Seit Aufstellung der Bundeswehr 1955 verloren über 3300 Soldaten ihr Leben im Dienst. Nur eine Minderheit von ihnen fiel in Kampfeinsätzen. Die weitaus meisten kamen bei Unfällen ums Leben. Das stets wiederholte Versprechen, all diesen Toten ein öffentliches Andenken zu bewahren, verhallte. Erst mit Beginn des Afghanistan-Einsatzes 2002 setzte ein Umdenken ein, das in der Einweihung des Berliner Ehrenmales der Bundeswehr 2009 seinen vorläufigen Höhepunkt fand. Seitdem gedenkt die Bundeswehr offiziell und öffentlich ihrer toten Soldaten. Warum verweigerte die Bundeswehr so lange ein öffentlich sichtbares und dauerhaftes Gedenken? Julia Katharina Nordmann beleuchtet die komplexen Ursachen für dieses Verhalten. Sie rekonstruiert zugleich den langen und mühsamen Prozess, der zur Ausbildung einer Gedenkkultur geführt hat, die heute in vielfältiger Weise die Toten der Bundeswehr würdigt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2022Den Platz, den sie verdienen
Viele Jahrzehnte waren tote Soldaten in der Bundeswehr ein Tabu. Gedacht wurde der Toten der Wehrmacht. Beides ist Geschichte.
Von Lorenz Hemicker
Die Kultur eines Volkes erkennt man daran, wie es mit seinen Toten umgeht." Zugeschrieben wird dieses Zitat Perikles, einem der führenden Staatsmänner Athens, der vor knapp 2500 Jahren starb. Legt man seine Worte als Maßstab an, lassen sich in Deutschland gegenwärtig zwei Entwicklungen beobachten: Die eine kann jeder verfolgen, der mit offenen Augen über einen Friedhof schlendert. Der Anteil anonymer Gräber nimmt zu, Plätze, an denen Angehörige, Freunde und Bekannte ihrer Verstorbenen öffentlich sichtbar gedenken, schwinden. Die andere vollzieht sich ob der geringen Zahl für die meisten Deutschen unsichtbar und weist in die umgekehrte Richtung. Für die über 3300 Soldaten der Bundeswehr, die während ihres Dienstes ihr Leben verloren, entwickelt sich in Deutschland eine offizielle und öffentliche Trauer- und Gedenkkultur, die es über viele Jahrzehnte hierzulande nicht gegeben hat.
Eine umfassende Antwort auf die Frage, warum das lange Zeit so war und nun nicht mehr so ist, hat Julia Katharina Nordmann vorgelegt. In ihrer 515 Seiten langen Dissertation führt sie den Beweis, dass in erster Linie systemimmanente Gründe dafür ausschlaggebend waren, dass die Institution Bundeswehr ihre Toten lange Zeit so gut und schnell es ging vergaß. Ferner zeigt sie, dass es die Auslandseinsätze nach dem Ende des - man mag inzwischen "ersten" schreiben - Ost-West-Konflikts waren, die zu einem Umdenken führten.
Die vielfältigen Gründe für die "institutionelle Amnesie", wie es Jochen Rack 2009 in der "Süddeutschen Zeitung" formulierte, der Bundeswehr in ihren ersten vier Jahrzehnten verdichtet Nordmann in drei Erklärungsansätzen. Da wäre zunächst der zeitgeschichtliche Kontext in der jungen Bundesrepublik. Einer Gesellschaft also, die buchstäblich in Trümmern lag und nach der vernichtenden Niederlage im Zweiten Weltkrieg Millionen toter Soldaten und Zivilisten zu verarbeiten hatte. Eine Mehrheit der Westdeutschen lehnte damals, trotz des Kalten Kriegs, die Wiederbewaffnung ab, ganz zu schweigen von neuen toten deutschen Soldaten oder gar einem Opfer- oder Heldenkult, der bis 1945 von den Nationalsozialisten praktiziert worden war.
Auch die Reformer beim Aufbau der Bundeswehr um Wolf Graf von Baudissin lehnten jegliche Form des öffentlichen Gedenkens ab. Nordmann schildert, wie Baudissin, der Vater des bis heute gültigen Konstrukts des Staatsbürgers in Uniform, unter dem Eindruck der Blockkonfrontation und der durch Atomwaffen denkbar gewordenen vollständigen gegenseitigen Vernichtung das Kämpfen, Töten und Getötetwerden vom Selbstverständnis des Soldaten "abspaltete". Zugleich habe er versucht, die Verklärung der Opfer zu verhindern, die, so Baudissin, die Getöteten "entmenschlicht und zum bloßen Kampfmittel, zum reinen Kriegsmittel" degradiert habe.
