Produktdetails
- Verlag: DVA
- 2. Aufl.
- Seitenzahl: 1054
- Abmessung: 235mm
- Gewicht: 1570g
- ISBN-13: 9783421066916
- ISBN-10: 3421066914
- Artikelnr.: 24609749
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.1995"Wir Jüngeren werden nie so viel erleben"
Klaus Hildebrand legt eine souveräne Gesamtdarstellung der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler vor
Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1995. 1072 Seiten. Subskriptionspreis 128,- Mark, vom 1. 9. 1995 an 148,- Mark.
"Das vergangene Reich" von Klaus Hildebrand, um es gleich zu sagen, ist ein Buch, das sich in erster Linie der Geschichtswissenschaft verpflichtet fühlt, der gewissenhaften Rekonstruktion der Außenpolitik des Reiches auf der Grundlage des gegenwärtigen Forschungsstandes. Wie schon im Titel deutlich wird, stellt der Autor das Deutsche Reich, wie es zwischen 1871 und 1945 bestanden hat, als etwas Abgeschlossenes, etwas Vergangenes dar. "Im Grunde kommt es einem so abgelebt vor wie das untergegange Preußen", schreibt er am Ende seines tausendseitigen Werkes.
Mit Blick auf das wiedervereinigte Deutschland bleibt er daher vorsichtig. Durchweg verzichtet er auf Ratschläge, auf Nutzanwendungen seiner sorgfältigen historischen Erkundigungen. "Was aus dem neuen Nationalstaat der Deutschen werden wird, ist im Ungewissen der Zukunft aufgehoben. Im Rückblick auf das vergangene Reich und die ,gescheiterte Großmacht' (Andreas Hillgruber), die Deutschland, Europa und die Welt ein dreiviertel Jahrhundert in Atem gehalten haben, gilt es vor allem, darauf zu vertrauen und dafür zu sorgen, daß die Feststellung Gewißheit erlangt, mit der William Shakespeare seinen ,König Lear' beschließt: Wir Jüngeren werden nie so viel erleben."
Hoffen darf man das, wissen kann man es nicht. Die Deutschen und ihre Nachbarn haben in den Jahrzehnten zwischen 1871 und 1945 viel Schreckliches miteinander erlebt, und erst im Vergleich mit diesen 75 Jahren wird klar, welche Idylle die relative bundesrepublikanische Ruhelage der Jahre bis 1989/90 war. Seither sind die Zeiten, in denen Deutschland weitgehend eigener außenpolitischer Verantwortung enthoben war, unwiderruflich zu Ende gegangen. Die gewachsene internationale Bewegungsfreiheit Deutschlands bringt für uns zugleich neue Pflichten mit sich. Wer dem wiedervereinten deutschen Nationalstaat das Versagen, das Verhängnis seines Vorgängers ersparen will, wird - trotz aller akademischer Zurückhaltung des Autors - viel Lehrreiches, auch heute Beherzigenswertes in Klaus Hildebrands Buch finden.
Zunächst und mehr als alles andere ist das Buch also eine sehr ausführliche, souveräne Gesamtdarstellung der Außenpolitik des Deutschen Reiches. Schlüssig gliedert der Autor sein großes Thema in vier umfangreiche, ihrerseits vielfach untergliederte Kapitel, deren Überschriften das Charakteristische der jeweiligen Epoche einprägsam zusammenfassen: Die Außenpolitik Bismarcks stand "Im Zeichen der Saturiertheit". Seine Nachfolger, besonders Wilhelm II. und Bülow, betrieben Außenpolitik "Im Banne des Prestiges". Das zur Republik gewordene Reich fand im "Streben nach Revision" der Versailler Ordnung seinen außenpolitischen Hauptnenner, während auf der Außenpolitik Hitlers "Der Fluch des Dogmas" lastete.
