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Der aus Sansibar stammende Abdulrazak Gurnah erzählt in seinem Roman "Das verlorene Paradies" von vielen miteinander konkurrierenden afrikanischen Kulturen und vom Erwachsenwerden des jungen Yusuf. Im Alter von zwölf Jahren wird Yusuf von seinen Eltern dem reichen Händler Aziz übergeben. Bei ihm verbringt er seine Jugend, die ein Ende findet, als er von Aziz auf eine Karawane ins Landesinnere mitgenommen wird. Auf dieser Reise begegnet Yusuf vielen Gefahren, Enttäuschungen, Krankheit und Tod. Er erlebt eine Welt, die dem Untergang geweiht ist; die Kolonialisierung durch die Europäer beginnt gerade Spuren zu hinterlassen.…mehr

Produktbeschreibung
Der aus Sansibar stammende Abdulrazak Gurnah erzählt in seinem Roman "Das verlorene Paradies" von vielen miteinander konkurrierenden afrikanischen Kulturen und vom Erwachsenwerden des jungen Yusuf. Im Alter von zwölf Jahren wird Yusuf von seinen Eltern dem reichen Händler Aziz übergeben. Bei ihm verbringt er seine Jugend, die ein Ende findet, als er von Aziz auf eine Karawane ins Landesinnere mitgenommen wird. Auf dieser Reise begegnet Yusuf vielen Gefahren, Enttäuschungen, Krankheit und Tod. Er erlebt eine Welt, die dem Untergang geweiht ist; die Kolonialisierung durch die Europäer beginnt gerade Spuren zu hinterlassen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Dirk Knipphals freut sich über die neue Aufmerksamkeit für Abdulrazak Gurnahs Romane. Die nach der Nobelpreisverleihung an Gurnah erfolgte Neuausgabe des vorliegenden Romans führt den Leser laut Knipphals nach Ostafrika in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und mitten hinein in eine multiethnische Gemengelage und den europäischen Kolonialismus. Vor diesem Hintergrund erzählt der Autor laut Knipphals die Coming-of-Age-Geschichte seines Helden Yusuf, der von der Reise einer Handelskarawane zurückkehrt. Besonders an der Geschichte ist für den Rezensenten einerseits das Nebeneinander von Schönheit und Grauen und ein gewisser "poetischer Überfluss", der eine Kluft zwischen den Erlebnissen der Figuren und ihren Erzählungen darüber sichtbar macht, andererseits der "tragische Grundton" des Buches.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.12.2021

Wer will
die Freiheit?
Abdulrazak Gurnahs nobel-prämierter
Roman „Das verlorene Paradies“
stört das Schwarz-Weiß-Denken
über den Kolonialismus empfindlich
VON FELIX STEPHAN
Einer der beharrlichsten Binnenwidersprüche der Gegenwartsliteratur betrifft den Großbereich des postkolonialen Erzählens amerikanischer Provenienz: Einerseits ist diese Literatur angetreten, den Eurozentrismus endlich und grundlegend zu überwinden, andererseits zitiert sie kein Buch so häufig wie die Bibel. Ta-Nehisi Coates variiert in seinen Romanen, Comics und Filmen immer wieder das Motiv des messianischen Erlösers, James Baldwins Roman „Go tell it on the mountain“ ist eine brillante Variation auf den frommen Südstaaten-Gospel, und auch die Gedichte von Amanda Gorman stellen ihre Fallhöhe vorzugsweise anhand von Bibelbezügen her.
Insofern ist es vielleicht schon eine Nachricht, dass der Roman „Das verlorene Paradies“, für den dem tansanischen Schriftsteller Abdulrazak Gurnah soeben der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde, nicht die Bibel zur Grundlage hat, sondern den Koran. Die Geschichte spielt in den 1910er-Jahren auf dem Gebiet des heutigen Tansania, zu jener Zeit noch Teil der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Der maßgebliche kulturelle Austausch aber bestand seit Jahrhunderten im Handel mit Arabien und Indien. Über Europa wird in dieser Gegend insgesamt sehr wenig nachgedacht. Die Küste Ostafrikas ist im 19. Jahrhundert ein kultureller melting pot, alle sprechen Kiswahili und Arabisch durcheinander, aber die weit entfernten Orte, über die sich die Figuren die wundersamsten Legenden erzählen, heißen nicht London und Paris, sondern Bombay und Gujarat.
In diesem Umfeld wird in einem abgelegenen Dorf im Hinterland in eine bitterarme Familie der kleine Yusuf geboren, dessen Leben sich fortan bis ins Detail genauso entwickelt wie das des Propheten Yusuf im Koran. Im Koran wird Yusuf – ähnlich wie Joseph in der christlichen Bibel – als Junge nach Ägypten gebracht und dort an einen Offizier des Pharaos verkauft. Er arbeitet in der Vorratskammer und wächst zu einem außergewöhnlich schönen Jungen heran, der das Interesse der Ehefrau des Offiziers weckt. Sie versucht, Yusuf zu verführen, aber da er ihre Avancen zurückweist, behauptet sie, er habe im Gegenteil sie verführen wollen, und er landet im Gefängnis.
