Die fünfbändige Ausgabe mit Werken Erich Maria Remarques enthält frühe Romane, Kurzprosa und Gedichte, die zweite, aber Fragment gebliebene Fassung von Remarques letztem Roman, ein Theaterstück und ein Drehbuch, schließlich ausgewählte Briefe und Tagebücher. Sorgfältig ediert, kommentiert und mit Nachworten versehen, gibt sie den Remarque-Lesern die Chance, ihr Bild von diesem Autor zu erweitern und zu verändern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.1998Am besten was Neues
Zwei Biographien und Unbekanntes aus dem Werk: Bücher zu Erich Maria Remarques hundertstem Geburtstag · Von Harald Hartung
Die Kollegen - vor allem die berühmten - mochten ihn nicht, wie ihre Tagebücher verraten. Thomas Mann fragte sich, wem "die Palme der Minderwertigkeit" zu reichen sei: Zweig, Ludwig, Feuchtwanger oder Remarque. Noch boshafter Bertolt Brecht, der mit Thomas Mann nicht gern eine Meinung teilte. Nach einer Silvester-Gesellschaft 1941 schrieb er in sein Arbeitsjournal: "Hereintropft remarque mit einem mexikanischen hollywoodstar, lupe velez. r ist im smoking, sieht aus wie hanns heinz ewers, und irgendwas fehlt mir an seinem gesicht, wahrscheinlich ein monokel." Das war präzise Tücke, denn Ewers war Autor eines Horst-Wessel-Romans, und Remarque zeigte sich im Berlin der späten zwanziger Jahre gern mit Melone, Stock und Monokel.
Doch war der Verfasser von "Im Westen nichts Neues", der am 22. Juni 1898 geboren wurde, überhaupt ein Kollege? "Kein Schriftsteller von Beruf" - so hatte die "Vossische Zeitung", die den Roman im Vorabdruck brachte, den Autor annonciert und ihren Lesern einen einfachen Weltkriegsteilnehmer verkauft, der sich seine Fronterlebnisse vom Herzen geschrieben habe. Ullsteins Werbestrategen beuteten diese verkaufsfördernde Legende weiter aus. Der Autor hatte dabei mitgemacht und in Interviews den Nichtprofi gespielt, der das Buch nach Büroschluß, in ganzen sechs Wochen, geschrieben habe. Wer wußte schon, daß es, genaugenommen, sein vierter Roman war? Ullstein soll die Reste von Remarques Erstling "Die Traumbude" aufgekauft und vernichtet haben, der sentimentale Künstlerroman paßte nicht zum Image.
Der gigantische Erfolg des bisher Unbekannten ließ manchen daran zweifeln, daß Remarque seine Karriere würde fortsetzen können. Einem Scherzbold blieb es vorbehalten, die treffendste Formulierung für dieses Problem zu finden. Als die Welt sich fragte, was der Autor von "Im Westen nichts Neues" als nächstes liefern werde, soll er gesagt haben: "Am besten nichts Neues." Der Satz ist boshaft, aber nicht ohne Einsicht in die Situation.
In einem Selbstinterview von 1966 ("Größere und kleinere Ironien meines Lebens") spricht Remarque von dem Gefühl der Unwirklichkeit, das ihn nie verlassen habe: "Es kam durch den Erfolg meines ersten Buches. Ich fand ihn ganz außerhalb jeder Proportion. Er war es auch. Zum Glück wußte ich das immer. Es bewahrte mich vor Größenwahn; im Gegenteil: Ich wurde eher unsicher. Es gab ja keine Entwicklung. Ich war beispiellos hochgeschleudert worden und konnte eigentlich nur noch fallen. Ich selbst vergaß es nicht; es rettete mich, glaube ich. Ich zog mich zurück, glaubte meinen guten Kritiken nicht, dafür aber den schlechten, und arbeitete." Diese Einschätzung wird auch durch Remarques Tagebücher bestätigt.
