42 Tage lang, im Mai und Juni 1945, war das erzgebirgische Schwarzenberg unbesetztes Gebiet. Die Einwohner, die Flüchtlinge, Ostarbeiter und marodierende Soldaten fanden sich unverhofft im Niemandsland. Niemand war zuständig für sie, wer würde sie versorgen? Es begann eine herrschaftslose Zeit, nämlich ein großes "Durchenanner"; und das hieß für die einen ein banges Warten und für die anderen, wenigeren, ein "unverschämtes Beginnen". Denn wenn man sie vergessen hatte, mußten sie sich auf sich selbst besinnen. Das ist eine Geschichte wie aus Hebels Kalender, und keine Person, keine Handlung ist erfunden, sie will ihre Kraft, ihre Rührung aus dem Wirklichen ziehen. - Ein Anhang enthält Erkundungen, Grabungen im schwarzen Berg; und wieder spricht das Massiv: Seht, wie ihr weiterkommt. Vor Ort, im Dunkeln, bewährt sich der Satz des Autors: "Jetzt bin ich in der Geschichte, und eine andere Frage stellt sie nicht, auch wenn sie vorbei ist; vorbei und verloren ist, und man sieht nun, was wahr war und was nicht war. Denn es ist jetzt mein eignes Gebiet, das unbesetzt ist, von den Truppen der Doktrin und des Glaubens, und nur Hoffnung vielleicht siedelt, die uns betrügt und weiterträgt."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004Republik Schwarzenberg
Volker Braun ist sein eigener Bergarbeiter / Von Harald Hartung
Manchmal schafft die Historie Fakten, die wie Fiktionen wirken. So als wolle sie einen besonders ausgepichten Stoff für die Literatur liefern - eine Versuchsanordnung neben der Geschichte oder gar ein Stück Utopie. Der erzgebirgische Kreis Schwarzenberg gibt dafür ein Exempel. 1945 genügte ein Mißverständnis zwischen alliierten Stäben, ein Machtvakuum zwischen Ost und West zu schaffen: Schwarzenberg blieb im Mai und Juni 1945 für 42 Tage unbesetzt. In diesem Niemandsland versuchte sich ein aus örtlichen Antifaschisten zusammengesetzter Aktionsausschuß an der Entnazifizierung und am Aufbau einer provisorischen Verwaltung. Dann machte der Einzug der Roten Armee dem Experiment ein Ende.
War Schwarzenberg die kurze Erfüllung einer sozialistischen Utopie? Oder ein Lehrstück für den gräßlichen Fatalismus der Geschichte? Die Realität ist über die Frage hinweggegangen. Bleibt die Literatur, bleibt ein faszinierender Stoff. 1984 hat Stefan Heym daraus einen historischen Tendenzroman gemacht. Sein "Schwarzenberg" - das leicht kolportagehafte Denkspiel über eine freiheitlich-sozialistische Republik - plädierte für einen deutschen Sonderweg zwischen den damaligen Machtblöcken und konnte zunächst nur in der Bundesrepublik erscheinen.
Heute, zwanzig Jahre später und in einer völlig verwandelten historischen Situation, nimmt Volker Braun das Schwarzenberg-Motiv wieder auf. Sein Ausgangspunkt ist die Erkenntnis: "Diese Geschichte ist gelaufen und vorbei; und es bleibt, um dabeizusein, davon zu erzählen." Erzählen heißt hier nicht malen, sondern zeichnen: weglassen. Nicht der Roman, die Kurzprosa ist Brauns Medium. Einer der Texte - "Aufgeschobene Heimkehr" - trägt die Ergänzung: "Nach Hebel". Wir lesen eine Kontrafaktur zu dessen "Unverhofftem Wiedersehen"; auch zu dem berühmten zeitraffenden Einschub. Hier von den Atombomben auf Japan bis zum Zusammensturz des World Trade Center, von der Mondlandung bis zum Schaf Dolly.
Von Hebel übernimmt Braun auch das Bergwerkmotiv. "Das bergmännische Verfahren", sagt er, "ist das der Literatur gemäße." So kommt er, mit einem Seitenblick auf Franz Fühmanns unvollendetes Bergroman-Projekt, zur Geschichte vom schwarzen Berg, zu den Stichwörtern Wismut, Pechblende, Uranerz - somit zur weltpolitischen Implikation der Sache. Die eigentliche Geschichte von der kurzlebigen Republik Schwarzenberg erzählt Braun zweimal. "Das unbesetzte Gebiet" ist ein längeres episches Gedankenspiel mit signifikanten Lebensläufen und Nachzeichnung der politischen Geschehnisse. Im zweiten Teil des Bandes folgt die Reduktion zur erwähnten Kalendergeschichte - als wolle der Autor von der gescheiterten Utopie wenigstens die Geschichte selbst retten.