Genauso ergeht es nun dem Yusuf in Gurnahs Roman. Als sein Vater die Schulden nicht mehr bedienen kann, verkauft er ihn an einen reichen Kaufmann, den Yusuf als „Onkel Aziz“ kennt und den er wirklich für seinen Onkel hält. Fortan arbeitet er in Onkel Aziz’ kleinem Laden in einem Handelsstädtchen an der Küste. Ein paar Jahre später beginnt die Frau des Kaufmanns, ihn wegen seiner Schönheit anzuhimmeln, verführt ihn, wird abgewiesen und bezichtigt ihn daraufhin öffentlich der Unzucht.
Wie Yusuf im Koran wird auch er von prophetischen Träumen geplagt, und auch er steht, nachdem ihn seine Familie verkauft hat, der Vorratskammer seines neuen Herrn vor. Allerdings dauert es bei Gurnah Jahre, bis der Junge versteht, dass er ein Sklave ist und seine Eltern nie wiedersehen wird. Sklavenhandel war in Ostafrika jahrhundertelang ein blühendes Geschäft, lange bevor die Europäer das Land kolonialisiert haben. Es wurde vor allem von Arabern betrieben.
Vor dem Hintergrund der postkolonialen Empfindsamkeit in Europa und den USA ist es ein schönes Wagnis, vom präkolonialen Tansania anhand eines Sklaven zu erzählen, dessen Biografie dem Koran entlehnt ist, der Heiligen Schrift der einstigen Sklavenhändler. Erstens stellt sich Gurnah damit dem Problem, von einer Welt zu erzählen, die von den Europäern ausgelöscht wurde, ohne sie im selben Moment zu idealisieren und damit wiederum zu entmündigen. Und zweitens suspendiert er die allgegenwärtige, gedanklich aber weitgehend unproduktive Idee, in Afrika sei alles in guter und harmonischer Ordnung gewesen, bevor die Europäer den Kontinent verwüstet haben.
Um das Tansania, wie Gurnah es erzählt, wäre es jedenfalls im Zweifel nicht schade, es herrschen brutale Willkür und das Recht des Stärkeren. Eltern setzen ihre Kinder im Geschäftsleben routinemäßig als Sicherheit ein, Sklavenhändler entführen fünfjährige Mädchen auf offener Straße, real existierender Kindesmissbrauch wird auf der Straße beim Tee diskutiert wie Pferderennen. Öffentliche Folter ist schnell angeordnet, die Umstehenden bejubeln das Spektakel. Der Roman erzählt von einer Welt, die auch ohne die Europäer aus eigener Kraft verkommen ist und die ihre Unschuld nicht einfach dadurch wiedererlangt, dass bald darauf die Schrecken der Kolonisation über sie hereinbrechen.
Gurnah war 16 Jahre alt, als Tansania 1964 die Unabhängigkeit erlangte und die halbautonome Insel Sansibar daraufhin in bürgerkriegsartige Zustände abglitt, die man auf dem Kontinent zuvor nur in Ruanda gesehen hatte. Auf ethnische Araber und Inder wurde geradezu Jagd gemacht, plötzlich prägte ein Ausmaß von Gewalt den Alltag, das bis dato undenkbar war und die wohl nicht zuletzt zur Folge hatte, dass der junge Abdulrazak Gurnah auf ewig für die rhetorische Romantisierung des präkolonialen Afrikas verloren war. In einem Gespräch an seiner Universität in Kent hat Gurnah einmal erzählt, wie zur der Zeit ein Mann mit einem Gewehr in eine Moschee gelaufen sei, alle Anwesenden erschossen habe, darunter Kinder, und es danach keinerlei Konsequenzen gab: „Als wäre es nie passiert.“
Der Roman dreht sich in diesem Sinne weniger um die Frage der kolonialen Schuldverteilung zwischen dem imperialen Europa und der afrikanischen Peripherie als vielmehr um zwei verschiedene Freiheitsbegriffe, und zwar den stoischen und den epikureischen, wie Carlo Schmid sie einmal entworfen hat: In der stoischen Lehre ist nur derjenige frei, der sich an den öffentlichen Angelegenheiten beteiligen kann, wozu zwangsläufig bürgerliche Rechte nötig sind. Die epikureische Lehre hingegen zählt großzügig auch die innere Freiheit mit, die im Zweifel auch ein Sklave erlangen kann, wenn er etwa die Schönheit eines Gartens bewundert und seine Gedanken wandern lässt.