Andererseits gibt es den Mythos Remarque, an dem sein Träger kräftig mitgewirkt hat. Die Öffentlichkeit sah ja nicht den selbstkritischen und oft unsicheren Arbeiter am Schreibtisch. Sie sah den gutaussehenden Welt- und Lebemann an der Seite der Hollywood-Stars Marlene Dietrich, Greta Garbo, Lupe Velez oder Paulette Goddard, sah den Liebhaber schneller Autos und teurer Spirituosen und meinte das rauschhafte Liebes-, Reise- und Trinkerleben in seinen Romanen und ihren Verfilmungen wiederzufinden.
Merkwürdig nur, daß dieser formidable Lebensroman die Biographen nicht früher gereizt hat. Es mochte vielleicht scheinen, daß ihnen nicht genug zu tun übrigbliebe. Daß die selbstquälerische Schriftstellerexistenz und das glanzvolle Elend des prominenten Liebhabers und Trinkers komplementäre Elemente waren, zeigen die beiden umfassenden Biographien, die zu Remarques hundertstem Geburtstag vorliegen. Die eine, bereits 1995 erschienen, kam auf Umwegen zustande. Die Amerikanerin Julie Gilbert wollte zunächst ein Buch über Paulette Goddard schreiben. Jetzt handelt ihre unterhaltsame "Biographie einer Liebe" von beiden Partnern, immerhin mit dem Effekt, daß der männliche Protagonist der Diva gelegentlich die Schau stiehlt.
Wilhelm von Sternburg, der eben eine intelligente und gut recherchierte Biographie Remarques vorlegt, spricht herablassend von Gilberts "ein wenig klatschsüchtigem Buch", darin weder das Werk noch die Zeit seines Helden den notwendigen Raum finde. Schon wahr. Aber so übel ist Gilberts Doppelbiographie nicht. Vor allem, wo sie dem schönen Originaltitel "Opposite Attraction" gerecht wird und die wechselseitige Anziehung von Gegensatz oder Wahlverwandtschaft schildert.
Paulettes Leben läuft gewissermaßen auf die Begegnung mit Remarque zu: Es ist die Story vom Ziegfeld-Girl, das zuerst einen Millionär ehelicht, dann Charlie Chaplin liebt und heiratet; die Geschichte der Aktrice, die die Rolle der Scarlett O'Hara an Vivien Leigh verliert, eine dritte Ehe eingeht und, als ihre Filmkarriere schon einen Abwärtsknick zeigt, in ihrer Ehe mit Remarque doch etwas wie Ruhe und Erfüllung findet.
Remarque überhäufte Paulette, wie Gilbert bemerkt, "mit Klunkern und Kunstwerken" mehr als jede andere seiner Frauen. Und Sternburg befindet lapidar: "Ein Glücksfall für Remarque." Beide Biographen sind sich darin einig, daß Paulette für den zunehmend hinfälliger werdenden Mann der Halt und Trost seines Alters war. Bei Remarque, der mehr noch als die Aktrice sein Leben stilisierte, können die Biographen manchen Motiven kaum ausweichen. Der Kriegsteilnehmer posiert mit Reitpeitsche und Schäferhund und in einer Leutnantsuniform, die ihm nicht zukommt. Der Sportjournalist der Berliner Zeit gibt sich gern als Elegant mit besagtem Monokel sowie einem für einige hundert Mark erworbenen Freiherrntitel auf der Visitenkarte. Aber das französisierende "Remarque" des Erich Paul Remark kann sich auf Vorfahren französischer Herkunft berufen - und wer wird sich an einem "Maria" stoßen, das einem großen Lyriker mit Snobattitüde und Adelstick entliehen sein mag?
Schließlich kommt es darauf an, wer hinter der Maske steckt. Analytisch zeigt sich Sternburg der Gilbert überlegen. Seine Biographie, die sich auf den Schriftsteller konzentriert und detailliert auf Werke und Werkgeschichte eingeht, nimmt auch den Zeitgenossen und politischen Menschen ernst. Remarque, dem das plötzliche Glück des Reichtums treu blieb, hat selbst in jenen mondänen und auch selbstzerstörerischen Eskapaden seiner mittleren Jahre eine unbedingte antinazistische Haltung eingenommen. Zwar hatte er seinerzeit erklärt, er sei "unpolitisch" und habe keine Lehre zu verkünden, aber Remarque betrachtete seine Tessiner Existenz bis 1939 und die amerikanischen Jahre als Exil - und seine Romane als politische Zeugnisse.