Schließlich, so Nordmann, lehnte auch das Gros der Generale und Offiziere der Bundeswehr, die anfangs fast alle aus der Wehrmacht stammten, öffentliche Ehrungen getöteter Bundeswehrsoldaten ab. Die Traditionalisten in der Truppe, ebenso wie die mit ihnen aufs Engste verflochtenen Veteranenverbände, wollten lieber ihrer gefallenen Kameraden aus dem Zweiten Weltkrieg gedenken und ihr Wirken als Vorbild darstellen - was auch ihnen selbst zugutekam. Unfallopfer seien dem gegenüber Tote zweiter Klasse und damit "grundsätzlich weniger erinnerungswürdig" gewesen.
Dass die Wehrmachtsveteranen zu Unrecht auf die Toten der Bundeswehr herabschauten, wird ersichtlich, wenn Nordmann anführt, wie sich ein Soldat auf eine Granate wirft, um seine Kameraden zu schützen, oder Kampfpiloten so lange in ihren abstürzenden Starfightern bleiben, bis sie keine Gefahr für nahe Ortschaften sind und ein sicherer Ausstieg für sie unmöglich wird. Nichtsdestotrotz - für die Aufbaugeneration, schreibt Nordmann, hatten die Toten nicht nur einfach einen geringeren Wert. Manche wurden "nicht einmal dauerhaft erfasst, sondern schlicht vergessen".
Der 14. Oktober 1993 markiert für die Autorin einen Einschnitt. An diesem Tag verlor Feldwebel Alexander Arndt in Phnom Penh, der erste deutsche Soldat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sein Leben im Auslandseinsatz. Es ist der Beginn eines Prozesses, der sich rund ein Jahrzehnt später in Afghanistan verschärft und angesichts vieler Anschlagsopfer und Gefallener am Hindukusch in einer Umwälzung der offiziellen Gedenkkultur für getötete Bundeswehrsoldaten mündet. Das Sterben, von Baudissin zur Nebensache erklärt, rückt so in einem strategisch völlig anderen Umfeld zurück ins Zentrum des Soldatenberufs.
Die Einweihung des zentralen Ehrenmals der Bundeswehr 2009, auf dem Gelände des Verteidigungsministeriums in Berlin, stellt für Nordmann den Beginn "einer dauerhaften gedenk- und erinnerungspolitischen Kehrtwende" dar. Dabei ist das Denkmal, in dem aller Toten der Bundeswehr gedacht wird, nur ein Ausschnitt. Nordmann zeigt, wie facettenreich die öffentliche Gedenk- und Erinnerungskultur der Bundeswehr mittlerweile geworden ist, beginnend mit öffentlichen Gottesdiensten für Gefallene unter Teilnahme führender Politiker über den Wald der Erinnerung in Potsdam, die (teilweise) Umwidmung von Denkmälern und Gedenkstätten bis hin zu Ehrengräbern und den kameradschaftlichen und binnenmilitärischen Erinnerungsstätten in ihren jeweiligen Kasernen.
Die Gefahr eines Rückfalls in die Zeiten blinder Heldenverehrung sieht Nordmann in der vielfältigen Gedenklandschaft der Bundeswehr nicht. Der im Dienst ums Leben gekommenen Soldaten werde in der Truppe "ohne Heldenpathos gedacht und ohne Sakralisierung des Todes". Stattdessen stünden "die persönlichen und professionellen Qualitäten sowie die Einsatz- und Opferbereitschaft" der Toten im Mittelpunkt. "Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger."
Seit 2018 trägt auch die erste Kaserne den Namen eines Bundeswehr-Gefallenen. Ihr Namensgeber, Hauptfeldwebel Tobias Lagenstein, starb bei einem Anschlag, 2011, als Personenschützer im Gouverneurspalast der Stadt Taloqan, im Norden Afghanistans. Mit ihrem Buch liefert Nordmann eine bemerkenswerte Kartographie der Trauer- und Gedenkkultur der Bundeswehr; wohl wissend, das künftige Opfer weiteren Wandel mit sich bringen werden. Die Hoffnung, dass sie ausbleiben, ist in diesem Jahr nicht gewachsen.