Das ist mehr als begreiflich. Denn die politischen Schlüsse, die aus "Das unbesetzte Gebiet" zu ziehen wären, geben zu konkreter Hoffnung wenig Anlaß. Schon früh erkennen die Schwarzenberger Genossen, daß sie zwar die Macht in Händen haben, doch den Hunger nicht beseitigen können. "Kommt, besetzt uns!" ist ihre rettungsuchende Maxime. Doch als die Russen kommen, müssen sie erfahren, daß die Fabrik, die sie ihnen übergeben wollen, demontiert wird.
"Das muß ich schreiben und nicht erleben", schaltet sich der Autor ein. Und dieser ohnmächtige Einwurf steht gleichsam über seinem ganzen Text. Doch Volker Braun wäre nicht er selbst, wenn er bei der Resignation stehenbliebe. Die kleinste Restmenge Hoffnung genügt ihm, sein Erzählen zu tragen. Einmal heißt es: "Denn es ist jetzt mein eignes Gebiet, das unbesetzt ist, von den Truppen der Doktrin und des Glaubens, und nur Hoffnung vielleicht siedelt, die uns betrügt und weiterträgt." Man sollte das "betrügt" nicht überlesen. Es zeigt nicht bloß Brauns Skepsis und seinen Selbstzweifel, sondern es erklärt auch den Impuls, seine fast unverwüstliche Hoffnung an immer neuen Beispielen zu überprüfen.
Worauf diese Hoffnung hinauswill, zeigt der Text "Handel und Wandel". Dort wird mit Blick auf die aktuelle Situation in den neuen Ländern der Gedanke ventiliert, "ob sich Staatswesen nicht alle Jubeljahre umwälzen sollten, damit sie auf eine neue Basis gestellt würden". Hier grenzt Braun sich gegen Stefan Heym ab. Dessen Fiktion einer freien Republik Schwarzenberg sei eine "schlichte, wahrhafte Utopie" gewesen. Die eigene "Fiktion des Wechsels der Zeiten" dagegen sei eine "unglaublich komplizierte". Freilich verweist er die erträumte bewegliche Gesellschaft, die zwischen "Aufsichtsräten und Räterepubliken" frei oszilliert, in einen "grandiosen Zukunftsroman" und bekennt: "Ich kann ihn nicht schreiben."
Muß er auch nicht. Denn seine Qualitäten als Erzähler liegen nicht im Futurismus, sondern im bergmännischen Verfahren. Braun ist ein Schatzgräber. Das zeigt das Insel-Bändchen mit seinen zwei Erzählungen. "Nach Büchner" könnte über ihnen stehen. Die kürzere heißt denn auch "Ein anderer Woyzeck". Es handelt sich um den Bericht von einem erzgebirgischen Tagelöhner, der 1821 sein Mädchen erstach. Faszinierender noch und ebenfalls in Büchners Duktus geschrieben ist "Der berüchtigte Christian Sporn". In dem Bericht von dem Fronhäusler Sporn, der wegen Brandstiftung aufs Schafott kommt, ist das Geschehen so dicht gefügt, daß der Text ganz ohne Räsonnement und Spekulation auskommt. Trotzdem oder gerade deshalb wird Brauns Solidarität mit den Erniedrigten und Beleidigten spürbar. Brauns verfremdete Mimikry ans Historische schwächt sein Engagement durchaus nicht. Sein Chronikstil, der das Sächsische sparsam und effektvoll zugleich einsetzt, ist dem Erzählten angemessen. Es rechnet mit dem kritischen wie genußfähigen Leser.
Der eine oder andere dieser Leser mag auch zu den Aufsätzen des Leipziger Germanisten Klaus Schuhmann greifen, die aus persönlicher Nähe "Wege zu und mit Volker Brauns literarischem Werk" suchen. Diese Arbeiten aus manchen Jahren bringen freilich manche Verteidigung, die sich erledigt hat oder heute anders gefaßt werden müßte. Vielleicht ist es ebendie sympathische Empathie, die den Interpreten hinter den Autor zurückfallen läßt. Doch das ist eine andere Geschichte.
Volker Braun: "Das unbesetzte Gebiet". Im schwarzen Berg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 131 S., geb., 16,80 [Euro].
Volker Braun: "Der berüchtigte Christian Sporn. Ein anderer Woyzeck". Zwei Erzählungen. Mit Illustrationen von Joachim John. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2004. 72 S., geb., 11,80 [Euro].
