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42 Tage lang, im Mai und Juni 1945, war das erzgebirgische Schwarzenberg unbesetztes Gebiet. Die Einwohner, die Flüchtlinge, Ostarbeiter und marodierende Soldaten fanden sich unverhofft im Niemandsland. Niemand war zuständig für sie, wer würde sie versorgen? Es begann eine herrschaftslose Zeit, nämlich ein großes "Durchenanner"; und das hieß für die einen ein banges Warten und für die anderen, wenigeren, ein "unverschämtes Beginnen". Denn wenn man sie vergessen hatte, mußten sie sich auf sich selbst besinnen. Das ist eine Geschichte wie aus Hebels Kalender, und keine Person, keine Handlung ist…mehr

Produktbeschreibung
42 Tage lang, im Mai und Juni 1945, war das erzgebirgische Schwarzenberg unbesetztes Gebiet. Die Einwohner, die Flüchtlinge, Ostarbeiter und marodierende Soldaten fanden sich unverhofft im Niemandsland. Niemand war zuständig für sie, wer würde sie versorgen? Es begann eine herrschaftslose Zeit, nämlich ein großes "Durchenanner"; und das hieß für die einen ein banges Warten und für die anderen, wenigeren, ein "unverschämtes Beginnen". Denn wenn man sie vergessen hatte, mußten sie sich auf sich selbst besinnen. Das ist eine Geschichte wie aus Hebels Kalender, und keine Person, keine Handlung ist erfunden, sie will ihre Kraft, ihre Rührung aus dem Wirklichen ziehen. - Ein Anhang enthält Erkundungen, Grabungen im schwarzen Berg; und wieder spricht das Massiv: Seht, wie ihr weiterkommt. Vor Ort, im Dunkeln, bewährt sich der Satz des Autors: "Jetzt bin ich in der Geschichte, und eine andere Frage stellt sie nicht, auch wenn sie vorbei ist; vorbei und verloren ist, und man sieht nun, was wahr war und was nicht war. Denn es ist jetzt mein eignes Gebiet, das unbesetzt ist, von den Truppen der Doktrin und des Glaubens, und nur Hoffnung vielleicht siedelt, die uns betrügt und weiterträgt."
Autorenporträt
Braun, VolkerVolker Braun, 1939 in Dresden geboren, arbeitete in einer Druckerei in Dresden, als Tiefbauarbeiter im Kombinat Schwarze Pumpe und absolvierte einen Facharbeiterlehrgang im Tagebau Burghammer. Nach seinem anschließenden Philosophiestudium in Leipzig wurde er Dramaturg am Berliner Ensemble. 1983 wurde Volker Braun Mitglied der Akademie der Künste der DDR, 1993 der (gesamtdeutschen) Akademie der Künste in Berlin. 1996 erfolgte die Aufnahme in die Sächsische Akademie der Künste und in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Im Wintersemester 1999/2000 erhielt er die Brüder-Grimm-Professur an der Universität Kassel. Von 2006 bis 2010 war Volker Braun Direktor der Sektion Literatur der Akademie der Künste. Er erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Georg-Büchner-Preis im Jahr 2000. Volker Braun lebt heute in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Republik Schwarzenberg
Volker Braun ist sein eigener Bergarbeiter / Von Harald Hartung

Manchmal schafft die Historie Fakten, die wie Fiktionen wirken. So als wolle sie einen besonders ausgepichten Stoff für die Literatur liefern - eine Versuchsanordnung neben der Geschichte oder gar ein Stück Utopie. Der erzgebirgische Kreis Schwarzenberg gibt dafür ein Exempel. 1945 genügte ein Mißverständnis zwischen alliierten Stäben, ein Machtvakuum zwischen Ost und West zu schaffen: Schwarzenberg blieb im Mai und Juni 1945 für 42 Tage unbesetzt. In diesem Niemandsland versuchte sich ein aus örtlichen Antifaschisten zusammengesetzter Aktionsausschuß an der Entnazifizierung und am Aufbau einer provisorischen Verwaltung. Dann machte der Einzug der Roten Armee dem Experiment ein Ende.

War Schwarzenberg die kurze Erfüllung einer sozialistischen Utopie? Oder ein Lehrstück für den gräßlichen Fatalismus der Geschichte? Die Realität ist über die Frage hinweggegangen. Bleibt die Literatur, bleibt ein faszinierender Stoff. 1984 hat Stefan Heym daraus einen historischen Tendenzroman gemacht. Sein "Schwarzenberg" - das leicht kolportagehafte Denkspiel über eine freiheitlich-sozialistische Republik - plädierte für einen deutschen Sonderweg zwischen den damaligen Machtblöcken und konnte zunächst nur in der Bundesrepublik erscheinen.