Die mitunter hochkomplexe Geschichte der außenpolitischen Aktionen und Reaktionen des Deutschen Reiches, den eigentlichen Stoff seiner Untersuchung, zeichnet Hildebrand auf knapp 850 Textseiten, in 126 chronologisch angeordneten Unterkapiteln Vertrag für Vertrag, Konferenz für Konferenz und Krise für Krise, nach. Die Darstellung beruht auf der profunden Kenntnis einer gewaltigen und häufig zitierten Sekundärliteratur und den umfangreichen deutschen wie ausländischen Quellenpublikationen. Der Stil ist sachlich, doch findet Klaus Hildebrand immer wieder Gelegenheit, ein plastisches Quellenzitat oder die pointierte Formulierung eines Fachkollegen in seinen Text einzuflechten, um die manchmal komplizierten diplomatischen Ränkespiele bildhaft, Situationen nachfühlbar zu machen. So spricht die ganze Resignation des schwermütigen Reichskanzlers Bethmann-Hollweg angesichts des herannahenden Krieges aus dem knappen Tagebuch-Eintrag seines Sekretärs Kurt Riezler: "Der Kanzler erwartet von einem Krieg, wie er auch ausgeht, eine Umwälzung alles Bestehenden. Das Bestehende sehr überlebt, ideenlos, ,alles so sehr alt geworden'." Und was Appeasement meint, wird deutlich in einer Bemerkung des britischen Botschafters in Berlin, Sir Neville Henderson. Als sich angesichts des drohenden Anschlusses der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg hilfesuchend an London wandte, bemerkte Henderson einem österreichischen Diplomaten gegenüber: "Sie sind Deutsche; die Deutschen gehören zusammen."
Die Darstellungsform, die Hildebrand wählt, hat Vorzüge. Sie nimmt den Leser bei der Hand und führt ihn Schritt für Schritt, Jahr für Jahr durch die Geschichte der deutschen Außenpolitik. Die Materie erklärt sich mit großer Klarheit beinahe von selbst; Namen, Daten und Inhalte stehen gleichsam in Reih und Glied. Und doch entgehen einem rein chronologischen Schema Fragestellungen, die sich lohnen würden. So finden sich leider keine gesonderten Kapitel über die Instrumente deutscher Außenpolitik, über die Rekrutierung, Ausbildung und Rolle der Diplomaten, über die Strukturen und deren Veränderungen im Auswärtigen Amt, über den Zusammenhang von öffentlicher Meinung und Außenpolitik oder die Rolle organisierter Interessen bei ihrer Formulierung. Die Position des Autors in der Frage eines Primats von Innen- oder Außenpolitik wird deutlich, wenn er - Sebastian Haffner zitierend - im Epilog schreibt: "Mag das Deutsche Reich, wie die einen meinen, von Beginn an todkrank oder, wie die anderen glauben, kerngesund gewesen sein, es ist gewiß nicht an seinen wirtschaftlichen Zuständen und Umständen, nicht einmal an seiner Innenpolitik zugrunde gegangen, sondern an seiner äußeren Lage und an seiner Außenpolitik." Aber genügen solche indirekten, beiläufigen Stellungnahmen? Eine klare Auseinandersetzung mit der von Wehler, Berghahn und anderen vertretenen Hypothese, die kaiserliche Außenpolitik und vor allem der deutsche Imperialismus seien innenpolitisch verursacht gewesen, hätte das Buch mit Sicherheit bereichert.
Auch die umfangreichste Überblicksdarstellung kann freilich nicht alle Fragen behandeln, und so würde man vermutlich die Absicht, die hinter dem Buch steht, mißverstehen, wollte man jede Forschungskontroverse und jedes Desiderat behandelt wissen. "Das vergangene Reich" ist eine geschlossene, äußerst solide ereignisgeschichtliche Darstellung. Im einzelnen finden sich wenig neue oder kontroverse Ergebnisse, vielmehr liegt der Wert des Buches in der Synthese, in der Zusammenschau der großen Kontinuitätslinien und Grundmuster, die sich im Verlauf der Zeit immer deutlicher herauskristallisierten.
Diesen Linien, den Gemeinsamkeiten der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, widmet Klaus Hildebrand einen nachdenklichen, kenntnisreichen Epilog, der unter der Überschrift "Das Deutsche Reich oder Die Versuchung des Unendlichen" das Werk beschließt und mit seinen fünfzig Seiten zum Besten gehört, was zu diesem Thema bislang geschrieben worden ist.