Als privilegierter Emigrant lebte Remarque - wie Sternburg formuliert - "sein Nacht- und Liebesleben für alle sichtbar aus". Diese Sichtbarkeit, die eine existentielle und politische Kompensation gewesen sein mag, legitimiert auch dessen ausführliche Erzählung. Hoch merkwürdig und spannend ist vor allem die Beziehung zu Marlene Dietrich, die ihn über Jahre in Atem hielt: nicht zuletzt weil er nur eine ihrer Affären war und Marlenes Gefolge, mit dem sie herumzog, mit in Kauf nehmen mußte. Die turbulente Zeit mit dem "Puma", wie er die Dietrich nannte, brachte Remarque an den Rand des Ruins. Masochismus und Selbsterhaltungsversuche wechselten miteinander ab, wie seine Tagebücher zeigen. "Ich lache u. mein Leben geht vielleicht kaputt", heißt es einmal. Aber dann siegt die Lebenstapferkeit, und der Pazifist Remarque ruft sich zu: "Arbeite, Soldat, vergiß und arbeite!"
Ohne diese hochinteressanten und anrührenden Tagebücher wüßte man nicht allzuviel über Remarques inneres Leben, fehlte beiden Biographien einiges an Substanz. Vor allem Julie Gilbert zitiert aus ihnen geradezu exzessiv. Anders gesagt: wer sich an die Tagebücher hält, bekommt vor allem für die Jahre 1935 bis 1955 eine authentische Innenansicht des Autors. Nachzulesen sind sie jetzt in dem Band "Briefe und Tagebücher", fünfter Band einer Kassette, die uns das sogenannte "Unbekannte Werk" präsentiert. Was die Tagebücher angeht, haben wir es freilich nur mit gut zehn Prozent des Gesamtmaterials von rund dreitausend Seiten zu tun.
Betrüblicher ist die Knappheit der Briefauswahl. Vieles stand aber nicht zur Verfügung. So fehlen die fünfhundert Korrespondenzstücke aus dem Nachlaß Paulette Goddards oder die Briefe von und an Marlene Dietrich - bis auf einen aus dem Jahr 1940. Da heißt es: "Ich habe den Puma als fauchende Tigerkatze gesehen, ja als widerspenstige Xanthippe, deren lange Krallen sich meinem Gesicht näherten." Immerhin soll die Korrespondenz mit der Dietrich anno 2001 erscheinen. Wir fassen uns in Geduld.
Mehr als Geduld, nämlich spezielles Interesse, benötigt man für die anderen Bände des "Unbekannten Werks". Das wissen auch die fleißigen und zuverlässigen Editoren. Sie äußern sich doch sehr salomonisch, wenn sie sagen, die Frage nach dem "literarischen Wert" - sie setzen tatsächlich Anführungszeichen - habe jeder Leser selbst zu beantworten. Nun denn. Was ist mit den drei frühen Romanen?
"Kein Fall für die Literaturgeschichte", befindet der passionierte Biograph Sternburg zu "Station am Horizont" (1927), darin ein mondänes Männerleben zwischen Casinos, Rennstrecken und drei Frauen ausgebreitet wird. Der Erstling "Die Traumbude" (1920), ein reichlich sentimentaler Künstlerroman, ist allenfalls biographisch interessant: Der junge Autor wollte darin seinem früh verstorbenen Mentor Fritz Hörstemeier ein Denkmal setzen. Für den bislang unpublizierten Roman "Gam" (1924) könnte allenfalls sprechen, daß dies Remarques einziges Werk mit einer weiblichen Hauptfigur ist. Immerhin verwendet der Autor einige Figurennamen bis hin zu seinem letzten Roman "Das gelobte Land" und verwahrte das Typoskript bis zu seinem Tode in einer Mappe.
