Die faszinierende Lebensgeschichte von Hugo Simon, Wegbegleiter von Samuel Fischer und Thomas Mann!
Als Rafael Cardoso zufällig auf Briefe und Dokumente seines Urgroßvaters stößt, ist seine Neugierde geweckt. Wer war Hugo Simon? Seine Nachforschungen führen ihn von São Paulo nach Berlin, wo er dem Familiengeheimnis auf die Spur kommt: Hugo Simon war nicht nur Bankier in der Weimarer Republik, er war auch enger Berater von Samuel Fischer, Besitzer von Munchs »Der Schrei«; Albert Einstein ging bei ihm ein und aus, Alfred Döblin verewigte den Freund in einem Roman.
Rafael Cardoso verfolgt die schillernde Biographie seines Urgroßvaters bis zu dessen Exil in Brasilien und lässt - ganz nah an der Geschichte und ihren Protagonisten - jüdisch-europäisches Leben im 20. Jahrhundert auferstehen. Eine faszinierend reiche Familienchronik, eine behutsame Erkundung von Besitz, Verlust und Identität, vor allem aber vom Wert der Erinnerung.
Als Rafael Cardoso zufällig auf Briefe und Dokumente seines Urgroßvaters stößt, ist seine Neugierde geweckt. Wer war Hugo Simon? Seine Nachforschungen führen ihn von São Paulo nach Berlin, wo er dem Familiengeheimnis auf die Spur kommt: Hugo Simon war nicht nur Bankier in der Weimarer Republik, er war auch enger Berater von Samuel Fischer, Besitzer von Munchs »Der Schrei«; Albert Einstein ging bei ihm ein und aus, Alfred Döblin verewigte den Freund in einem Roman.
Rafael Cardoso verfolgt die schillernde Biographie seines Urgroßvaters bis zu dessen Exil in Brasilien und lässt - ganz nah an der Geschichte und ihren Protagonisten - jüdisch-europäisches Leben im 20. Jahrhundert auferstehen. Eine faszinierend reiche Familienchronik, eine behutsame Erkundung von Besitz, Verlust und Identität, vor allem aber vom Wert der Erinnerung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2017Bankier auf der Flucht
Rafael Cardoso erzählt die Geschichte seines aus Deutschland geflohenen Urgroßvaters Hugo Simon
Die literarische Erbfolge geht nicht vom Vater auf den Sohn über, sondern vom Onkel auf den Neffen oder vom Großvater auf den Enkel. Oder aber der historische Abstand ist noch größer wie bei dem brasilianischen Autor Rafael Cardoso, der über seinen Urgroßvater Hugo Simon anfangs nicht viel mehr wusste, als dass er mit Thomas Mann, Samuel Fischer und Albert Einstein befreundet war und auf der Flucht vor den Nazis nach Brasilien gelangte, wo er Stefan Zweig wiedertraf. Auf die mündliche Überlieferung der Familie war, wie so oft, kein Verlass; sie war bruchstückhaft, voller blinder Flecken oder zur Legende geschönt, und um seine Wissenslücken zu schließen und der Sache auf den Grund zu gehen, fasste Cardoso einen folgenreichen Entschluss: Er siedelte nach Berlin über, lernte Deutsch und vertiefte sich in Archive und Bibliotheken, um Licht in das Dunkel zu bringen, das die Schicksale seiner jüdischen Vorfahren in Deutschland und später in der Emigration umgab.
Nur so viel war klar: Hugo Simon, der Patriarch der Familie, war eine einflussreiche Persönlichkeit in der Weimarer Republik als Finanzminister, Bankier und Mäzen, der wie sein Freund Harry Graf Kessler moderne Kunst sammelte und viele Künstler unterstützte. Von Max Liebermann und Edvard Munch, dessen Gemälde "Der Schrei" er besaß, bis zu Oskar Kokoschka, Max Pechstein und George Grosz.
