Eine außerordentlich sympathische Truppe von Freischärlern tritt an, für ihre Heimat Albanien ins Feld zu ziehen. Ihre Helden sind der Anführer Shestan Verdha, der singende Doska Mokrari und der lange Alush Gjati, zu groß für jeden Sarg. Anfangs zu fünft, später in Hundertschaften kämpfen sie, gegen wen da zu kämpfen ist, ganz gleich ob der Feind Holländer, Türke, Österreicher, Franzose, Bulgare oder Montenegriner ist. Und dann soll ausgerechnet ein deutscher Prinz König von Albanien sein? Nur wenn er beschnitten ist, witzeln Konsuln und Offiziere jeder Couleur, die sich im Salon der maltesischen Kurtisane Sara Stringa die Klinke in die Hand reichen. Ismail Kadare erzählt von den Wirren der albanischen Geschichte, packt sie in ein einziges, verflixtes Jahr und verbindet Realismus und tragische Komik zu einer Liebeserklärung an seine Heimat, die der Leser mit einem lachenden, mit einem weinenden Auge, doch unvermindert mit Begeisterung liest.
Kleinstaatgründung auf eigene Faust: Der albanische Schriftsteller Ismail Kadaré und sein neuer Roman
Zu den frühen Prägungen des Autors gehört die Faszination durch Keller, Brunnen, Zisternen - Hadesschlünde, die seine Phantasie "durcheinanderbringen". Ins Surreale führt auch die Architektur seiner albanischen Heimatstadt Gjirokastra, die so steil an eine Berglehne gebaut ist, daß Betrunkene, die von der Straße abirren, auf den Dächern hoher Häuser zu liegen kommen. Ein literarisches Urerlebnis war die magische Schreckenswelt von Shakespeares "Macbeth", der ungeheuerliche Mord am Gast. Der junge Ismail Kadaré schrieb das Stück ab, um es in seinen Besitz zu bringen.
Magischer Realismus ist für ihn keine Erfindung der Lateinamerikaner, sondern ein ewiger Strang der Weltliteratur. Und das Absurde war in dem Land, dessen literarische Kultur dieser Autor als einziger weithin sichtbar repräsentiert, jahrzehntelang Richtlinie der realen Politik. "Es kam vor", schreibt Piet de Moor in seinem Porträt Kadarés, der in diesen Tagen seinen siebzigsten Geburtstag feiert, "daß Frau und Kinder eines der Sabotage beschuldigten Funktionärs, der Selbstmord begangen hatte, singend auf den Balkon ihrer Wohnung traten und ihrer Freude über den wohlverdienten Tod des Gatten und Vaters Ausdruck gaben."
Da wundert es nicht, daß die oft phantastisch anmutenden Bücher Kadarés durchaus Wurzeln in der grotesken Realität haben. Das gilt schon für sein sinistres Romandebüt, den "General der toten Armee" (1962). Kadaré lernte einen italienischen Offizier kennen, der den Auftrag hatte, die während des Zweiten Weltkriegs in Albanien gefallenen italienischen Soldaten zu exhumieren und nach Italien zurückzuführen. Das Buch, das diese Idee in einem makabren Totentanz entfaltet, brachte Kadaré früh den internationalen Durchbruch. Es war nicht zuletzt diese Reputation, die den ansonsten skrupellosen Diktator Enver Hodscha milde stimmte - mit außenpolitischem Kalkül.
Kein albanischer Autor durfte ins Ausland reisen, nur Kadaré; keiner durfte einen Hauch von Kritik äußern, nur Kadaré. Er hatte zweifellos ein privilegiertes Verhältnis zur Macht, das ihm ermöglichte, künstlerische Ziele zu verfolgen, die andere hinter Gitter oder in ein einsames Grab gebracht hätten. Wenngleich auch er Repressalien auszustehen hatte, tauchte er aus den Verliesen zwischenzeitlicher Ungnade doch immer wieder auf, und seine Werke wurden Pflichtlektüre.