Aus der stattlichen Anzahl von Problemen, die das Bismarck-Reich von vornherein belasteten, schließlich in seinen Untergang führten, lassen sich mit Klaus Hildebrand vor allem drei herausgreifen: die "Erbschaft der Enge", die aus Deutschlands geographischer Mittellage in Europa erwuchs, die Entschlossenheit, "ohne dauerhafte Anlehnung an fremde Potenzen, unabhängig von den Mächten und Weltanschauungen in West und Ost, einen nationalen Eigenweg zu gehen", die "von Anfang an ein gefährliches Element der permanenten Überbürdung" in sich barg, und einen spezifischen Ideenmangel, der zur Folge hatte, " daß der preußisch-deutsche Staatsgedanke einem Vergleich mit dem demokratischen Zivilisationsideal der Angelsachsen, mit der revolutionären Menschen- und Bürgerrechtsprogrammatik der Franzosen wie mit dem russischen Panslawismus und dem sowjetischen Kommunismus nicht standhielt". Diese Dilemmata, die uns auch heute noch aufhorchen lassen sollten, erwiesen sich als äußerst wirkungsmächtig.
Gerade die deutsche Mittellage, die zu einem ständigen Bedrohungsgefühl führte, ergab zusammen mit der Weigerung, sich für eine klare Bündniszuordnung zu entscheiden, ein auf die Dauer verhängnisvolles Gemisch. "Der prinzipiellen Unentschiedenheit korrespondierte ein unberechenbares Entscheidungsverhalten, das (die Deutschen) von Zeit zu Zeit aus der Beengtheit ihrer Lage aufbrechen und neue Grenzen suchen ließ. Weder Norden noch Süden, weder Luther noch Papst, weder Habsburg noch Frankreich, weder Autokratie noch Parlamentarismus, weder Rußland noch England, weder Kapitalismus noch Kommunismus, weder Amerika noch die Sowjetunion zu wählen, all das gehörte zur Tradition des deutschen Strebens nach Neutralität, die ihre Fundamente in der Geschichte hat und die von Preußen, danach von Deutschland als für die Erhaltung seiner Unabhängigkeit notwendig angesehen wurde."
In diese Tradition hinein gründete Bismarck das "ideenlose" Deutsche Reich. Der Gedanke, der seine Außenpolitik nach 1871 inspirierte, war der Versuch, eine "defensive Dominanz des Staates über die unruhige Nation" zu garantieren. Bismarcks Gründung mußte stillhalten, um zu überleben. "Nein, Bewegung war dem Deutschen Reich nach der durch nichts zu widerlegenden Überzeugung des alten Kanzlers ganz und gar abträglich!" Nach dem Abgang Bismarcks kam den kaiserlichen Außenpolitikern dieser eine negative Gedanke, der ihnen schon längst unzeitgemäß schien, völlig abhanden. Rast- und ratlos verfolgte das wilhelminische Reich eine vagabundierende, ziellose Weltpolitik, ohne zuvor die gefährdete Position Deutschlands in Europa gefestigt zu haben. "Europas unmißverständliche Antwort auf die empörende Herausforderung der anmaßenden Deutschen schlug sich in jener Auskreisung des wilhelminischen Reiches nieder, die dieses umgehend als seine ,Einkreisung' beklagt."