Heute, zwanzig Jahre später und in einer völlig verwandelten historischen Situation, nimmt Volker Braun das Schwarzenberg-Motiv wieder auf. Sein Ausgangspunkt ist die Erkenntnis: "Diese Geschichte ist gelaufen und vorbei; und es bleibt, um dabeizusein, davon zu erzählen." Erzählen heißt hier nicht malen, sondern zeichnen: weglassen. Nicht der Roman, die Kurzprosa ist Brauns Medium. Einer der Texte - "Aufgeschobene Heimkehr" - trägt die Ergänzung: "Nach Hebel". Wir lesen eine Kontrafaktur zu dessen "Unverhofftem Wiedersehen"; auch zu dem berühmten zeitraffenden Einschub. Hier von den Atombomben auf Japan bis zum Zusammensturz des World Trade Center, von der Mondlandung bis zum Schaf Dolly.

Von Hebel übernimmt Braun auch das Bergwerkmotiv. "Das bergmännische Verfahren", sagt er, "ist das der Literatur gemäße." So kommt er, mit einem Seitenblick auf Franz Fühmanns unvollendetes Bergroman-Projekt, zur Geschichte vom schwarzen Berg, zu den Stichwörtern Wismut, Pechblende, Uranerz - somit zur weltpolitischen Implikation der Sache. Die eigentliche Geschichte von der kurzlebigen Republik Schwarzenberg erzählt Braun zweimal. "Das unbesetzte Gebiet" ist ein längeres episches Gedankenspiel mit signifikanten Lebensläufen und Nachzeichnung der politischen Geschehnisse. Im zweiten Teil des Bandes folgt die Reduktion zur erwähnten Kalendergeschichte - als wolle der Autor von der gescheiterten Utopie wenigstens die Geschichte selbst retten.

Das ist mehr als begreiflich. Denn die politischen Schlüsse, die aus "Das unbesetzte Gebiet" zu ziehen wären, geben zu konkreter Hoffnung wenig Anlaß. Schon früh erkennen die Schwarzenberger Genossen, daß sie zwar die Macht in Händen haben, doch den Hunger nicht beseitigen können. "Kommt, besetzt uns!" ist ihre rettungsuchende Maxime. Doch als die Russen kommen, müssen sie erfahren, daß die Fabrik, die sie ihnen übergeben wollen, demontiert wird.

"Das muß ich schreiben und nicht erleben", schaltet sich der Autor ein. Und dieser ohnmächtige Einwurf steht gleichsam über seinem ganzen Text. Doch Volker Braun wäre nicht er selbst, wenn er bei der Resignation stehenbliebe. Die kleinste Restmenge Hoffnung genügt ihm, sein Erzählen zu tragen. Einmal heißt es: "Denn es ist jetzt mein eignes Gebiet, das unbesetzt ist, von den Truppen der Doktrin und des Glaubens, und nur Hoffnung vielleicht siedelt, die uns betrügt und weiterträgt." Man sollte das "betrügt" nicht überlesen. Es zeigt nicht bloß Brauns Skepsis und seinen Selbstzweifel, sondern es erklärt auch den Impuls, seine fast unverwüstliche Hoffnung an immer neuen Beispielen zu überprüfen.

Worauf diese Hoffnung hinauswill, zeigt der Text "Handel und Wandel". Dort wird mit Blick auf die aktuelle Situation in den neuen Ländern der Gedanke ventiliert, "ob sich Staatswesen nicht alle Jubeljahre umwälzen sollten, damit sie auf eine neue Basis gestellt würden". Hier grenzt Braun sich gegen Stefan Heym ab. Dessen Fiktion einer freien Republik Schwarzenberg sei eine "schlichte, wahrhafte Utopie" gewesen. Die eigene "Fiktion des Wechsels der Zeiten" dagegen sei eine "unglaublich komplizierte". Freilich verweist er die erträumte bewegliche Gesellschaft, die zwischen "Aufsichtsräten und Räterepubliken" frei oszilliert, in einen "grandiosen Zukunftsroman" und bekennt: "Ich kann ihn nicht schreiben."

