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In den letzten Jahrzehnten sind in den westlichen Gesellschaften die Freiheitsspielräume und Wahlmöglichkeiten bei der individuellen Lebensgestaltung enorm gewachsen. Im Zuge der Liberalisierung und Privatisierung wurden traditionelle Rollenvorgaben und gesellschaftliche Bindungen aufgelöst. Die alte Frage »Was darf ich tun?« ist abgelöst worden von der neuen Frage »Wozu bin ich fähig, was kann ich tun?«. Dadurch sehen sich die Menschen heute mit einer neuen Quelle des Leidens konfrontiert: ihrer Unfähigkeit, die Freiheitsspielräume und Wahlmöglichkeiten für ein gelingendes Leben zu nutzen.…mehr

Produktbeschreibung
In den letzten Jahrzehnten sind in den westlichen Gesellschaften die Freiheitsspielräume und Wahlmöglichkeiten bei der individuellen Lebensgestaltung enorm gewachsen. Im Zuge der Liberalisierung und Privatisierung wurden traditionelle Rollenvorgaben und gesellschaftliche Bindungen aufgelöst. Die alte Frage »Was darf ich tun?« ist abgelöst worden von der neuen Frage »Wozu bin ich fähig, was kann ich tun?«. Dadurch sehen sich die Menschen heute mit einer neuen Quelle des Leidens konfrontiert: ihrer Unfähigkeit, die Freiheitsspielräume und Wahlmöglichkeiten für ein gelingendes Leben zu nutzen. Eine rapide Zunahme narzißtischer Persönlichkeitsstörungen und depressiver Erkrankungen ist nach Alain Ehrenberg die Folge. In seiner monumentalen Studie verfolgt Ehrenberg diese Entwicklung und ihre diskursive Verarbeitung unter anderem anhand zweier großangelegter Fallstudien in Frankreich und den USA. Autonomie ist auf je spezifische Weise zum höchsten Wert dieser Gesellschaften geworden; zugleich kommt es in diesen Gesellschaften mit dem Scheitern am Ideal des selbstbestimmten Lebens zunehmend zu psychischen Pathologien. Diese individuellen Pathologien sind jedoch für Ehrenberg immer auch soziale Pathologien: Phänomene einer individualistischen und privatisierten, einer kranken Gesellschaft.
Autorenporträt
Alain Ehrenberg, geboren 1950, ist Soziologe und emeritierter Forschungsdirektor am CNRS (Cermes3) in Paris. 2001 gründete er das Forschungszentrum für Pharmaka, psychische Gesundheit, Gesellschaft (CNRS-Inserm-Universität Paris-Descartes).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.05.2011

Der Zwang, ein Ich zu sein
Alain Ehrenberg erkundet das „Unbehagen in der Gesellschaft“
„Das Unbehagen in der Kultur“, französisch: „Le Malaise dans la culture“, heißt eines der berühmtesten Bücher Freuds, es ist der Titel, „den jeder französische Psychoanalytiker seinen eigenen Überlegungen zur Moderne zu geben wünscht“. Alain Ehrenberg, der das schreibt, ist Soziologe am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, auch er hat diesen Wunsch. So heißt sein neues Buch „La Société du malaise“, vom Übersetzer leicht zugespitzt: „Das Unbehagen in der Gesellschaft“. Und was ist das Neue an dem alten Unbehagen? Neu ist, dass es aus der Autonomie oder dem Autonomie-Ideal entspringt. Nicht mehr die Triebunterdrückung, die scharfe Regulierung des Menschen ist sein Problem, sondern die Selbstbestimmung. Selbstmächtigkeit und „Fähigkeit, in den meisten Lebenssituationen selbst zu handeln“, ist nicht nur ein Ideal, sie ist eine Norm, „weil sie zwingend ist“. Dieser Norm zu entsprechen ist nicht einfach, darin liegt der Keim eines neuen Unglücks.