Die Weimarer Republik folgte ihrerseits einer negativen außenpolitischen Leitidee, der Revision von Versailles. Diese Idee jedoch hatte selbstzerstörerische Tendenzen, denn für eine umfassende Revision plädierten gerade diejenigen, die die Republik in Frage stellten. Auch Hitlers Außenpolitik stand in der Tradition der großen außenpolitischen Problemstellungen des deutschen Nationalstaates, für die der Führer freilich schreckliche Lösungen bereithielt. "Auf das ererbte Problem der Enge, mit der die Deutschen im Verlauf ihrer modernen Geschichte zu keinem stabilen Ausgleich gelangt waren, suchte Hitler eine totale Antwort zu geben, um das bedrängende Dilemma für immer loszuwerden." Seine Antwort war der Krieg um Raum und Rasse. Die Rassenlehre gab der ängstlich bewahrten Unabhängigkeit des deutschen Nationalstaats eine eschatologische Dimension, und das frühere Vakuum der Ideenlosigkeit füllte nunmehr der Fluch des Dogmas. Und noch in einer weiteren Beziehung knüpfte Hitler, trotz aller Einzigartigkeit, an alte, verhängnisvolle Traditionen an. Denn sein kalkulierter Amoklauf stellte "die letzte Steigerung und gleichzeitig die kriminelle Übersteigerung jener Flucht-nach-vorn-Mentalität dar, die sich aus Verzagtheit und Hochmut, aus Existenzangst und Angriffslust zusammensetzte. Was im Zeichen der sogenannten Realpolitik begonnen hatte, endete im Unwirklichen: Macht verdarb im Verbrechen."
Die Gefahr, daß Deutschland noch einmal aus eigenem Entschluß großes Unheil anrichtet, ist fortan wohl ausgeschlossen. Doch werden wir die Herausforderung unserer geographischen Lage außenpolitisch künftig besser meistern als vor 1945? Sind wir wirklich gegen die Versuchung nationalen Eigensinns in der Zukunft mehr gefeit als gestern? Jürgen von Alten sieht uns seit 1990 auf lauter neuen Sonderwegen.
Wer zu lesen versteht, wird daher bei Hildebrand viele gerade jetzt beherzigenswerte Beobachtungen und Einsichten finden. So schreibt er im Blick auf das 1871 gegründete Reich, was hoffentlich nicht für das wiedervereinigte Deutschland von 1990 gilt: "Zuweilen gehen langersehnte Wünsche in Erfüllung, und dann stellt sich, oftmals erst viel später und in grundsätzlich gewandelter Lage, heraus, daß entweder die Wünsche falsch waren oder die Menschen mit den daraus hervorgegangenen Realitäten nicht auszukommen verstanden." ARNULF BARING
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klaus Hildebrand legt eine souveräne Gesamtdarstellung der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler vor
Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1995. 1072 Seiten. Subskriptionspreis 128,- Mark, vom 1. 9. 1995 an 148,- Mark.
"Das vergangene Reich" von Klaus Hildebrand, um es gleich zu sagen, ist ein Buch, das sich in erster Linie der Geschichtswissenschaft verpflichtet fühlt, der gewissenhaften Rekonstruktion der Außenpolitik des Reiches auf der Grundlage des gegenwärtigen Forschungsstandes. Wie schon im Titel deutlich wird, stellt der Autor das Deutsche Reich, wie es zwischen 1871 und 1945 bestanden hat, als etwas Abgeschlossenes, etwas Vergangenes dar. "Im Grunde kommt es einem so abgelebt vor wie das untergegange Preußen", schreibt er am Ende seines tausendseitigen Werkes.
Mit Blick auf das wiedervereinigte Deutschland bleibt er daher vorsichtig. Durchweg verzichtet er auf Ratschläge, auf Nutzanwendungen seiner sorgfältigen historischen Erkundigungen. "Was aus dem neuen Nationalstaat der Deutschen werden wird, ist im Ungewissen der Zukunft aufgehoben. Im Rückblick auf das vergangene Reich und die ,gescheiterte Großmacht' (Andreas Hillgruber), die Deutschland, Europa und die Welt ein dreiviertel Jahrhundert in Atem gehalten haben, gilt es vor allem, darauf zu vertrauen und dafür zu sorgen, daß die Feststellung Gewißheit erlangt, mit der William Shakespeare seinen ,König Lear' beschließt: Wir Jüngeren werden nie so viel erleben."