Muß er auch nicht. Denn seine Qualitäten als Erzähler liegen nicht im Futurismus, sondern im bergmännischen Verfahren. Braun ist ein Schatzgräber. Das zeigt das Insel-Bändchen mit seinen zwei Erzählungen. "Nach Büchner" könnte über ihnen stehen. Die kürzere heißt denn auch "Ein anderer Woyzeck". Es handelt sich um den Bericht von einem erzgebirgischen Tagelöhner, der 1821 sein Mädchen erstach. Faszinierender noch und ebenfalls in Büchners Duktus geschrieben ist "Der berüchtigte Christian Sporn". In dem Bericht von dem Fronhäusler Sporn, der wegen Brandstiftung aufs Schafott kommt, ist das Geschehen so dicht gefügt, daß der Text ganz ohne Räsonnement und Spekulation auskommt. Trotzdem oder gerade deshalb wird Brauns Solidarität mit den Erniedrigten und Beleidigten spürbar. Brauns verfremdete Mimikry ans Historische schwächt sein Engagement durchaus nicht. Sein Chronikstil, der das Sächsische sparsam und effektvoll zugleich einsetzt, ist dem Erzählten angemessen. Es rechnet mit dem kritischen wie genußfähigen Leser.

Der eine oder andere dieser Leser mag auch zu den Aufsätzen des Leipziger Germanisten Klaus Schuhmann greifen, die aus persönlicher Nähe "Wege zu und mit Volker Brauns literarischem Werk" suchen. Diese Arbeiten aus manchen Jahren bringen freilich manche Verteidigung, die sich erledigt hat oder heute anders gefaßt werden müßte. Vielleicht ist es ebendie sympathische Empathie, die den Interpreten hinter den Autor zurückfallen läßt. Doch das ist eine andere Geschichte.

Volker Braun: "Das unbesetzte Gebiet". Im schwarzen Berg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 131 S., geb., 16,80 [Euro].

Volker Braun: "Der berüchtigte Christian Sporn. Ein anderer Woyzeck". Zwei Erzählungen. Mit Illustrationen von Joachim John. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2004. 72 S., geb., 11,80 [Euro].

Klaus Schuhmann: "Ich bin der Braun, den ihr kritisiert". Wege zu und mit Volker Brauns literarischem Werk. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2004. 242 S., br., 22,- [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.08.2004