Es stellt sich die Frage, ob Kadaré nicht doch mehr Günstling als Gegner war. Inzwischen haben sich einige vormals erstickte Stimmen zu Wort gemeldet. Mancher, der Jahre im Gefängnis oder Arbeitslager verbrachte, hat gar vom "Hodscha-Kadaré-Regime" gesprochen. Während Kadaré bei seinen europäischen Lesereisen als Dissident auftrat, war er, so der Vorwurf, ein bedeutender kulturpolitischer Organisator und Repräsentant der Diktatur, der auch vor Hodscha-Huldigungslyrik gelegentlich nicht zurückscheute. Für einige ist es unerträglich, wie der begünstigte Autor heute immer noch und immer mehr mit internationalen Ehrungen überhäuft wird - und dabei geadelt erscheint durch das Leiden unter dem Totalitarismus.
"Chronik in Stein" (1970), das international gefeierte Meisterwerk über Kadarés Heimatstadt während des Zweiten Weltkriegs, geschildert aus der Perspektive eines Kindes, ließ sich offenbar auch als Hommage auf Hodscha verstehen, denn der Diktator erblickte ebenfalls in Gjirokastra das Licht der Welt - die Distanz zwischen den Geburtshäusern beträgt zweihundert Meter; das Sträßchen dazwischen nennt sich "Narrengasse". Im Roman "Der große Winter" läßt Kadaré Hodscha persönlich auftreten, und der Stalinist fand sich durchaus schmeichelhaft dargestellt. De Moor schreibt dazu, Kadaré wollte den Diktator "von seinen Dämonen befreien". Gab er sich wie ein Stephan Hermlin der Illusion hin, er könne den Fürstenerzieher spielen?
Die merkwürdige Spannung von Opportunismus und Widerstand findet sich bereits früh. Kadaré studierte drei Jahre am Gorki-Institut in Moskau, was nur ergebenen Parteimitgliedern möglich war. In seinen künstlerischen Ansprüchen zeigte er sich jedoch renitent: "In Moskau habe ich sehr schnell begriffen, daß ich von Literatur viel mehr verstand als meine Professoren - diese Institutsbürokraten, die sich den lieben langen Tag in Sophistereien über den sozialistischen Realismus ergingen, wobei jeder Text, der auch nur ein Jota von dieser offiziellen Linie abwich, sofort als ,dekadent' und ,morbid' verdammt wurde." Kadarés Werke schildern dagegen Angst- und Albtraumwelten, die dem befohlenen Optimismus der albanischen Diktatur zuwiderliefen. Des weiteren hat der Autor historische Romane geschrieben, die sich aus den Epen und Balladen des Balkans nähren und vom Widerstand gegen die Türken handeln ("Die Festung", "Der Schandkasten"). Neben der patriotischen Lesart gibt es auch hier eine regimekritische: Das Osmanische Reich ist Kadaré in vielen Werken ein Muster des übermächtigen Staatsapparates. So konnte er sich in chiffrierter Form mit dem Kommunismus auseinandersetzen.
Das in Albanien sogleich verbotene Meisterwerk "Der Palast der Träume" (1982) handelt von einem Überwachungsstaat, der sämtliche Träume der Bevölkerung in einer Großbehörde systematisch auswertet. Der Roman gehört zu den großen Kafka-Nachfolgedichtungen. Wo Schriftsteller gefoltert und auch getötet wurden, bewies es großen Mut, Parabeln über totalitäre Mächte zu schreiben.