Rafael Cardoso ist Kunsthistoriker, aber kein Germanist; er hat in den Vereinigten Staaten studiert und sprach, als er in Berlin eintraf, nur wenige Worte Deutsch. Vielleicht war es gerade die heilsame Distanz zum Land seiner Vorväter und dessen Kultur, die es ihm ermöglicht hat, einen Roman zu schreiben, der in der Literatur Brasiliens und Lateinamerikas seinesgleichen sucht: eine jüdische Familiengeschichte, die nicht von ungefähr mit der Abbildung des Stammbaums beginnt, dessen derzeit letzter Spross der Autor des vorliegenden Buches ist. Ein historisches Narrativ, das wie jede Saga Fakten mit Fiktion vermengt, ohne in Beliebigkeit abzugleiten, weil Cardoso Erfundenes und Gefundenes, Dichtung und Wahrheit sorgfältig voneinander trennt:
"Während ich hier in der Stille einer Berliner Mietwohnung sitze und diese Worte tippe, erstaunt es mich, dass jene einst vertraute Umgebung, die es schon lange nicht mehr gibt, durch meine Evokation überleben wird . . . Jemandem davon zu erzählen wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Vielleicht war mir die paranoide Geheimhaltung, mit der meine Vorfahren das Thema umgeben hatten, in Fleisch und Blut übergegangen."
Im Haus seiner Großeltern in São Paulo hatte der Autor eine Mahagonikommode voll vergilbter Fotos und stockfleckiger Dokumente entdeckt, Geburtsurkunden, echte und falsche Pässe, Visumanträge für Amerika und Briefe, in denen Albert Einstein und Thomas Mann für Hugo Simons demokratische Gesinnung bürgten, sowie das Manuskript eines autobiographischen Romans, den Cardoso nicht lesen konnte, weil er auf Deutsch geschrieben war. Der unvollendet gebliebene Text mit dem Titel "Seidenraupen" stand unter einem Motto von Goethe, das "Torquato Tasso" entnommen ist: "Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll / So ist das Leben mir kein Leben mehr. / Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen, / Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt."
Der Zufallsfund dieses Manuskripts bildet die Keimzelle des vorliegenden Romans, mit dem der Nachgeborene seinem illustren Vorfahren, anders als von diesem gewollt und intendiert, seine Reverenz erweist: "Als er sich dazu entschieden hatte, das Buch zu schreiben, hatte er es als Chronik der Enttäuschung konzipiert, die seine Generation mit ihren politischen Utopien erlebt hatte . . . Die Konzentration auf den Klassenkampf hatte sich als Fehler erwiesen, sie hatte die Besten beider Seiten einander entfremdet und zugelassen, dass sich die Macht in Händen der Brutalen und Korrupten konzentrierte." Dieses pessimistische Fazit gilt für beide Generationen, für den Urgroßvater wie für den Enkel, und die Geschichte von Cardosos Recherchen ist so spannend und aufschlussreich wie Hugo Simons abenteuerliche Odyssee über Paris und Marseille, wo ein Gerechter unter den Völkern, Varian Fry vom American Rescue Committee, ihm die Flucht nach Brasilien ermöglichte.
