Die Geschichte der Integration Europas in der Moderne kann sich nicht darin erschöpfen, deren letzte, wesentliche Phase nachzuzeichnen, die schrittweise Einigung von der Montanunion bis zur Europäischen Union. Es ist vielmehr angemessen, Integrationsprozesse unter dem Einfluss der gewaltigen Umwälzungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert geschichtswissenschaftlich zu erläutern und damit eine historisch umfassendere Betrachtungsweise als üblich zugrunde zu legen. Sie konzentriert sich zum einen auf die Dynamik einer beschleunigten Verflechtung in Europa am Beispiel wichtiger Integrationsfelder seit der Aufklärung. Zum anderen konzentriert sie sich auf die Frage, wie sich bei den nationalstaatlich geprägten Regierungen in Europa das Interesse an engerer Zusammenarbeit und an dauerhaft geregelter Integration durchsetzte. Integration in Europa war kein Prozess stetigen Fortschreitens, sondern wurde oft von Rivalität, Gewalt und Kriegen überlagert. Dennoch wirkten die neuen integrativen Antriebskräfte: moderne Kommunikation; das Bedürfnis nach Sicherheit und stabiler internationaler Ordnung; Recht, Menschenwürde und sich angleichende Prinzipien des nationalen Verfassungsstaates; Wissenschaft, Technik und Industriegesellschaft - und vor allem die Wirtschaft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2006Vielheit und Unterschiede
Der Integrationsprozeß Europas vom 18. Jahrhundert bis zur EU
Wenn wir von Europa sprechen, dann haben wir die europäische Einheit als Ziel aller politischen und intellektuellen Anstrengungen vor Augen - einen ganz neuen Zustand, eine neue gemeinsame Lebensweise, zu deren Verwirklichung bereits eindrucksvolle Integrationsleistungen erbracht worden sind, deren Vollendung aber noch aussteht. Peter Krüger hingegen geht es nicht um die Finalität, sondern vielmehr um die Klärung der Frage, ob wir Europa nicht endgültig als den permanenten und unentbehrlichen Einsatz der Europäer für die Wahrung und den stets erforderlichen, immer neuen Zuschnitt jener Einheit und Gemeinsamkeit ansehen sollen, die von Anfang an die Voraussetzung der gemeinsamen europäischen Geschichte bildete. Dabei räumt der Verfasser ein, daß der politische Wille zur Einigung und die damit verbundene politisch-gesellschaftliche Breitenwirkung heute neue Dimensionen erreicht haben.
Das Europa von heute ist somit eines, das noch keine förmliche Verfassung hat, dessen Staaten aber doch im Zuge des Integrationsprozesses auf den Menschen- und Bürgerrechten gegründete verfassungsmäßige Ordnungssysteme in weitreichenden Politikfeldern entwickelt haben und sich der Vorteile gemeinsamer Problemlösungen und politisch-rechtlicher Grundprinzipien bewußt sind, ohne die eigene Identität und Unterschiedlichkeit aufzugeben. Die entscheidende Leistung liegt in der Vertiefung und Verstetigung solcher Ansätze durch "dauerhafte, bindende Gestaltung und die Schaffung supranationaler Einrichtungen" zumindest auf bestimmten Gebieten - von den fundamentalen Prinzipien der vier Freiheiten des Binnenmarktes über die verfassungspolitisch zunehmend relevantere Frage der sozial- und gesellschaftspolitischen Integration (Ausgleich zwischen armen und reichen Regionen, Verbesserung der Lebensbedingungen in jeder Hinsicht, Minderheitenschutz, Umweltpolitik) bis hin zur gemeinsamen Währung und der Bündelung von Gemeinschaftsaufgaben im Bereich der inneren Sicherheit. Diese Entwicklung verlangt(e) einerseits geradezu nach Vollendung und einer Verfassung, impliziert dann auch die parlamentarisch-demokratische Unterstützung und Kontrolle sowie die Vielgestaltigkeit Europas.