Hoffen darf man das, wissen kann man es nicht. Die Deutschen und ihre Nachbarn haben in den Jahrzehnten zwischen 1871 und 1945 viel Schreckliches miteinander erlebt, und erst im Vergleich mit diesen 75 Jahren wird klar, welche Idylle die relative bundesrepublikanische Ruhelage der Jahre bis 1989/90 war. Seither sind die Zeiten, in denen Deutschland weitgehend eigener außenpolitischer Verantwortung enthoben war, unwiderruflich zu Ende gegangen. Die gewachsene internationale Bewegungsfreiheit Deutschlands bringt für uns zugleich neue Pflichten mit sich. Wer dem wiedervereinten deutschen Nationalstaat das Versagen, das Verhängnis seines Vorgängers ersparen will, wird - trotz aller akademischer Zurückhaltung des Autors - viel Lehrreiches, auch heute Beherzigenswertes in Klaus Hildebrands Buch finden.
Zunächst und mehr als alles andere ist das Buch also eine sehr ausführliche, souveräne Gesamtdarstellung der Außenpolitik des Deutschen Reiches. Schlüssig gliedert der Autor sein großes Thema in vier umfangreiche, ihrerseits vielfach untergliederte Kapitel, deren Überschriften das Charakteristische der jeweiligen Epoche einprägsam zusammenfassen: Die Außenpolitik Bismarcks stand "Im Zeichen der Saturiertheit". Seine Nachfolger, besonders Wilhelm II. und Bülow, betrieben Außenpolitik "Im Banne des Prestiges". Das zur Republik gewordene Reich fand im "Streben nach Revision" der Versailler Ordnung seinen außenpolitischen Hauptnenner, während auf der Außenpolitik Hitlers "Der Fluch des Dogmas" lastete.
Die mitunter hochkomplexe Geschichte der außenpolitischen Aktionen und Reaktionen des Deutschen Reiches, den eigentlichen Stoff seiner Untersuchung, zeichnet Hildebrand auf knapp 850 Textseiten, in 126 chronologisch angeordneten Unterkapiteln Vertrag für Vertrag, Konferenz für Konferenz und Krise für Krise, nach. Die Darstellung beruht auf der profunden Kenntnis einer gewaltigen und häufig zitierten Sekundärliteratur und den umfangreichen deutschen wie ausländischen Quellenpublikationen. Der Stil ist sachlich, doch findet Klaus Hildebrand immer wieder Gelegenheit, ein plastisches Quellenzitat oder die pointierte Formulierung eines Fachkollegen in seinen Text einzuflechten, um die manchmal komplizierten diplomatischen Ränkespiele bildhaft, Situationen nachfühlbar zu machen. So spricht die ganze Resignation des schwermütigen Reichskanzlers Bethmann-Hollweg angesichts des herannahenden Krieges aus dem knappen Tagebuch-Eintrag seines Sekretärs Kurt Riezler: "Der Kanzler erwartet von einem Krieg, wie er auch ausgeht, eine Umwälzung alles Bestehenden. Das Bestehende sehr überlebt, ideenlos, ,alles so sehr alt geworden'." Und was Appeasement meint, wird deutlich in einer Bemerkung des britischen Botschafters in Berlin, Sir Neville Henderson. Als sich angesichts des drohenden Anschlusses der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg hilfesuchend an London wandte, bemerkte Henderson einem österreichischen Diplomaten gegenüber: "Sie sind Deutsche; die Deutschen gehören zusammen."
Die Darstellungsform, die Hildebrand wählt, hat Vorzüge. Sie nimmt den Leser bei der Hand und führt ihn Schritt für Schritt, Jahr für Jahr durch die Geschichte der deutschen Außenpolitik. Die Materie erklärt sich mit großer Klarheit beinahe von selbst; Namen, Daten und Inhalte stehen gleichsam in Reih und Glied. Und doch entgehen einem rein chronologischen Schema Fragestellungen, die sich lohnen würden. So finden sich leider keine gesonderten Kapitel über die Instrumente deutscher Außenpolitik, über die Rekrutierung, Ausbildung und Rolle der Diplomaten, über die Strukturen und deren Veränderungen im Auswärtigen Amt, über den Zusammenhang von öffentlicher Meinung und Außenpolitik oder die Rolle organisierter Interessen bei ihrer Formulierung. Die Position des Autors in der Frage eines Primats von Innen- oder Außenpolitik wird deutlich, wenn er - Sebastian Haffner zitierend - im Epilog schreibt: "Mag das Deutsche Reich, wie die einen meinen, von Beginn an todkrank oder, wie die anderen glauben, kerngesund gewesen sein, es ist gewiß nicht an seinen wirtschaftlichen Zuständen und Umständen, nicht einmal an seiner Innenpolitik zugrunde gegangen, sondern an seiner äußeren Lage und an seiner Außenpolitik." Aber genügen solche indirekten, beiläufigen Stellungnahmen? Eine klare Auseinandersetzung mit der von Wehler, Berghahn und anderen vertretenen Hypothese, die kaiserliche Außenpolitik und vor allem der deutsche Imperialismus seien innenpolitisch verursacht gewesen, hätte das Buch mit Sicherheit bereichert.