Vor fünf Jahren veröffentlichte die amerikanische Journalistin Barbara Ehrenreich eine Großreportage „Qualifiziert und arbeitslos. Eine Irrfahrt durch die Bewerbungswüste“. Ihr fiel auf, in welchem Maße die moderne Arbeitswelt auf Gefühle, Suggestion, Ausstrahlung setzt, ganz persönliche Eigenschaften, neben denen sachliche Qualifikationen verblassen. Und damit eng zusammenhängend: Es ist kaum möglich, die eigenen Bedrängnisse als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Misere zu beschreiben. Zum Prinzip der Eigenverantwortung gehört es, alle Chancen im Ich zu suchen. Wem sich die nötigen Chancen nicht bieten, der findet im Ich allerdings nur noch die Gründe seines Elends, sein ganz persönliches Versagen.
Zielt auch Ehrenberg auf solche Befunde? Längst sind nicht mehr allein die Führungskräfte gefordert, eine optimistisch-erfolgsorientierte Persönlichkeit an den Tag zu legen. „Das ist der anscheinend neue und schockierende Punkt: Man verlangt von den Armen, dass sie sich wie jene Macher und Gewinner benehmen, die im Laufe der 1980er Jahre in der Landschaft Frankreichs auftauchten und eine Ideologie des gesellschaftlichen und sonstigen Erfolgs verkörperten.“
Das ist einer der wenigen Punkte, an dem Ehrenberg sich zum Zustand der Gesellschaft äußert (und auch hier geschieht es ja recht abstrakt). Er erforscht nicht, was das Arbeitsleben vom Beschäftigten erwartet, er bietet auch keine beispielhaften Krankengeschichten. Seine Neigung ist diskursanalytisch. Ehrenberg will die politischen und psychoanalytischen Debatten nachzeichnen, insofern sie um das neue Ideal der Autonomie und ihre Wirkung auf die psychische Gesundheit kreisen. Und ganz besonders beschäftigt ihn der Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem französischen Verständnis von Autonomie.
Französische und amerikanische Gesellschaft sind individualistisch, doch in Amerika ist der Begriff der Persönlichkeit eine Institution, die auch die Gesellschaftlichkeit konstituiert. Die Persönlichkeit oder das Selbst ist Subjekt der Konkurrenz, aber auch der Kooperation. „Persönlicher Erfolg und der Aufbau der Gesellschaft sind hier unzertrennlich.“ Frankreich dagegen neigt dazu, im Selbst eine Gefahr für öffentliche Institutionen zu sehen. Für den Amerikaner bedeutet Autonomie Chancen, für den Franzosen Schutz, wie der Staat ihn gewährt. Ehrenberg zitiert Émile Durkheim: „Der Staat war der Befreier des Individuums“, er löste es aus den Zwängen partikularer Gruppen wie Familie, Stadt, Zunft.
In den fünfziger und sechziger Jahren scheint in Amerika eine „äußerst wirksame Integration des Individuums in die Gesellschaft gelungen“, der leistungsbereite Mensch fühlt sich in der Gesellschaft anderer wohl. Doch aus dem Nachlassen der traditionellen Bindungen entwickelt sich ein neuer Typus von Autonomie und eine neue Gefahr. „Der religiöse Mensch lebte, um erlöst zu werden“, heißt es bei dem Soziologen Rieff, „der psychologische Mensch dagegen, um befriedigt zu werden.“ Der religiöse Mensch neigt zu Scham und Schuld, die ihre eigenen Neurosen hervorbringen, der psychologische zum Gefühl der Leere, zum Narzissmus. Amerika fürchtet, dass der Narzissmus Ich-Schwäche bedeutet, dass Narzissten ihre Pflichten der Gesellschaft und zuletzt auch sich selbst gegenüber vernachlässigen, zu Objekten staatlicher Wohlfahrt werden. Das ist, wie Ehrenberg meint, die alte amerikanische Sorge, die auch Tocqueville schon ausgesprochen hat, dass Gleichheit und Demokratie den Individualismus stärken und den Gemeinsinn schwächen.
Die französischen Analytiker schauen lieber auf das „neoliberale Unglück“. Sie sehen Patienten, für die der Anspruch der Autonomie vor allem einen Rückgang von Schutz und Sicherheit bedeuten, wie ihn Staat und andere Institutionen gewährten. Solche Patienten sind von Angst bedroht, sind leicht überfordert und oft schon nicht mehr imstande, selbst ein Hilfegesuch auszusprechen. Wer helfen will, als Psychologe, Analytiker, Sozialarbeiter, der muss sich ihnen geradezu aufnötigen. Narzissmus bedeutet in Amerika einen Mangel an Verantwortung, in Frankreich ein Übermaß – aus Schwächung der Institutionen.