Der Ruf nach Verantwortlichkeit vor dem Europäischen Parlament (EP) verschärft jedoch das Problem nur und vermag nach Ansicht des Verfassers "das ganze komplexe politische System der EU zu zerstören". In der Tat gilt: Solange die EU eine auf völkerrechtlichen Verträgen beruhende Staatengemeinschaft - oder mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts auch Staatenverbund - souveräner Staaten ist, ist das EP der falsche Adressat. Parlamentarische Verantwortlichkeit und demokratische Mitgestaltung sind nur über die nationalen Parlamente und deren verpflichtende Einbeziehung möglich. Die Forderung nach öffentlicher Sitzung des Rates und vor allem des Europäischen Rates hat nichts mit Demokratisierung zu tun und würde das Funktionieren der europäischen Institutionen eher gefährden. Viel entscheidender ist die von Krüger angemahnte Gefahr einer zunehmend unkontrollierbaren Eigendynamik der Vereinheitlichung Europas, gestärkt und befördert durch den rechtlich untermauerten Anspruch, daß alles, was die Integration beeinträchtigen könnte, möglichst in den Kompetenzbereich der Union falle.
Diese Vereinheitlichung beziehungsweise Rationalisierung hat heute einen Grad erreicht, daß das zu verschwimmen droht, was Europa gerade vermeintlich anstrebt: eine politische Identität. Effizienz und Vielgestaltigkeit sind gerade im Falle Europas keine Gegensätze, sondern die Voraussetzung für diese Identität, ein durchrationalisiertes, zwar funktionierendes, aber uniformes Europa ist jedoch der Weg in die räumliche wie kulturelle Beliebigkeit - "eine Provinz im Reich der Globalisierung". Krügers kluges Plädoyer lautet daher: keine hektische, krampfhafte Suche nach europäischer Identität, sondern wirkliches Selbstbewußtsein als Selbstverständnis. Dies heißt: kritische Auseinandersetzung mit der europäischen Vergangenheit, damit die aus den Grundwerten der Freiheit, Autonomie und Toleranz heraus beschworene Vielfalt verständlich wird - was wiederum die Voraussetzung ist für das Funktionieren des europäischen Institutionengefüges auf der Basis der streitbaren Gemeinsamkeit, des Disputs als Kommunikation und Bindung auch bei unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten. Es komme darauf an, "in seiner Verfaßtheit nicht mehr nur die Einheit und Vereinheitlichung Europas, sondern dabei ganz dezidiert zugleich die Bewahrung von Vielfalt und Unterschieden zum zentralen Ziel der europäischen Integration" zu machen.
STEFAN FRÖHLICH
Peter Krüger: Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2006. 390 S., 29,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Integrationsprozeß Europas vom 18. Jahrhundert bis zur EU
Wenn wir von Europa sprechen, dann haben wir die europäische Einheit als Ziel aller politischen und intellektuellen Anstrengungen vor Augen - einen ganz neuen Zustand, eine neue gemeinsame Lebensweise, zu deren Verwirklichung bereits eindrucksvolle Integrationsleistungen erbracht worden sind, deren Vollendung aber noch aussteht. Peter Krüger hingegen geht es nicht um die Finalität, sondern vielmehr um die Klärung der Frage, ob wir Europa nicht endgültig als den permanenten und unentbehrlichen Einsatz der Europäer für die Wahrung und den stets erforderlichen, immer neuen Zuschnitt jener Einheit und Gemeinsamkeit ansehen sollen, die von Anfang an die Voraussetzung der gemeinsamen europäischen Geschichte bildete. Dabei räumt der Verfasser ein, daß der politische Wille zur Einigung und die damit verbundene politisch-gesellschaftliche Breitenwirkung heute neue Dimensionen erreicht haben.
Das Europa von heute ist somit eines, das noch keine förmliche Verfassung hat, dessen Staaten aber doch im Zuge des Integrationsprozesses auf den Menschen- und Bürgerrechten gegründete verfassungsmäßige Ordnungssysteme in weitreichenden Politikfeldern entwickelt haben und sich der Vorteile gemeinsamer Problemlösungen und politisch-rechtlicher Grundprinzipien bewußt sind, ohne die eigene Identität und Unterschiedlichkeit aufzugeben. Die entscheidende Leistung liegt in der Vertiefung und Verstetigung solcher Ansätze durch "dauerhafte, bindende Gestaltung und die Schaffung supranationaler Einrichtungen" zumindest auf bestimmten Gebieten - von den fundamentalen Prinzipien der vier Freiheiten des Binnenmarktes über die verfassungspolitisch zunehmend relevantere Frage der sozial- und gesellschaftspolitischen Integration (Ausgleich zwischen armen und reichen Regionen, Verbesserung der Lebensbedingungen in jeder Hinsicht, Minderheitenschutz, Umweltpolitik) bis hin zur gemeinsamen Währung und der Bündelung von Gemeinschaftsaufgaben im Bereich der inneren Sicherheit. Diese Entwicklung verlangt(e) einerseits geradezu nach Vollendung und einer Verfassung, impliziert dann auch die parlamentarisch-demokratische Unterstützung und Kontrolle sowie die Vielgestaltigkeit Europas.