Der späte Roman "Das gelobte Land" wiederum ist philologische Rekonstruktion: seriöse Fassung eines frechen Fake. Nach des Autors Tod hatte der Droemer Verlag 1971 als Schnellschuß "einen letzten großen Remarque" unter dem Titel "Schatten im Paradies" präsentiert. An dessen fertigem Manuskript habe der Autor noch am Abend seines Todes korrigiert, so die Legende des Verlags. Was unter dem nicht autorisierten Titel erschien, war offenbar aus den nachgelassenen Manuskriptstapeln für eine Publikation zurechtredigiert und als vollendeter Roman verkauft worden. Die Edition von "Das gelobte Land" hebt dagegen den fragmentarischen Charakter des nachgelassenen Textes hervor. Das Romanende, die Rückkehr des Emigranten Sommer nach Deutschland, ist nur in Notizen skizziert. Die Editoren haben das in unterschiedlichen Zuständen vorliegende Material zu einem kohärenten Lesetext zusammengefaßt. Sie konzedieren aber, daß "Schatten im Paradies" als "Remarque-Roman" weiter seine Leser findet. "Die Rezeptionsgeschichte ist nicht nachträglich zu revidieren", sagen sie resignierend - oder weise.
Wenn der Leser eine Täuschung schätzen darf, um wieviel mehr hat er das Recht, sich aus dem üppigen Bestand des "unbekannten" Remarque herauszusuchen, was noch interessieren kann. So aus den Bänden mit Drehbüchern und Prosastücken. Ich nenne hier nur den einen zu Lebzeiten nicht publizierten Text "Praktische Erziehungsarbeit in Deutschland nach dem Krieg". Remarque schrieb ihn 1944 für das amerikanische Office of Strategic Services. Da steht manches, was zum Glück für die deutsche Demokratie realisiert worden ist. Aber auch einiges, was stets aktuell bleibt. Etwa: "Um die Kinder zu erziehen, muß man die Lehrer erziehen." Wer hätte Remarque für einen Pädagogen gehalten?
Erich Maria Remarque: "Das unbekannte Werk". Frühe Prosa, Werke aus dem Nachlaß, Briefe und Tagebücher. Hrsg. von Thomas F. Schneider und Tilman Westphalen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 5 Bde., ca. 2600 S., geb., 298,- DM.
Julie Gilbert: "Erich Maria Remarque und Paulette Goddard". List Verlag, München 1998. 696 S., geb., 68,- DM.
Wilhelm von Sternburg: ",Als wäre alles das letzte Mal'. Erich Maria Remarque. Eine Biographie". Kiepenheuer&Witsch, Köln 1998. 512 S., geb., 49,80 DM.
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Zwei Biographien und Unbekanntes aus dem Werk: Bücher zu Erich Maria Remarques hundertstem Geburtstag · Von Harald Hartung
Die Kollegen - vor allem die berühmten - mochten ihn nicht, wie ihre Tagebücher verraten. Thomas Mann fragte sich, wem "die Palme der Minderwertigkeit" zu reichen sei: Zweig, Ludwig, Feuchtwanger oder Remarque. Noch boshafter Bertolt Brecht, der mit Thomas Mann nicht gern eine Meinung teilte. Nach einer Silvester-Gesellschaft 1941 schrieb er in sein Arbeitsjournal: "Hereintropft remarque mit einem mexikanischen hollywoodstar, lupe velez. r ist im smoking, sieht aus wie hanns heinz ewers, und irgendwas fehlt mir an seinem gesicht, wahrscheinlich ein monokel." Das war präzise Tücke, denn Ewers war Autor eines Horst-Wessel-Romans, und Remarque zeigte sich im Berlin der späten zwanziger Jahre gern mit Melone, Stock und Monokel.
Doch war der Verfasser von "Im Westen nichts Neues", der am 22. Juni 1898 geboren wurde, überhaupt ein Kollege? "Kein Schriftsteller von Beruf" - so hatte die "Vossische Zeitung", die den Roman im Vorabdruck brachte, den Autor annonciert und ihren Lesern einen einfachen Weltkriegsteilnehmer verkauft, der sich seine Fronterlebnisse vom Herzen geschrieben habe. Ullsteins Werbestrategen beuteten diese verkaufsfördernde Legende weiter aus. Der Autor hatte dabei mitgemacht und in Interviews den Nichtprofi gespielt, der das Buch nach Büroschluß, in ganzen sechs Wochen, geschrieben habe. Wer wußte schon, daß es, genaugenommen, sein vierter Roman war? Ullstein soll die Reste von Remarques Erstling "Die Traumbude" aufgekauft und vernichtet haben, der sentimentale Künstlerroman paßte nicht zum Image.