Jetzt ist Kadarés Roman "Das verflixte Jahr" in deutscher Übersetzung erschienen. Es geht um den albanischen Staat in seinem ersten Jahr, nach einem halben Jahrtausend der osmanischen Fremdherrschaft, das mit den Balkan-Kriegen 1912/13 zu Ende ging. Ein unabhängiges Albanien wurde ausgerufen, das freilich nicht den Segen der europäischen Mächte bekam. Schließlich wurde der deutsche Prinz Wilhelm zu Wied als Regent eingesetzt. Er schien geeignet, weil er als Protestant keiner der ortsüblichen Konfessionen angehörte und Deutschland unter den europäischen Mächten das geringste Interesse am Balkan hatte. Der importierte Monarch bekam das Territorium jedoch nicht unter Kontrolle. Nach nur 184 Tagen mußte er Albanien verlassen - rechtzeitig zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Dies ist der Hintergrund der Geschehnisse, die Kadaré ins Jahr 1913 verlegt und kräftig zuspitzt. Am Himmel erscheint ein Komet, auf Erden begleitet von bösen Vorahnungen, Psychosen und politischer Unruhe. Vor allem aber liegt das Wort Komet sehr nahe bei "Komit", der albanischen Bezeichnung für Freischärler. Banden und Privatarmeen ziehen durchs Land, liefern sich Scharmützel mit Truppen ausländischer Mächte, die auf dem Schauplatz herumpfuschen: Italiener, Montenegriner, Serben, Franzosen, Österreicher, Holländer, Türken und Bulgaren, zwecks Täuschung oft in falschen Uniformen. So kann der Lagebericht nicht verwundern: "Die meisten Truppenbewegungen erwiesen sich als unverständlich, sinnlos oder sogar komplett verrückt." Es ist eine blutige Farce, "ein in der Geschichte der Menschheit einmaliges Gedränge". Auch der Leser verliert bald den Überblick, kann die Komiten, Giauren, Esadisten, Mokraren nicht mehr voneinander unterscheiden.
Jeder scheint gegen jeden zu kämpfen, um endlich auf eigene Faust einen Kleinststaat zu gründen. Da gibt es das "Separatistische Orthodoxe Fürstentum Vorio-Epirus", da ruft der Orden der Bektaschi-Derwische ein eigenes Königreich mit dem Berg Tomorr als Hauptstadt aus. Parteien, Ligen, Sekten und Ältestenräte liegen im Dauerstreit, Wahrsager und professionelle Verwünscher haben viel zu tun, Thronprätendenten und falsche Prinzen melden Ansprüche an, Doppel- und Dreifachagenten kolportieren Geheimnisse, und zwischen allen wirkt die Hure Sara Stringa, bei der die politische Gerüchteküche brodelt. Kurz: Der Wochenzeitung "Unglückliches Albanien" gehen die Themen nicht aus.
Mag die Gegenwart erbärmlich sein, die Vergangenheit strahlt um so herrlicher. Pflegte doch in Durrës, einer der ältesten Städte der Menschheit, schon Cicero seine Ferien zu verbringen. Das stärkt den Albanerstolz. Stolzgeschwellt präsentieren sich auch die Helden des Romans: Shestan Verdha, Anführer eines bewaffneten Haufens, der singende Doska Mokrari und der hochgewachsene Alush Gjati, Bauern und reichlich grobianische Gemüter, die sich auf die Suche nach dem Krieg machen.
"Der Krieg ist wie eine Kohlroulade", weiß eine der Figuren. "Drinnen muß ordentlich Fleisch sein." An Fleischfüllung mangelt es dem Roman nicht. Da wird gehauen und gestochen, gekreuzigt und lebendig begraben, da werden Bäuche aufgeschnitten und Leiber zerhackt. Piet de Moor spricht vom "sehr aufregenden Zusammenhang zwischen politischem Geschehen und Körperlichkeit" bei Kadaré. Knapp gesagt: Die Politik bekommt den Körpern schlecht.
Streckenweise spielt das Buch mit dem Ton eines Forschungsberichts, der kritisch Quellen sichtet und "ausländische Gelehrte" zitiert oder korrigiert ("Entgegen den mannigfaltigen Mutmaßungen der Forscher ..."). Solche Wissenschaftlichkeit steht in komischem Kontrast zum militärischen Dilettantismus der Handlung. Überhaupt wird dem Kriegschaos auch eine amüsante Seite abgewonnen, etwa wenn es heißt: "Die Granaten landeten im Suppenkessel, man glaubte einen Hammelkopf zu kochen, doch in Wahrheit war es eine Kanonenkugel." Oder wenn der Armeeführer Uk Bajraktaris den Begriff "Ultimatum" für ein "unter Homosexuellen gebräuchliches Schimpfwort" hält.