Zweiundvierzig Sonnenaufgänge
Volker Brauns neuer Prosaband „Das unbesetzte Gebiet”
Schwarzenberg, das Zwanzigtausend-Seelenstädtchen am Zusammenfluss von Schwarzwasser und Großer Mittweida, ist legendäres Gebiet. Hier rückten nach der Kapitulation des Dritten Reiches weder Amerikaner noch Russen ein. „Der große Heerwurm war vor dem Erzgebirge in Schlaf gefallen in seinem Schuppenpanzer aus Shermans und T 34.” Zweitausend Quadratkilometer fanden keine Besatzungsmacht. Also trafen sich am Nachmittag des 11. Mai 1945 Arbeiter und besprachen die Lage. Es sollte noch Wochen dauern, bis die Sowjetmacht am 25. Juni dem ungeklärten Zustand ein Ende setzte.
Was bis dahin geschah, erzählt Volker Braun in seinem neuen Buch „Das unbesetzte Gebiet”. „Sie hasteten durch das knackende Holz und stolperten über weggeworfene Helme. Sie hielten hundert Schritte vor dem Arbeiterheim (der Folterstätte). Krause stellte, auf den Stock gestützt, und röchelnd Atem ziehend, zwei Fragen. Macht ihr mit? - Ja. - Und die zweite: Was mach mer?”
Am Abend des 11. April haben etwa 120 bewaffnete Arbeiter, Sozialdemokraten und Kommunisten, das Rathaus von Schwarzenberg ohne Blutvergießen besetzt und am kommenden Morgen einen antifaschistischen Aktionsausschuss gebildet, der die Geschicke der Stadt leitete, bis die Russen kamen. Alltagssorgen, Flüchtlinge, Hunger, fliehende Nazis bestimmten den weiteren Verlauf.
Die Nachricht, dass Volker Braun eine Erzählung über den seltsamen, geschichtswidrigen Vorfall schreibt, stimmte skeptisch. Literarisch sind die zweitausend Quadratkilometer Erzgebirge besetztes Gebiet, seit Stefan Heym vor zwanzig Jahren, in der Zeit der Nachrüstungs- und Doppelbeschlusserregung, in seinem Roman „Schwarzenberg” eine „Freie Republik” erfand und einen eigenen deutschen Weg zur besseren Gesellschaft entwarf. Schillerverse waren dem Roman vorangestellt: „Zwo gewaltige Nationen ringen / Um der Welt alleinigen Besitz; / Aller Länder Freiheit zu verschlingen, / Schwingen sie den Dreizack und den Blitz.”
Für kurze Zeit hatten Heyms Schwarzenberger, zwischen Shermans und T 34, das ihre getan. Für die Deutschen der Achtziger Jahre, zwischen Pershing II und SS 20, schien Heyms trotzig-resignativer Roman eine angenehme Utopie. In der DDR, die so gern besetzt sein wollte, konnte „Schwarzenberg” nicht erscheinen. Aber muss - zwanzig Jahre später - nicht jede Anknüpfung an die Verklärung geglückter Anfänge, besserer Absichten in schlechter Wirklichkeit unerträglich larmoyant geraten?
Geben wir es unumwunden zu: Vom „Es-hätte-so-schön-werden-können”- Sozialismus wollen wir nichts mehr lesen, und greifen daher mit Vorsicht zur Erzählung „Das unbesetzte Gebiet”. Doch mit wenigen Sätzen überwältigt Volker Braun die Skepsis. Er erzählt eine Geschichte, die man nur ungefähr, als Symbol einer Meinung, kennt, so faktentreu, dass sie den Reiz des Unerhörten gewinnt, und er erzählt sie so dicht, dass sie im Gedächtnis bleibt wie eine alte Legende. Er verwandelt Schwarzenberg in sein „eigenes Gebiet, das unbesetzt ist, von den Truppen der Doktrin und des Glaubens, und nur Hoffnung vielleicht siedelt, die uns betrügt und weiterträgt”.
Es gibt eine Scheu vor der Hoffnung, und zumal vor ihrer Beschwörung, die oft peinlich berührt wie eine Fotografie aus Kindertagen, und es gibt eine Angst vor Glücksversprechen, die steril macht, furchtsam und die alles verkleinert, eine Angst, die den Preis jeder Handlung kennt, ohne ihren Wert zu berechnen. Diese Angst lässt Volker Braun nicht gelten, aber er schlägt sie nicht mit großen Worten, nicht mit Argumenten, Gesellschaftsmodellen oder utopischen Phrasen aus dem Feld. Er gewinnt das unbesetzte Gebiet als Erzähler, als deutscher Satzbauer.
Die Prosaminiaturen, aus denen sein Buch besteht, drängen in wenigen Worten Persönlichstes und einen Zipfel der großen Geschichte zusammen. Als sei er dabei und zugleich ein Fremdenführer, der Staunenden eine unbekannte Gegend zeigt, wechselt der Erzähler aus dem Ton des Chronisten in die Mundart seiner Helden. Zwanglos, als erlaube der Sprachfluss nichts anderes, tauchen die Dialektsätze inmitten der Erzählerkommentare auf, und beide Tonarten klingen unabänderlich, als wollten sie in Stein gemeißelt werden.
Sächsisch ohne Narrenkappe
So schön hat das ins komische Fach und ins Kabarett verbannte Sächsisch schon lange nicht mehr geklungen: „Unterdessen übte sich die Masse in ihrem Fach: zu warten. Das hatte sie gelernt, und unterhielt sie, und machte nichtsdestoweniger Mühe. Sie wartete auf die Besetzung. ... Was sollte jetzt wern? Man gehörte zu garniemandem. Fleischer Körner machet das letzte Hackfleisch und sah dem Nichts entgegen. - Er war auch ganz schlapp. Er war so lange mitgeloofen, nun waren die Beine müde. Man war halt ähmd gelähmt. Und die ganz Gewaltigen hatten garnichte mehr zu melden.” Und im Rathaus regiert eine ratlose „Untrigkeit”.