Der gigantische Erfolg des bisher Unbekannten ließ manchen daran zweifeln, daß Remarque seine Karriere würde fortsetzen können. Einem Scherzbold blieb es vorbehalten, die treffendste Formulierung für dieses Problem zu finden. Als die Welt sich fragte, was der Autor von "Im Westen nichts Neues" als nächstes liefern werde, soll er gesagt haben: "Am besten nichts Neues." Der Satz ist boshaft, aber nicht ohne Einsicht in die Situation.
In einem Selbstinterview von 1966 ("Größere und kleinere Ironien meines Lebens") spricht Remarque von dem Gefühl der Unwirklichkeit, das ihn nie verlassen habe: "Es kam durch den Erfolg meines ersten Buches. Ich fand ihn ganz außerhalb jeder Proportion. Er war es auch. Zum Glück wußte ich das immer. Es bewahrte mich vor Größenwahn; im Gegenteil: Ich wurde eher unsicher. Es gab ja keine Entwicklung. Ich war beispiellos hochgeschleudert worden und konnte eigentlich nur noch fallen. Ich selbst vergaß es nicht; es rettete mich, glaube ich. Ich zog mich zurück, glaubte meinen guten Kritiken nicht, dafür aber den schlechten, und arbeitete." Diese Einschätzung wird auch durch Remarques Tagebücher bestätigt.
Andererseits gibt es den Mythos Remarque, an dem sein Träger kräftig mitgewirkt hat. Die Öffentlichkeit sah ja nicht den selbstkritischen und oft unsicheren Arbeiter am Schreibtisch. Sie sah den gutaussehenden Welt- und Lebemann an der Seite der Hollywood-Stars Marlene Dietrich, Greta Garbo, Lupe Velez oder Paulette Goddard, sah den Liebhaber schneller Autos und teurer Spirituosen und meinte das rauschhafte Liebes-, Reise- und Trinkerleben in seinen Romanen und ihren Verfilmungen wiederzufinden.
Merkwürdig nur, daß dieser formidable Lebensroman die Biographen nicht früher gereizt hat. Es mochte vielleicht scheinen, daß ihnen nicht genug zu tun übrigbliebe. Daß die selbstquälerische Schriftstellerexistenz und das glanzvolle Elend des prominenten Liebhabers und Trinkers komplementäre Elemente waren, zeigen die beiden umfassenden Biographien, die zu Remarques hundertstem Geburtstag vorliegen. Die eine, bereits 1995 erschienen, kam auf Umwegen zustande. Die Amerikanerin Julie Gilbert wollte zunächst ein Buch über Paulette Goddard schreiben. Jetzt handelt ihre unterhaltsame "Biographie einer Liebe" von beiden Partnern, immerhin mit dem Effekt, daß der männliche Protagonist der Diva gelegentlich die Schau stiehlt.
Wilhelm von Sternburg, der eben eine intelligente und gut recherchierte Biographie Remarques vorlegt, spricht herablassend von Gilberts "ein wenig klatschsüchtigem Buch", darin weder das Werk noch die Zeit seines Helden den notwendigen Raum finde. Schon wahr. Aber so übel ist Gilberts Doppelbiographie nicht. Vor allem, wo sie dem schönen Originaltitel "Opposite Attraction" gerecht wird und die wechselseitige Anziehung von Gegensatz oder Wahlverwandtschaft schildert.
Paulettes Leben läuft gewissermaßen auf die Begegnung mit Remarque zu: Es ist die Story vom Ziegfeld-Girl, das zuerst einen Millionär ehelicht, dann Charlie Chaplin liebt und heiratet; die Geschichte der Aktrice, die die Rolle der Scarlett O'Hara an Vivien Leigh verliert, eine dritte Ehe eingeht und, als ihre Filmkarriere schon einen Abwärtsknick zeigt, in ihrer Ehe mit Remarque doch etwas wie Ruhe und Erfüllung findet.