Der Ruf nach Verantwortlichkeit vor dem Europäischen Parlament (EP) verschärft jedoch das Problem nur und vermag nach Ansicht des Verfassers "das ganze komplexe politische System der EU zu zerstören". In der Tat gilt: Solange die EU eine auf völkerrechtlichen Verträgen beruhende Staatengemeinschaft - oder mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts auch Staatenverbund - souveräner Staaten ist, ist das EP der falsche Adressat. Parlamentarische Verantwortlichkeit und demokratische Mitgestaltung sind nur über die nationalen Parlamente und deren verpflichtende Einbeziehung möglich. Die Forderung nach öffentlicher Sitzung des Rates und vor allem des Europäischen Rates hat nichts mit Demokratisierung zu tun und würde das Funktionieren der europäischen Institutionen eher gefährden. Viel entscheidender ist die von Krüger angemahnte Gefahr einer zunehmend unkontrollierbaren Eigendynamik der Vereinheitlichung Europas, gestärkt und befördert durch den rechtlich untermauerten Anspruch, daß alles, was die Integration beeinträchtigen könnte, möglichst in den Kompetenzbereich der Union falle.
Diese Vereinheitlichung beziehungsweise Rationalisierung hat heute einen Grad erreicht, daß das zu verschwimmen droht, was Europa gerade vermeintlich anstrebt: eine politische Identität. Effizienz und Vielgestaltigkeit sind gerade im Falle Europas keine Gegensätze, sondern die Voraussetzung für diese Identität, ein durchrationalisiertes, zwar funktionierendes, aber uniformes Europa ist jedoch der Weg in die räumliche wie kulturelle Beliebigkeit - "eine Provinz im Reich der Globalisierung". Krügers kluges Plädoyer lautet daher: keine hektische, krampfhafte Suche nach europäischer Identität, sondern wirkliches Selbstbewußtsein als Selbstverständnis. Dies heißt: kritische Auseinandersetzung mit der europäischen Vergangenheit, damit die aus den Grundwerten der Freiheit, Autonomie und Toleranz heraus beschworene Vielfalt verständlich wird - was wiederum die Voraussetzung ist für das Funktionieren des europäischen Institutionengefüges auf der Basis der streitbaren Gemeinsamkeit, des Disputs als Kommunikation und Bindung auch bei unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten. Es komme darauf an, "in seiner Verfaßtheit nicht mehr nur die Einheit und Vereinheitlichung Europas, sondern dabei ganz dezidiert zugleich die Bewahrung von Vielfalt und Unterschieden zum zentralen Ziel der europäischen Integration" zu machen.
STEFAN FRÖHLICH
Peter Krüger: Das unberechenbare Europa. Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2006. 390 S., 29,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Peter Krügers "kluges Plädoyer", das den der EU zugrundeliegenden Gedanken und die derzeitigen Entwicklungen des EU-Projekts in Perspektive setzt, hat den Rezensenten Stefan Fröhlich davon überzeugen können, dass Europa durch seine alles ergreifenden technokratischen "Uniformierungs"-Bemühungen genau das einbüßen könnte, worum es dem europäischen Projekt eigentlich geht, nämlich eine "politische Identität". Es drohe die Degradierung zur "Beliebigkeit" und damit zu einer schlichten "Provinz im Reich der Globalisierung" (Zitat Krüger). Eine besonders große Bedrohung sehe Krüger in der jüngsten Forderung nach einer Verantwortlichkeit vor dem Europäischen Parlament. Wie Krüger betone, laufe diese dem Wesen der EU als "Staatenverbund souveräner Staaten" zuwider und könnte das von völkerrechtlichen Verträgen und supranationalen Einrichtungen zusammengehaltene komplexe System sogar endgültig aus dem Gleichgewicht bringen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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