Das Schreiben des Buchs kam der Quadratur des Kreises gleich, eine intellektuelle Herausforderung, die der Autor glänzend meistert: mit Blick auf brasilianische Leser, die nicht wissen, wer Samuel Fischer oder Harry Graf Kessler war und woran die aus den Trümmern des Kaiserreichs entstandene Weimarer Republik scheiterte. Und mit Blick auf deutsche Leser, denen der Name Getúlio Vargas nichts sagt, Brasiliens langjähriger Diktator, der zwischen Hitlerdeutschland und den Alliierten lavierte, die jüdische Kommunistin Olga Benario den Nazis auslieferte, die sie im KZ ermordeten, und gleichzeitig Stefan Zweig Asyl gewährte. Der wiederum stand vor einem doppelten Dilemma: Während Hitlers Wehrmacht einen Sieg nach dem anderen einfuhr, blieb er seiner pazifistischen Grundhaltung treu, und brasilianische Intellektuelle warfen ihm vor, die Vargas-Diktatur schönzureden. Vom Sieg der Barbarei überzeugt, ging Zweig zusammen mit seiner Frau in den Tod, während Hugo Simon nolens volens in Brasilien blieb, sich dort eingelebt und schließlich Wurzeln geschlagen hat: "Was für ein seltsamer Mischmasch er geworden war: ein Jude ohne Religion; ein Bankier ohne Geld; ein Sammler ohne seine Kunst; ein Bauer ohne Land."
HANS CHRISTOPH BUCH
Rafael Cardoso:
"Das Vermächtnis der
Seidenraupen". Geschichte einer Familie.
Aus dem brasilianischen
Portugiesisch von Luis Ruby. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 572 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rafael Cardoso erzählt die Geschichte seines aus Deutschland geflohenen Urgroßvaters Hugo Simon
Die literarische Erbfolge geht nicht vom Vater auf den Sohn über, sondern vom Onkel auf den Neffen oder vom Großvater auf den Enkel. Oder aber der historische Abstand ist noch größer wie bei dem brasilianischen Autor Rafael Cardoso, der über seinen Urgroßvater Hugo Simon anfangs nicht viel mehr wusste, als dass er mit Thomas Mann, Samuel Fischer und Albert Einstein befreundet war und auf der Flucht vor den Nazis nach Brasilien gelangte, wo er Stefan Zweig wiedertraf. Auf die mündliche Überlieferung der Familie war, wie so oft, kein Verlass; sie war bruchstückhaft, voller blinder Flecken oder zur Legende geschönt, und um seine Wissenslücken zu schließen und der Sache auf den Grund zu gehen, fasste Cardoso einen folgenreichen Entschluss: Er siedelte nach Berlin über, lernte Deutsch und vertiefte sich in Archive und Bibliotheken, um Licht in das Dunkel zu bringen, das die Schicksale seiner jüdischen Vorfahren in Deutschland und später in der Emigration umgab.
Nur so viel war klar: Hugo Simon, der Patriarch der Familie, war eine einflussreiche Persönlichkeit in der Weimarer Republik als Finanzminister, Bankier und Mäzen, der wie sein Freund Harry Graf Kessler moderne Kunst sammelte und viele Künstler unterstützte. Von Max Liebermann und Edvard Munch, dessen Gemälde "Der Schrei" er besaß, bis zu Oskar Kokoschka, Max Pechstein und George Grosz.
Rafael Cardoso ist Kunsthistoriker, aber kein Germanist; er hat in den Vereinigten Staaten studiert und sprach, als er in Berlin eintraf, nur wenige Worte Deutsch. Vielleicht war es gerade die heilsame Distanz zum Land seiner Vorväter und dessen Kultur, die es ihm ermöglicht hat, einen Roman zu schreiben, der in der Literatur Brasiliens und Lateinamerikas seinesgleichen sucht: eine jüdische Familiengeschichte, die nicht von ungefähr mit der Abbildung des Stammbaums beginnt, dessen derzeit letzter Spross der Autor des vorliegenden Buches ist. Ein historisches Narrativ, das wie jede Saga Fakten mit Fiktion vermengt, ohne in Beliebigkeit abzugleiten, weil Cardoso Erfundenes und Gefundenes, Dichtung und Wahrheit sorgfältig voneinander trennt:
"Während ich hier in der Stille einer Berliner Mietwohnung sitze und diese Worte tippe, erstaunt es mich, dass jene einst vertraute Umgebung, die es schon lange nicht mehr gibt, durch meine Evokation überleben wird . . . Jemandem davon zu erzählen wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Vielleicht war mir die paranoide Geheimhaltung, mit der meine Vorfahren das Thema umgeben hatten, in Fleisch und Blut übergegangen."