Remarque überhäufte Paulette, wie Gilbert bemerkt, "mit Klunkern und Kunstwerken" mehr als jede andere seiner Frauen. Und Sternburg befindet lapidar: "Ein Glücksfall für Remarque." Beide Biographen sind sich darin einig, daß Paulette für den zunehmend hinfälliger werdenden Mann der Halt und Trost seines Alters war. Bei Remarque, der mehr noch als die Aktrice sein Leben stilisierte, können die Biographen manchen Motiven kaum ausweichen. Der Kriegsteilnehmer posiert mit Reitpeitsche und Schäferhund und in einer Leutnantsuniform, die ihm nicht zukommt. Der Sportjournalist der Berliner Zeit gibt sich gern als Elegant mit besagtem Monokel sowie einem für einige hundert Mark erworbenen Freiherrntitel auf der Visitenkarte. Aber das französisierende "Remarque" des Erich Paul Remark kann sich auf Vorfahren französischer Herkunft berufen - und wer wird sich an einem "Maria" stoßen, das einem großen Lyriker mit Snobattitüde und Adelstick entliehen sein mag?
Schließlich kommt es darauf an, wer hinter der Maske steckt. Analytisch zeigt sich Sternburg der Gilbert überlegen. Seine Biographie, die sich auf den Schriftsteller konzentriert und detailliert auf Werke und Werkgeschichte eingeht, nimmt auch den Zeitgenossen und politischen Menschen ernst. Remarque, dem das plötzliche Glück des Reichtums treu blieb, hat selbst in jenen mondänen und auch selbstzerstörerischen Eskapaden seiner mittleren Jahre eine unbedingte antinazistische Haltung eingenommen. Zwar hatte er seinerzeit erklärt, er sei "unpolitisch" und habe keine Lehre zu verkünden, aber Remarque betrachtete seine Tessiner Existenz bis 1939 und die amerikanischen Jahre als Exil - und seine Romane als politische Zeugnisse.
Als privilegierter Emigrant lebte Remarque - wie Sternburg formuliert - "sein Nacht- und Liebesleben für alle sichtbar aus". Diese Sichtbarkeit, die eine existentielle und politische Kompensation gewesen sein mag, legitimiert auch dessen ausführliche Erzählung. Hoch merkwürdig und spannend ist vor allem die Beziehung zu Marlene Dietrich, die ihn über Jahre in Atem hielt: nicht zuletzt weil er nur eine ihrer Affären war und Marlenes Gefolge, mit dem sie herumzog, mit in Kauf nehmen mußte. Die turbulente Zeit mit dem "Puma", wie er die Dietrich nannte, brachte Remarque an den Rand des Ruins. Masochismus und Selbsterhaltungsversuche wechselten miteinander ab, wie seine Tagebücher zeigen. "Ich lache u. mein Leben geht vielleicht kaputt", heißt es einmal. Aber dann siegt die Lebenstapferkeit, und der Pazifist Remarque ruft sich zu: "Arbeite, Soldat, vergiß und arbeite!"
Ohne diese hochinteressanten und anrührenden Tagebücher wüßte man nicht allzuviel über Remarques inneres Leben, fehlte beiden Biographien einiges an Substanz. Vor allem Julie Gilbert zitiert aus ihnen geradezu exzessiv. Anders gesagt: wer sich an die Tagebücher hält, bekommt vor allem für die Jahre 1935 bis 1955 eine authentische Innenansicht des Autors. Nachzulesen sind sie jetzt in dem Band "Briefe und Tagebücher", fünfter Band einer Kassette, die uns das sogenannte "Unbekannte Werk" präsentiert. Was die Tagebücher angeht, haben wir es freilich nur mit gut zehn Prozent des Gesamtmaterials von rund dreitausend Seiten zu tun.
Betrüblicher ist die Knappheit der Briefauswahl. Vieles stand aber nicht zur Verfügung. So fehlen die fünfhundert Korrespondenzstücke aus dem Nachlaß Paulette Goddards oder die Briefe von und an Marlene Dietrich - bis auf einen aus dem Jahr 1940. Da heißt es: "Ich habe den Puma als fauchende Tigerkatze gesehen, ja als widerspenstige Xanthippe, deren lange Krallen sich meinem Gesicht näherten." Immerhin soll die Korrespondenz mit der Dietrich anno 2001 erscheinen. Wir fassen uns in Geduld.