Julia Katharina Nordmann: Das vergessene Gedenken. Die Trauer und Gedenkkultur der Bundeswehr.
De Gruyter Oldenbourg Verlag, Berlin 2022. 515 S., 51,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viele Jahrzehnte waren tote Soldaten in der Bundeswehr ein Tabu. Gedacht wurde der Toten der Wehrmacht. Beides ist Geschichte.
Von Lorenz Hemicker
Die Kultur eines Volkes erkennt man daran, wie es mit seinen Toten umgeht." Zugeschrieben wird dieses Zitat Perikles, einem der führenden Staatsmänner Athens, der vor knapp 2500 Jahren starb. Legt man seine Worte als Maßstab an, lassen sich in Deutschland gegenwärtig zwei Entwicklungen beobachten: Die eine kann jeder verfolgen, der mit offenen Augen über einen Friedhof schlendert. Der Anteil anonymer Gräber nimmt zu, Plätze, an denen Angehörige, Freunde und Bekannte ihrer Verstorbenen öffentlich sichtbar gedenken, schwinden. Die andere vollzieht sich ob der geringen Zahl für die meisten Deutschen unsichtbar und weist in die umgekehrte Richtung. Für die über 3300 Soldaten der Bundeswehr, die während ihres Dienstes ihr Leben verloren, entwickelt sich in Deutschland eine offizielle und öffentliche Trauer- und Gedenkkultur, die es über viele Jahrzehnte hierzulande nicht gegeben hat.
Eine umfassende Antwort auf die Frage, warum das lange Zeit so war und nun nicht mehr so ist, hat Julia Katharina Nordmann vorgelegt. In ihrer 515 Seiten langen Dissertation führt sie den Beweis, dass in erster Linie systemimmanente Gründe dafür ausschlaggebend waren, dass die Institution Bundeswehr ihre Toten lange Zeit so gut und schnell es ging vergaß. Ferner zeigt sie, dass es die Auslandseinsätze nach dem Ende des - man mag inzwischen "ersten" schreiben - Ost-West-Konflikts waren, die zu einem Umdenken führten.
Die vielfältigen Gründe für die "institutionelle Amnesie", wie es Jochen Rack 2009 in der "Süddeutschen Zeitung" formulierte, der Bundeswehr in ihren ersten vier Jahrzehnten verdichtet Nordmann in drei Erklärungsansätzen. Da wäre zunächst der zeitgeschichtliche Kontext in der jungen Bundesrepublik. Einer Gesellschaft also, die buchstäblich in Trümmern lag und nach der vernichtenden Niederlage im Zweiten Weltkrieg Millionen toter Soldaten und Zivilisten zu verarbeiten hatte. Eine Mehrheit der Westdeutschen lehnte damals, trotz des Kalten Kriegs, die Wiederbewaffnung ab, ganz zu schweigen von neuen toten deutschen Soldaten oder gar einem Opfer- oder Heldenkult, der bis 1945 von den Nationalsozialisten praktiziert worden war.
Auch die Reformer beim Aufbau der Bundeswehr um Wolf Graf von Baudissin lehnten jegliche Form des öffentlichen Gedenkens ab. Nordmann schildert, wie Baudissin, der Vater des bis heute gültigen Konstrukts des Staatsbürgers in Uniform, unter dem Eindruck der Blockkonfrontation und der durch Atomwaffen denkbar gewordenen vollständigen gegenseitigen Vernichtung das Kämpfen, Töten und Getötetwerden vom Selbstverständnis des Soldaten "abspaltete". Zugleich habe er versucht, die Verklärung der Opfer zu verhindern, die, so Baudissin, die Getöteten "entmenschlicht und zum bloßen Kampfmittel, zum reinen Kriegsmittel" degradiert habe.
Schließlich, so Nordmann, lehnte auch das Gros der Generale und Offiziere der Bundeswehr, die anfangs fast alle aus der Wehrmacht stammten, öffentliche Ehrungen getöteter Bundeswehrsoldaten ab. Die Traditionalisten in der Truppe, ebenso wie die mit ihnen aufs Engste verflochtenen Veteranenverbände, wollten lieber ihrer gefallenen Kameraden aus dem Zweiten Weltkrieg gedenken und ihr Wirken als Vorbild darstellen - was auch ihnen selbst zugutekam. Unfallopfer seien dem gegenüber Tote zweiter Klasse und damit "grundsätzlich weniger erinnerungswürdig" gewesen.