Auch die umfangreichste Überblicksdarstellung kann freilich nicht alle Fragen behandeln, und so würde man vermutlich die Absicht, die hinter dem Buch steht, mißverstehen, wollte man jede Forschungskontroverse und jedes Desiderat behandelt wissen. "Das vergangene Reich" ist eine geschlossene, äußerst solide ereignisgeschichtliche Darstellung. Im einzelnen finden sich wenig neue oder kontroverse Ergebnisse, vielmehr liegt der Wert des Buches in der Synthese, in der Zusammenschau der großen Kontinuitätslinien und Grundmuster, die sich im Verlauf der Zeit immer deutlicher herauskristallisierten.
Diesen Linien, den Gemeinsamkeiten der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, widmet Klaus Hildebrand einen nachdenklichen, kenntnisreichen Epilog, der unter der Überschrift "Das Deutsche Reich oder Die Versuchung des Unendlichen" das Werk beschließt und mit seinen fünfzig Seiten zum Besten gehört, was zu diesem Thema bislang geschrieben worden ist.
Aus der stattlichen Anzahl von Problemen, die das Bismarck-Reich von vornherein belasteten, schließlich in seinen Untergang führten, lassen sich mit Klaus Hildebrand vor allem drei herausgreifen: die "Erbschaft der Enge", die aus Deutschlands geographischer Mittellage in Europa erwuchs, die Entschlossenheit, "ohne dauerhafte Anlehnung an fremde Potenzen, unabhängig von den Mächten und Weltanschauungen in West und Ost, einen nationalen Eigenweg zu gehen", die "von Anfang an ein gefährliches Element der permanenten Überbürdung" in sich barg, und einen spezifischen Ideenmangel, der zur Folge hatte, " daß der preußisch-deutsche Staatsgedanke einem Vergleich mit dem demokratischen Zivilisationsideal der Angelsachsen, mit der revolutionären Menschen- und Bürgerrechtsprogrammatik der Franzosen wie mit dem russischen Panslawismus und dem sowjetischen Kommunismus nicht standhielt". Diese Dilemmata, die uns auch heute noch aufhorchen lassen sollten, erwiesen sich als äußerst wirkungsmächtig.
Gerade die deutsche Mittellage, die zu einem ständigen Bedrohungsgefühl führte, ergab zusammen mit der Weigerung, sich für eine klare Bündniszuordnung zu entscheiden, ein auf die Dauer verhängnisvolles Gemisch. "Der prinzipiellen Unentschiedenheit korrespondierte ein unberechenbares Entscheidungsverhalten, das (die Deutschen) von Zeit zu Zeit aus der Beengtheit ihrer Lage aufbrechen und neue Grenzen suchen ließ. Weder Norden noch Süden, weder Luther noch Papst, weder Habsburg noch Frankreich, weder Autokratie noch Parlamentarismus, weder Rußland noch England, weder Kapitalismus noch Kommunismus, weder Amerika noch die Sowjetunion zu wählen, all das gehörte zur Tradition des deutschen Strebens nach Neutralität, die ihre Fundamente in der Geschichte hat und die von Preußen, danach von Deutschland als für die Erhaltung seiner Unabhängigkeit notwendig angesehen wurde."