Als Yusuf versteht, dass er ein Sklave ist und Onkel Aziz keineswegs sein Onkel, sondern sein Besitzer und Entführer, wendet er sich der Reihe nach an die anderen Sklaven, die für den Kaufmann arbeiten müssen, um mit ihnen die Möglichkeit einer Flucht zu erörtern. Yusuf ist in Carlo Schmids Sinne Stoiker, er drängt zur bürgerlichen Freiheit hin, und dafür muss er der Sklaverei entfliehen.
Er hat den Dschungel im Landesinneren gesehen und beschreibt anderen Sklaven, was sie dort erwartet als „riesiges, rotes Land“ mit Wasserfällen, die schöner sind als alles, was man je gesehen habe; alles sei vollkommen: „Du konntest Gott atmen hören. (...) Überall pulsierte und summte und bebte es von Geräuschen.“ Das Hinterland, so beschreibt es Yusuf, sehe aus wie „die Tore des Paradieses“.
Die anderen Sklaven aber schlagen die Freiheit aus diesen oder jenen Gründen aus. Sein Freund und Mitsklave Khalil etwa entgegnet ihm: „Und wer lebt in diesem Paradies? Wilde und Diebe, die unschuldige Händler berauben und ihre eigenen Brüder für irgendwelchen Krimskrams verschachern.“
Der alte Gärtner Mzee Hamdani, dem die Freiheit sogar einmal angeboten wurde, der sie aber abgelehnt hat, antwortet Yusuf ganz im epikureischen Sinne: „Wenn diese Leute sagen ,du gehörst mir, ich besitze dich‘, ist dies wie ein vorübergehender Regenschauer oder das Untergehen der Sonne am Ende des Tages. Am nächsten Morgen wird die Sonne wieder aufgehen, ob es ihnen gefällt oder nicht. Genauso ist es mit der Freiheit. Sie können dich einsperren, dich in Ketten legen, alle deine kleinen Sehnsüchte missbrauchen, aber Freiheit, das ist etwas, das sie dir nicht wegnehmen können.“ Yusuf traut seinen Ohren nicht: Von den Sklaven des Kaufmanns ist er der einzige, der überhaupt fliehen möchte. Alle anderen ziehen die Unterwerfung der Freiheit vor.
Die Deutschen haben sich für Abdulrazak Gurnahs Romane bislang kaum interessiert, obwohl sie dauernd darin vorkommen. Bis 1918 war Tansania deutsche Kolonie, schwitzend und keuchend exerzieren sich die wilhelminischen Offiziere durch Gurnahs Romanlandschaften. Er zeichnet sie fast mitleidsvoll: Rotgesichtige, empfindsame, homosexuelle Schiller-Leser sind das, die selbst kaum begreifen, wie sie an diesem schwülen, unwirtlichen Ende der Welt gelandet sind, und ziellos Einheimische foltern, aufhängen und in Zweierreihen antreten lassen. „Die Kaufleute sprachen mit Verwunderung von den Europäern“, heißt es an einer Stelle, „eingeschüchtert von ihrer Wildheit und Rücksichtslosigkeit.“
Für einige Figuren aber bedeutet die Ankunft der Europäer auch eine neue Chance: Der arabische Sklavenhandel wird schwieriger, neue Geschäftsmöglichkeiten tun sich auf, an einer Stelle sind es die Deutschen, die Yusuf in letzter Minute das Leben retten. Wenn es um die Verantwortung für die Verbrechen geht, die auf dem Gebiet des heutigen Tansania im Laufe der Jahrhunderte begangen wurden, verkompliziert Gurnah die Debatte, wo immer er kann.
„Das verlorene Paradies“ endet im dröhnenden Gleichschritt deutscher Truppen, die sich durch das verschlafene Dorf walzen, marschierend kündigen sie die Katastrophe an, den heraufziehenden Ersten Weltkrieg, der auch an der Grenze zwischen den englischen und den deutschen Kolonien brutal ausgetragen wird. Ein ganz ähnliches Schlussbild übrigens wie in Thomas Manns „Zauberberg“, ein Schriftsteller, der von der Joseph-Figur nicht weniger fasziniert war als Abdulrazak Gurnah.
Sklavenhandel war
in Ostafrika jahrhundertelang
ein blühendes Geschäft
Die Deutschen haben sich
für seine Romane
bislang kaum interessiert
Abdulrazak Gurnah:
Das verlorene Paradies.
Roman.
Aus dem Englischen von Inge Leipold. Penguin Verlag, München 2021. 333 Seiten, 25 Euro.
„Überall pulsierte und summte und bebte es von Geräuschen“ sagt Yusuf über das Landesinnere von Tansania, „Du konntest Gott atmen hören“: Kampf zwischen lokalen Kräften und deutschen Truppen in Deutsch-Ostafrika auf einem Gemälde von Themistokles von Eckenbrecher, 1896.
Foto: Themistokles von eckenbrecher/gemeinfrei
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»Unterhaltsamer und aufrichtiger kann Humanismus kaum dargestellt werden.« Deutschlandfunk "Büchermarkt", Jan Drees