch Das Unnbehagen in der Gesellschaft als der wohl profundeste und aktuellste psychoanalytische Gegenwarts-Diagnostiker. Er zeigt auf, wie die individuellen Pathologien mit den gesellschaftlichen Transformationen der Arbeit und der Beziehungen verknüpft sind.«