In diese Tradition hinein gründete Bismarck das "ideenlose" Deutsche Reich. Der Gedanke, der seine Außenpolitik nach 1871 inspirierte, war der Versuch, eine "defensive Dominanz des Staates über die unruhige Nation" zu garantieren. Bismarcks Gründung mußte stillhalten, um zu überleben. "Nein, Bewegung war dem Deutschen Reich nach der durch nichts zu widerlegenden Überzeugung des alten Kanzlers ganz und gar abträglich!" Nach dem Abgang Bismarcks kam den kaiserlichen Außenpolitikern dieser eine negative Gedanke, der ihnen schon längst unzeitgemäß schien, völlig abhanden. Rast- und ratlos verfolgte das wilhelminische Reich eine vagabundierende, ziellose Weltpolitik, ohne zuvor die gefährdete Position Deutschlands in Europa gefestigt zu haben. "Europas unmißverständliche Antwort auf die empörende Herausforderung der anmaßenden Deutschen schlug sich in jener Auskreisung des wilhelminischen Reiches nieder, die dieses umgehend als seine ,Einkreisung' beklagt."
Die Weimarer Republik folgte ihrerseits einer negativen außenpolitischen Leitidee, der Revision von Versailles. Diese Idee jedoch hatte selbstzerstörerische Tendenzen, denn für eine umfassende Revision plädierten gerade diejenigen, die die Republik in Frage stellten. Auch Hitlers Außenpolitik stand in der Tradition der großen außenpolitischen Problemstellungen des deutschen Nationalstaates, für die der Führer freilich schreckliche Lösungen bereithielt. "Auf das ererbte Problem der Enge, mit der die Deutschen im Verlauf ihrer modernen Geschichte zu keinem stabilen Ausgleich gelangt waren, suchte Hitler eine totale Antwort zu geben, um das bedrängende Dilemma für immer loszuwerden." Seine Antwort war der Krieg um Raum und Rasse. Die Rassenlehre gab der ängstlich bewahrten Unabhängigkeit des deutschen Nationalstaats eine eschatologische Dimension, und das frühere Vakuum der Ideenlosigkeit füllte nunmehr der Fluch des Dogmas. Und noch in einer weiteren Beziehung knüpfte Hitler, trotz aller Einzigartigkeit, an alte, verhängnisvolle Traditionen an. Denn sein kalkulierter Amoklauf stellte "die letzte Steigerung und gleichzeitig die kriminelle Übersteigerung jener Flucht-nach-vorn-Mentalität dar, die sich aus Verzagtheit und Hochmut, aus Existenzangst und Angriffslust zusammensetzte. Was im Zeichen der sogenannten Realpolitik begonnen hatte, endete im Unwirklichen: Macht verdarb im Verbrechen."
Die Gefahr, daß Deutschland noch einmal aus eigenem Entschluß großes Unheil anrichtet, ist fortan wohl ausgeschlossen. Doch werden wir die Herausforderung unserer geographischen Lage außenpolitisch künftig besser meistern als vor 1945? Sind wir wirklich gegen die Versuchung nationalen Eigensinns in der Zukunft mehr gefeit als gestern? Jürgen von Alten sieht uns seit 1990 auf lauter neuen Sonderwegen.
Wer zu lesen versteht, wird daher bei Hildebrand viele gerade jetzt beherzigenswerte Beobachtungen und Einsichten finden. So schreibt er im Blick auf das 1871 gegründete Reich, was hoffentlich nicht für das wiedervereinigte Deutschland von 1990 gilt: "Zuweilen gehen langersehnte Wünsche in Erfüllung, und dann stellt sich, oftmals erst viel später und in grundsätzlich gewandelter Lage, heraus, daß entweder die Wünsche falsch waren oder die Menschen mit den daraus hervorgegangenen Realitäten nicht auszukommen verstanden." ARNULF BARING
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"Eine beeindruckende Leistung, die sich einreiht in die großen Synthesen deutscher Geschichtsschreibung der vergangenen Jahre." Volker Ullrich, Die Zeit "Die wohl für viele Jahre definitive Geschichte der Außenpolitik des Deutschen Reiches von 1871, geschrieben im Bewusstsein des Rückblicks auf eine endgültig abgeschlossene historische Epoche." Lothar Gall