Dass die Wehrmachtsveteranen zu Unrecht auf die Toten der Bundeswehr herabschauten, wird ersichtlich, wenn Nordmann anführt, wie sich ein Soldat auf eine Granate wirft, um seine Kameraden zu schützen, oder Kampfpiloten so lange in ihren abstürzenden Starfightern bleiben, bis sie keine Gefahr für nahe Ortschaften sind und ein sicherer Ausstieg für sie unmöglich wird. Nichtsdestotrotz - für die Aufbaugeneration, schreibt Nordmann, hatten die Toten nicht nur einfach einen geringeren Wert. Manche wurden "nicht einmal dauerhaft erfasst, sondern schlicht vergessen".
Der 14. Oktober 1993 markiert für die Autorin einen Einschnitt. An diesem Tag verlor Feldwebel Alexander Arndt in Phnom Penh, der erste deutsche Soldat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sein Leben im Auslandseinsatz. Es ist der Beginn eines Prozesses, der sich rund ein Jahrzehnt später in Afghanistan verschärft und angesichts vieler Anschlagsopfer und Gefallener am Hindukusch in einer Umwälzung der offiziellen Gedenkkultur für getötete Bundeswehrsoldaten mündet. Das Sterben, von Baudissin zur Nebensache erklärt, rückt so in einem strategisch völlig anderen Umfeld zurück ins Zentrum des Soldatenberufs.
Die Einweihung des zentralen Ehrenmals der Bundeswehr 2009, auf dem Gelände des Verteidigungsministeriums in Berlin, stellt für Nordmann den Beginn "einer dauerhaften gedenk- und erinnerungspolitischen Kehrtwende" dar. Dabei ist das Denkmal, in dem aller Toten der Bundeswehr gedacht wird, nur ein Ausschnitt. Nordmann zeigt, wie facettenreich die öffentliche Gedenk- und Erinnerungskultur der Bundeswehr mittlerweile geworden ist, beginnend mit öffentlichen Gottesdiensten für Gefallene unter Teilnahme führender Politiker über den Wald der Erinnerung in Potsdam, die (teilweise) Umwidmung von Denkmälern und Gedenkstätten bis hin zu Ehrengräbern und den kameradschaftlichen und binnenmilitärischen Erinnerungsstätten in ihren jeweiligen Kasernen.
Die Gefahr eines Rückfalls in die Zeiten blinder Heldenverehrung sieht Nordmann in der vielfältigen Gedenklandschaft der Bundeswehr nicht. Der im Dienst ums Leben gekommenen Soldaten werde in der Truppe "ohne Heldenpathos gedacht und ohne Sakralisierung des Todes". Stattdessen stünden "die persönlichen und professionellen Qualitäten sowie die Einsatz- und Opferbereitschaft" der Toten im Mittelpunkt. "Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger."
Seit 2018 trägt auch die erste Kaserne den Namen eines Bundeswehr-Gefallenen. Ihr Namensgeber, Hauptfeldwebel Tobias Lagenstein, starb bei einem Anschlag, 2011, als Personenschützer im Gouverneurspalast der Stadt Taloqan, im Norden Afghanistans. Mit ihrem Buch liefert Nordmann eine bemerkenswerte Kartographie der Trauer- und Gedenkkultur der Bundeswehr; wohl wissend, das künftige Opfer weiteren Wandel mit sich bringen werden. Die Hoffnung, dass sie ausbleiben, ist in diesem Jahr nicht gewachsen.
Julia Katharina Nordmann: Das vergessene Gedenken. Die Trauer und Gedenkkultur der Bundeswehr.
De Gruyter Oldenbourg Verlag, Berlin 2022. 515 S., 51,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Lorenz Hemicker liest Julia Katharina Nordmanns Dissertation mit Interesse. Wie sich das offizielle Gedenken bei der Bundeswehr im Lauf der Zeit wandelte, schildert die Autorin laut Hemicker umfangreich und verdichtet in "drei Erklärungsansätzen". Hemicker entdeckt mit Nordmann Veränderungen der Gedenkkultur bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Kambodscha und Afghanistan und die erinnerungspolitische Kehrtwende mit der Einweihung des Ehrenmals am Bundesverteidigungsministerium. Mit Heldenverehrung hat das für die Autorin aber nichts zu tun, meint Hemicker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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