Der große Augenblick trifft auch hier auf unvorbereitete, kleine Leute. Mehrfach versichert der Erzähler, dass er nichts erfinde, keine Person, keine Handlung. Dennoch erfasst ein wohl dosierter Rausch der Freiheit den Leser, ein Rausch, von dem man kaum glauben will, dass er die damals Beteiligten, notwendig Überforderten ergriffen hat. Diese Freiheit aber ist nicht, wie gewohnt und hergebracht, eine Schwester dichterischer Fantasie, sondern eine nahe Verwandte der Ungewissheit, der Angst, der Leere im Niemandsland und des unsicheren Selbstvertrauens.
Die Helden vom Aktionsausschuss, denen alle Sympathien des Erzählers gehören, nehmen sich, was ihnen nicht zusteht und wie durch ein Versehen nur zugefallen scheint.
Eine der Pointen Brauns gibt dem gesamten Geschehen den Charakter des Uneigentlichen, Vorübergehenden. Die kleine Utopie der „Freien Republik” verdankt sich einem Coup des Kalten Krieges, der vor Kriegsende begonnen hatte. „Niemand im Niemandsland wußte von den andern, geheimen Verhandlungen, die schon im April das Loch in die Karte gruben, durch das die Million der SchörnerArmee im Mai und Juni nach Westen entkam. In Eibenstock wurde sie, vollbewaffnet, mit Parademarsch, in amerikanische Gefangenschaft genommen.” Aber das Wichtigste war wohl das Uran der Gegend, das die Russen dann in einem Staat im Staate ausbeuteten.
Unter dem Titel „Im schwarzen Berg” hat Volker Braun seiner Erzählung eine Sammlung von Anekdoten, Geschichten, Kommentaren beigegeben. Manches, was in der Erzählung im Schweben gehalten wird, scheint hier zur Botschaft, zur Meinung zu gerinnen, etwa der Traum von einer „beweglichen Gesellschaft, die fähig wäre, sich zu besinnen und sich aus sich selbst zu reißen”.
In den letzten Jahren der DDR hatte Braun vorgeschlagen, Leipzig noch einmal für drei Jahre dem Kapitalismus zu überlassen, um den Verfall der Stadt aufzuhalten, „damit Grund hinein kommt. Gesagt, geschehn; und tatsächlich, das Bild hat sich sichtlich zum Guten gewandelt.” Nun angesichts neuer unerwarteter Missstände, regt Braun an, das Staatswesen möge sich „aller Jubeljahre umwälzen”, „damit sie auf eine neue Basis gestellt würden und das schier Unlösbare wieder seine einfache Lösung fände”.
Aber dies ist kein Antrag, für den nächsten Gewerkschafts- oder Parteitag. Es geht um ein Verfahren der Weltbeschreibung. Der Abschnitt „Königsberg. Oder Prolog zu einer jeden künftigen Haltung, die als Literatur wird auftreten können” fragt, wohin die vom Aktionsausschuss aus Schwarzenberg vertriebenen Flüchtlinge gehen könnten. Nach Königsberg, von dem Braun weiß, dass es Kaliningrad wurde und das für ihn doch die Stadt sein soll, wo die Vernunft wohnt und mit Kant auf die Flüchtlinge als auf ein erinnerungswürdiges Exemplum schaut, „weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat”. Er setze keinen Fuß in die Stadt, schließt Braun, „aber in ihrem erneuerten Bild werde ich mein Leben verbringen”.
Als Meister der „Übergangsgesellschaft” und Beschwörer spätrömischer Landschaften des Verfalls ist Braun bekannt. „Das unbesetzte Gebiet” dagegen ist - wie schon seine Novelle „Die vier Werkzeugmacher” - eine Geschichte des Anfangens, des nicht ganz geglaubten, aber doch gewollten Sonnenaufgangs. Es ist eine seiner schönsten.
JENS BISKY
VOLKER BRAUN: Das unbesetzte Gebiet. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 128 Seiten, 16,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Geschichte, die nicht zu Ende geschrieben wurde: Der Kreis Schwarzenberg im Erzgebirge blieb 1945 von allen Alliierten unbesetzt und verwaltete sich 42 Tage lang selbst, unter Führung von Antifaschisten. Dann, so Harald Hartung, kam die Rote Armee und man erfuhr nie, ob da kurz so was wie eine Utopie in Erfüllung gegangen war. Nur die Literatur kann noch was draus machen. Bei Volker Braun sind es Erzählungen, die den Fall aneignen, reduzieren: einmal zum "epischen Gedankenspiel", danach zur Kalendergeschichte a la Hebel, damit wenigstens die Geschichte erhalten bleibt, wenn schon politisch nicht viel herauszuholen sei. Das reicht schon, staunt Hartung, Braun brauche nur die diese kleine "Restmenge Hoffnung" für eine Erzählung, in der die Hoffnung freilich wiederum der Skepsis begegne.

© Perlentaucher Medien GmbH