Mehr als Geduld, nämlich spezielles Interesse, benötigt man für die anderen Bände des "Unbekannten Werks". Das wissen auch die fleißigen und zuverlässigen Editoren. Sie äußern sich doch sehr salomonisch, wenn sie sagen, die Frage nach dem "literarischen Wert" - sie setzen tatsächlich Anführungszeichen - habe jeder Leser selbst zu beantworten. Nun denn. Was ist mit den drei frühen Romanen?
"Kein Fall für die Literaturgeschichte", befindet der passionierte Biograph Sternburg zu "Station am Horizont" (1927), darin ein mondänes Männerleben zwischen Casinos, Rennstrecken und drei Frauen ausgebreitet wird. Der Erstling "Die Traumbude" (1920), ein reichlich sentimentaler Künstlerroman, ist allenfalls biographisch interessant: Der junge Autor wollte darin seinem früh verstorbenen Mentor Fritz Hörstemeier ein Denkmal setzen. Für den bislang unpublizierten Roman "Gam" (1924) könnte allenfalls sprechen, daß dies Remarques einziges Werk mit einer weiblichen Hauptfigur ist. Immerhin verwendet der Autor einige Figurennamen bis hin zu seinem letzten Roman "Das gelobte Land" und verwahrte das Typoskript bis zu seinem Tode in einer Mappe.
Der späte Roman "Das gelobte Land" wiederum ist philologische Rekonstruktion: seriöse Fassung eines frechen Fake. Nach des Autors Tod hatte der Droemer Verlag 1971 als Schnellschuß "einen letzten großen Remarque" unter dem Titel "Schatten im Paradies" präsentiert. An dessen fertigem Manuskript habe der Autor noch am Abend seines Todes korrigiert, so die Legende des Verlags. Was unter dem nicht autorisierten Titel erschien, war offenbar aus den nachgelassenen Manuskriptstapeln für eine Publikation zurechtredigiert und als vollendeter Roman verkauft worden. Die Edition von "Das gelobte Land" hebt dagegen den fragmentarischen Charakter des nachgelassenen Textes hervor. Das Romanende, die Rückkehr des Emigranten Sommer nach Deutschland, ist nur in Notizen skizziert. Die Editoren haben das in unterschiedlichen Zuständen vorliegende Material zu einem kohärenten Lesetext zusammengefaßt. Sie konzedieren aber, daß "Schatten im Paradies" als "Remarque-Roman" weiter seine Leser findet. "Die Rezeptionsgeschichte ist nicht nachträglich zu revidieren", sagen sie resignierend - oder weise.
Wenn der Leser eine Täuschung schätzen darf, um wieviel mehr hat er das Recht, sich aus dem üppigen Bestand des "unbekannten" Remarque herauszusuchen, was noch interessieren kann. So aus den Bänden mit Drehbüchern und Prosastücken. Ich nenne hier nur den einen zu Lebzeiten nicht publizierten Text "Praktische Erziehungsarbeit in Deutschland nach dem Krieg". Remarque schrieb ihn 1944 für das amerikanische Office of Strategic Services. Da steht manches, was zum Glück für die deutsche Demokratie realisiert worden ist. Aber auch einiges, was stets aktuell bleibt. Etwa: "Um die Kinder zu erziehen, muß man die Lehrer erziehen." Wer hätte Remarque für einen Pädagogen gehalten?
Erich Maria Remarque: "Das unbekannte Werk". Frühe Prosa, Werke aus dem Nachlaß, Briefe und Tagebücher. Hrsg. von Thomas F. Schneider und Tilman Westphalen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 5 Bde., ca. 2600 S., geb., 298,- DM.
Julie Gilbert: "Erich Maria Remarque und Paulette Goddard". List Verlag, München 1998. 696 S., geb., 68,- DM.
Wilhelm von Sternburg: ",Als wäre alles das letzte Mal'. Erich Maria Remarque. Eine Biographie". Kiepenheuer&Witsch, Köln 1998. 512 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main