Klaus Schuhmann: "Ich bin der Braun, den ihr kritisiert". Wege zu und mit Volker Brauns literarischem Werk. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2004. 242 S., br., 22,- [Euro].
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Volker Braun ist sein eigener Bergarbeiter / Von Harald Hartung
Manchmal schafft die Historie Fakten, die wie Fiktionen wirken. So als wolle sie einen besonders ausgepichten Stoff für die Literatur liefern - eine Versuchsanordnung neben der Geschichte oder gar ein Stück Utopie. Der erzgebirgische Kreis Schwarzenberg gibt dafür ein Exempel. 1945 genügte ein Mißverständnis zwischen alliierten Stäben, ein Machtvakuum zwischen Ost und West zu schaffen: Schwarzenberg blieb im Mai und Juni 1945 für 42 Tage unbesetzt. In diesem Niemandsland versuchte sich ein aus örtlichen Antifaschisten zusammengesetzter Aktionsausschuß an der Entnazifizierung und am Aufbau einer provisorischen Verwaltung. Dann machte der Einzug der Roten Armee dem Experiment ein Ende.
War Schwarzenberg die kurze Erfüllung einer sozialistischen Utopie? Oder ein Lehrstück für den gräßlichen Fatalismus der Geschichte? Die Realität ist über die Frage hinweggegangen. Bleibt die Literatur, bleibt ein faszinierender Stoff. 1984 hat Stefan Heym daraus einen historischen Tendenzroman gemacht. Sein "Schwarzenberg" - das leicht kolportagehafte Denkspiel über eine freiheitlich-sozialistische Republik - plädierte für einen deutschen Sonderweg zwischen den damaligen Machtblöcken und konnte zunächst nur in der Bundesrepublik erscheinen.
Heute, zwanzig Jahre später und in einer völlig verwandelten historischen Situation, nimmt Volker Braun das Schwarzenberg-Motiv wieder auf. Sein Ausgangspunkt ist die Erkenntnis: "Diese Geschichte ist gelaufen und vorbei; und es bleibt, um dabeizusein, davon zu erzählen." Erzählen heißt hier nicht malen, sondern zeichnen: weglassen. Nicht der Roman, die Kurzprosa ist Brauns Medium. Einer der Texte - "Aufgeschobene Heimkehr" - trägt die Ergänzung: "Nach Hebel". Wir lesen eine Kontrafaktur zu dessen "Unverhofftem Wiedersehen"; auch zu dem berühmten zeitraffenden Einschub. Hier von den Atombomben auf Japan bis zum Zusammensturz des World Trade Center, von der Mondlandung bis zum Schaf Dolly.
Von Hebel übernimmt Braun auch das Bergwerkmotiv. "Das bergmännische Verfahren", sagt er, "ist das der Literatur gemäße." So kommt er, mit einem Seitenblick auf Franz Fühmanns unvollendetes Bergroman-Projekt, zur Geschichte vom schwarzen Berg, zu den Stichwörtern Wismut, Pechblende, Uranerz - somit zur weltpolitischen Implikation der Sache. Die eigentliche Geschichte von der kurzlebigen Republik Schwarzenberg erzählt Braun zweimal. "Das unbesetzte Gebiet" ist ein längeres episches Gedankenspiel mit signifikanten Lebensläufen und Nachzeichnung der politischen Geschehnisse. Im zweiten Teil des Bandes folgt die Reduktion zur erwähnten Kalendergeschichte - als wolle der Autor von der gescheiterten Utopie wenigstens die Geschichte selbst retten.
Das ist mehr als begreiflich. Denn die politischen Schlüsse, die aus "Das unbesetzte Gebiet" zu ziehen wären, geben zu konkreter Hoffnung wenig Anlaß. Schon früh erkennen die Schwarzenberger Genossen, daß sie zwar die Macht in Händen haben, doch den Hunger nicht beseitigen können. "Kommt, besetzt uns!" ist ihre rettungsuchende Maxime. Doch als die Russen kommen, müssen sie erfahren, daß die Fabrik, die sie ihnen übergeben wollen, demontiert wird.
"Das muß ich schreiben und nicht erleben", schaltet sich der Autor ein. Und dieser ohnmächtige Einwurf steht gleichsam über seinem ganzen Text. Doch Volker Braun wäre nicht er selbst, wenn er bei der Resignation stehenbliebe. Die kleinste Restmenge Hoffnung genügt ihm, sein Erzählen zu tragen. Einmal heißt es: "Denn es ist jetzt mein eignes Gebiet, das unbesetzt ist, von den Truppen der Doktrin und des Glaubens, und nur Hoffnung vielleicht siedelt, die uns betrügt und weiterträgt." Man sollte das "betrügt" nicht überlesen. Es zeigt nicht bloß Brauns Skepsis und seinen Selbstzweifel, sondern es erklärt auch den Impuls, seine fast unverwüstliche Hoffnung an immer neuen Beispielen zu überprüfen.