Ein Spielverderber könnte einwenden, er interessiere sich überhaupt nicht für die albanische Geschichte. Aber wenn man Anteil an gut erfundenen Figuren nimmt, interessiert man sich auch für ihre Belange, und seien es die verzwickten Gesetzmäßigkeiten der Blutrache wie in "Der zerrissene April", einem von Kadarés besten Büchern. Die Figuren in "Das verflixte Jahr" sind jedoch, muß man leider sagen, ebenso martialisch wie leblos. Zum Chronikstil gehört der Verzicht auf Innenleben. "Ende Juli stieß ein gewisser Xhemal Lufta zu ihnen und mit ihm noch ein anderer, der sich Hyska Shteti nannte." Derart werden die meisten Figuren vorgestellt: als gewisse Ungewisse, über die man außer dem Namen fast nichts erfährt. Da nützen denn auch gelungene Episoden (etwa über die Baklawa, ein Blätterteiggebäck mit starker politischer Symbolik) oder die Anflüge von donquichotteskem Humor nicht viel.
Es fiele leicht, den 1985 im Original erschienenen Roman als prophetisch zu bezeichnen. Die neue Unübersichtlichkeit auf dem Balkan, das ethnische Großreinemachen der neunziger Jahre scheinen im blutigen Chaos des "Verflixten Jahres" vorweggenommen. Nur gewinnt die Lektüre deshalb kaum an Reiz. Ungern möchte man sich angesichts der archaischen Grausamkeiten auf den Sprachgenuß zurückziehen, den die Prosa Kadarés in den Übersetzungen Joachim Röhms zu bieten vermag.
Die leichte Enttäuschung hindert uns aber nicht, Kadarés nächstem Roman erwartungsvoll entgegenzusehen. Im Herbst wird "Der Nachfolger" (2003) auf deutsch erscheinen, ein bereits vielgerühmtes Buch, das offenbar den Ausschlag gab, daß Kadaré im vergangenen Jahr der erstmals verliehene, mit 60000 Pfund dotierte Man Booker International Prize zugesprochen wurde - gegen die Konkurrenz von Autoren wie Márquez, Grass, Kundera, Updike und Philip Roth.
Ismail Kadaré: "Das verflixte Jahr". Roman. Aus dem Albanischen übersetzt und mit einem Glossar versehen von Joachim Röhm. Ammann Verlag, Zürich 2005. 192 S., geb., 17,90 [Euro].
Piet de Moor: "Eine Maske für die Macht". Ismail Kadaré - Schriftsteller in einer Diktatur. Aus dem Niederländischen übersetzt von Marie-Luise Flammersfeld. Ammann Verlag, Zürich 2005. 93 S., br., 12,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wolfgang Schneider hält Ismail Kadares 1985 im Original erschienenen Roman "Das verflixte Jahr" für eine "leichte Enttäuschung", freut sich aber trotzdem oder gerade deshalb auf die baldige Übertragung des neuesten Werks "Der Nachfolger". Das "Verflixte Jahr" ist 1913, in dem nach 500 Jahren osmanischer Fremdherrschaft der albanische Staat aus dem Chaos geboren wird. Die blutigen Kämpfe, die Kadare vor dem historischen Hintergrund schildert, lassen Schneider bald den Überblick verlieren, ob jetzt gerade Komiten und Giauren oder Esadisten und Mokraren sich die Köpfe einschlagen. Da hilft ihm auch der streckenweise eingestreute "Ton eines Forschungsberichts", nichts. Der sorge allenfalls für Komik, meint Schneider. Dem "Sprachgenuss", den die elegante Übersetzung von Joachim Röhm ihm bietet, kann sich Schneider angesichts der zahlreichen Gemetzel leider nicht hingeben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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