Das allerdings heißt nicht, dass es uns heutigen schlechter ginge als früheren Generationen. Der Ton ewiger Klage missfällt Ehrenberg, aus einem Paradies seelischer Gesundheit sind wir nicht vertrieben worden, es wechselt nur der Charakter der Nöte. Und ob das, was die Kliniker gegenwärtig beobachten, eine Folge gesellschaftlicher Wandlungen im Zeichen des Neoliberalismus ist? Alain Ehrenberg notiert einen „massiven Konsens“, die gesellschaftliche Verursachung seelischer Pathologien betreffend, seine Referate der Forschungsbeiträge lassen diesen Konsens immer wieder hervortreten. Aber er selbst hält nicht viel davon: Der Versuch einzelner Strömungen der Psychoanalyse, „aus dem Sozialen etwas anderes zu machen als eine Verzierung, ist ein frommer Wunsch geblieben . . . eine Ansammlung starker Formulierungen, die sich auf französische individualistische Klischees stützen“.
An der Veränderung der seelischen Pathologien zweifelt aber auch er nicht. Kaum hat er die gängigen psychosozialen Überlegungen als dünn begründet angegriffen, spricht er selbst ganz ähnlich von den neuen Leiden der Arbeitswelt, die die Persönlichkeit übermäßig in Anspruch nehme. Dass hier oft „verschwommen“ geredet werde, stellt er mehrfach fest, ganz frei von diesem Einwand ist sein eigenes Buch auch nicht. Am Ende allerdings kehrt Ehrenberg zu seinem diskursanalytischen Verfahren zurück: Hat das Reden von der Autonomie eine gewisse Stärke erreicht, suchen die Menschen, diskursgelenkt, die Ursache ihres Leidens in sich.
STEPHAN SPEICHER
ALAIN EHRENBERG: Das Unbehagen in der Gesellschaft. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 531 Seiten, 29,90 Euro.
Der religiöse Mensch lebt, um
erlöst, der psychologische Mensch,
um befriedigt zu werden
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Als "gewichtigen Beitrag zum höchsten Wert westlicher Gesellschaften" preist Rezensentin Elisabeth von Thadden diese Studie des französischen Soziologen Alain Ehrenberg, der sich mit seiner großen Studie "Das erschöpfte Selbst" Ruhm erworben hat. Während er darin schilderte, wie das Individuum von der ihm auferlegten Autonomie überfordert ist und depressiv wird, versucht er nun, eine Politik zu begründen, die dennoch auf die individuelle Autonomie baut. Wie Thadden erklärt, orientiert sich Ehrenberg dabei an Amartya Sen und Axel Honneth, die das Individuum nicht nur als konstituierend für eine Marktökonomie betrachten, sondern als Ursprung und Grund für sinnvolles soziales Handeln. Geradezu brillant findet Thadden, wie Ehrenberg das Verhältnis von Individuum und Institution in Frankreich und den USA untersucht, groß auch, dass Ehrenberg das Leiden in Frankreich als sozial beschreibt. Die Datenbasis hätte sich die Rezensentin bei einer solche großen Studie allerdings etwas umfangreicher und belastbarer gewünscht. Und auch der deutsche Titel lehnt sich ihrer Ansicht nach zu sehr an Freuds "Unbehagen in der Kultur" an, worum es darum doch genau nicht geht, das französische Original heiße nämlich "La societe du malaise".

© Perlentaucher Medien GmbH
»Zu den Glanzstücken des Buches gehört es, wie Ehrenberg in der amerikanischen Geistesgeschichte die Psychologie als demokratische Methode erfasst, die sich mit der puritanischen Auffassung verbindet, jeder einzelne Mensch sei eine Kirche für sich.«
Elisabeth von Thadden, DIE ZEIT 19.05.2011
»Ehrenberg präsentiert sich mit seinem Buch Das Unnbehagen in der Gesellschaft als der wohl profundeste und aktuellste psychoanalytische Gegenwarts-Diagnostiker. Er zeigt auf, wie die individuellen Pathologien mit den gesellschaftlichen Transformationen der Arbeit und der Beziehungen verknüpft sind.«