Worauf diese Hoffnung hinauswill, zeigt der Text "Handel und Wandel". Dort wird mit Blick auf die aktuelle Situation in den neuen Ländern der Gedanke ventiliert, "ob sich Staatswesen nicht alle Jubeljahre umwälzen sollten, damit sie auf eine neue Basis gestellt würden". Hier grenzt Braun sich gegen Stefan Heym ab. Dessen Fiktion einer freien Republik Schwarzenberg sei eine "schlichte, wahrhafte Utopie" gewesen. Die eigene "Fiktion des Wechsels der Zeiten" dagegen sei eine "unglaublich komplizierte". Freilich verweist er die erträumte bewegliche Gesellschaft, die zwischen "Aufsichtsräten und Räterepubliken" frei oszilliert, in einen "grandiosen Zukunftsroman" und bekennt: "Ich kann ihn nicht schreiben."
Muß er auch nicht. Denn seine Qualitäten als Erzähler liegen nicht im Futurismus, sondern im bergmännischen Verfahren. Braun ist ein Schatzgräber. Das zeigt das Insel-Bändchen mit seinen zwei Erzählungen. "Nach Büchner" könnte über ihnen stehen. Die kürzere heißt denn auch "Ein anderer Woyzeck". Es handelt sich um den Bericht von einem erzgebirgischen Tagelöhner, der 1821 sein Mädchen erstach. Faszinierender noch und ebenfalls in Büchners Duktus geschrieben ist "Der berüchtigte Christian Sporn". In dem Bericht von dem Fronhäusler Sporn, der wegen Brandstiftung aufs Schafott kommt, ist das Geschehen so dicht gefügt, daß der Text ganz ohne Räsonnement und Spekulation auskommt. Trotzdem oder gerade deshalb wird Brauns Solidarität mit den Erniedrigten und Beleidigten spürbar. Brauns verfremdete Mimikry ans Historische schwächt sein Engagement durchaus nicht. Sein Chronikstil, der das Sächsische sparsam und effektvoll zugleich einsetzt, ist dem Erzählten angemessen. Es rechnet mit dem kritischen wie genußfähigen Leser.
Der eine oder andere dieser Leser mag auch zu den Aufsätzen des Leipziger Germanisten Klaus Schuhmann greifen, die aus persönlicher Nähe "Wege zu und mit Volker Brauns literarischem Werk" suchen. Diese Arbeiten aus manchen Jahren bringen freilich manche Verteidigung, die sich erledigt hat oder heute anders gefaßt werden müßte. Vielleicht ist es ebendie sympathische Empathie, die den Interpreten hinter den Autor zurückfallen läßt. Doch das ist eine andere Geschichte.
Volker Braun: "Das unbesetzte Gebiet". Im schwarzen Berg. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 131 S., geb., 16,80 [Euro].
Volker Braun: "Der berüchtigte Christian Sporn. Ein anderer Woyzeck". Zwei Erzählungen. Mit Illustrationen von Joachim John. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2004. 72 S., geb., 11,80 [Euro].
Klaus Schuhmann: "Ich bin der Braun, den ihr kritisiert". Wege zu und mit Volker Brauns literarischem Werk. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2004. 242 S., br., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Geschichte, die nicht zu Ende geschrieben wurde: Der Kreis Schwarzenberg im Erzgebirge blieb 1945 von allen Alliierten unbesetzt und verwaltete sich 42 Tage lang selbst, unter Führung von Antifaschisten. Dann, so Harald Hartung, kam die Rote Armee und man erfuhr nie, ob da kurz so was wie eine Utopie in Erfüllung gegangen war. Nur die Literatur kann noch was draus machen. Bei Volker Braun sind es Erzählungen, die den Fall aneignen, reduzieren: einmal zum "epischen Gedankenspiel", danach zur Kalendergeschichte a la Hebel, damit wenigstens die Geschichte erhalten bleibt, wenn schon politisch nicht viel herauszuholen sei. Das reicht schon, staunt Hartung, Braun brauche nur die diese kleine "Restmenge Hoffnung" für eine Erzählung, in der die Hoffnung freilich wiederum der Skepsis begegne.
© Perlentaucher Medien GmbH
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