Im Haus seiner Großeltern in São Paulo hatte der Autor eine Mahagonikommode voll vergilbter Fotos und stockfleckiger Dokumente entdeckt, Geburtsurkunden, echte und falsche Pässe, Visumanträge für Amerika und Briefe, in denen Albert Einstein und Thomas Mann für Hugo Simons demokratische Gesinnung bürgten, sowie das Manuskript eines autobiographischen Romans, den Cardoso nicht lesen konnte, weil er auf Deutsch geschrieben war. Der unvollendet gebliebene Text mit dem Titel "Seidenraupen" stand unter einem Motto von Goethe, das "Torquato Tasso" entnommen ist: "Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll / So ist das Leben mir kein Leben mehr. / Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen, / Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt."
Der Zufallsfund dieses Manuskripts bildet die Keimzelle des vorliegenden Romans, mit dem der Nachgeborene seinem illustren Vorfahren, anders als von diesem gewollt und intendiert, seine Reverenz erweist: "Als er sich dazu entschieden hatte, das Buch zu schreiben, hatte er es als Chronik der Enttäuschung konzipiert, die seine Generation mit ihren politischen Utopien erlebt hatte . . . Die Konzentration auf den Klassenkampf hatte sich als Fehler erwiesen, sie hatte die Besten beider Seiten einander entfremdet und zugelassen, dass sich die Macht in Händen der Brutalen und Korrupten konzentrierte." Dieses pessimistische Fazit gilt für beide Generationen, für den Urgroßvater wie für den Enkel, und die Geschichte von Cardosos Recherchen ist so spannend und aufschlussreich wie Hugo Simons abenteuerliche Odyssee über Paris und Marseille, wo ein Gerechter unter den Völkern, Varian Fry vom American Rescue Committee, ihm die Flucht nach Brasilien ermöglichte.
Das Schreiben des Buchs kam der Quadratur des Kreises gleich, eine intellektuelle Herausforderung, die der Autor glänzend meistert: mit Blick auf brasilianische Leser, die nicht wissen, wer Samuel Fischer oder Harry Graf Kessler war und woran die aus den Trümmern des Kaiserreichs entstandene Weimarer Republik scheiterte. Und mit Blick auf deutsche Leser, denen der Name Getúlio Vargas nichts sagt, Brasiliens langjähriger Diktator, der zwischen Hitlerdeutschland und den Alliierten lavierte, die jüdische Kommunistin Olga Benario den Nazis auslieferte, die sie im KZ ermordeten, und gleichzeitig Stefan Zweig Asyl gewährte. Der wiederum stand vor einem doppelten Dilemma: Während Hitlers Wehrmacht einen Sieg nach dem anderen einfuhr, blieb er seiner pazifistischen Grundhaltung treu, und brasilianische Intellektuelle warfen ihm vor, die Vargas-Diktatur schönzureden. Vom Sieg der Barbarei überzeugt, ging Zweig zusammen mit seiner Frau in den Tod, während Hugo Simon nolens volens in Brasilien blieb, sich dort eingelebt und schließlich Wurzeln geschlagen hat: "Was für ein seltsamer Mischmasch er geworden war: ein Jude ohne Religion; ein Bankier ohne Geld; ein Sammler ohne seine Kunst; ein Bauer ohne Land."
HANS CHRISTOPH BUCH
Rafael Cardoso:
"Das Vermächtnis der
Seidenraupen". Geschichte einer Familie.
Aus dem brasilianischen
Portugiesisch von Luis Ruby. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 572 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein lesenswerter Roman [...] Dem heutigen Leser mutet das lebendig geschriebene Buch wie ein Abenteuerroman an. Eva Karnofsky Westdeutscher Rundfunk, WDR 5 20170114