Keine Frage: Manfred Baumann ist ein Sonderling. Obwohl als Bankdirektor der elsässischen Gemeinde Saint-Louis in guter Stellung, tut sich der 36-Jährige schwer im Umgang mit Menschen. Umso wichtiger sind für den eigenbrötlerischen Junggesellen seine gewohnten Routinen: ein penibel geplanter Tagesablauf, die regelmäßigen Ausflüge nach Straßburg zu den leichten Mädchen von Madame Simone und die Besuche in seinem Stammlokal. Tag für Tag beobachtet er dort, meist schweigend, die blutjunge Kellnerin Adèle Bedeau. Bis sie eines Abends spurlos verschwindet. Manfreds Welt gerät ins Wanken, als Kommissar Georges Gorski die Ermittlungen im Fall Adèle Bedeau aufnimmt ... Wird Gorski, der noch immer schwer an einem lang zurückliegenden Ermittlungsfehler zu tragen hat, diesmal den richtigen Riecher haben und das plötzliche Verschwinden von Adèle aufklären, die wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint? Und was hat Manfred mit dem Fall zu tun, der auf einmal mit vergessen geglaubten Geistern seiner Vergangenheit kämpft? Nach seinem Bestseller "Sein blutiges Projekt" zeichnet Shootingstar Graeme Macrae Burnet erneut das Psychogramm eines Außenseiters, der von seinem eigenen Wahn an den Rand der Verzweiflung getrieben wird. In seiner schottischen Heimat wurde der Roman zum Kulthit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2017Der Schlachter vor Einbruch der Nacht
Abgründiges Debüt: Graeme Macrae Burnet überzeugt mit "Das Verschwinden der Adèle Bedeau"
"The Disappearance of Adèle Bedeau" ist das erste Buch des schottischen Autors Graeme Macrae Burnet, Jahrgang 1967. Es erschien 2014 im Original, noch vor seinem Kriminalroman "His Bloody Project", der es 2016 auf die Shortlist des britischen Man Booker Prize schaffte. Schon was Burnet mit "Das Verschwinden der Adèle Bedeau" vorführt, ist die Hohe Schule des Erzählens.
Mit atemraubender Langsamkeit und aufreizender Geduld entfaltet er die Verhältnisse in der elsässischen Kleinstadt Saint-Louis, nah der Grenze zur Schweiz im Bezirk Mulhouse. Saint-Louis gibt es tatsächlich, Burnet macht es zum Ort seiner Imagination. Das Leben der Bewohner verläuft in alltäglichen Routinen, auch für Manfred Baumann. Er ist der Sohn eines kleinen Brauereiangestellten aus Basel, der die Tochter eines erfolgreichen Anwalts in Saint-Louis geheiratet hatte, weit unter den Erwartungen von deren Eltern. Manfred ist Mitte dreißig und Direktor der örtlichen Bankfiliale. Ihm geben die wiederkehrenden Abläufe seiner Tage Halt, vor allem für seinen unerbittlichen inneren Zwang, nicht aufzufallen: Seit Jahren steht er abends im selben Lokal, an derselben Stelle, ein Beobachter seiner selbst, dabei sich selbst fremd in der vertrauten Umgebung.
Manfred ist weder liiert noch verheiratet, seine harmlosen sexuellen Bedürfnisse befriedigt er immer samstags in einem privaten Bordell in Straßburg. Doch nun hat die sehr junge Kellnerin Adèle Bedeau im "Restaurant de la Cloche" sein Interesse geweckt. Er geht ihr eines späten Abends hinterher und sieht, wie sie sich mit einem jungen Mann auf einem Motorroller trifft. Am übernächsten Tag ist Adèle verschwunden. Die örtliche Polizei beginnt zu ermitteln.
Der Kommissar von Saint-Louis heißt Georges Gorski, und ein glücklicher Mensch ist auch er nicht, schon gar nicht im Privaten. Gorski, der bei seinen Untersuchungen aller Intuition misstraut, und Baumann, der lieber lügt, als einfache Auskünfte zu geben, die Gorski von ihm erhofft bezüglich der verschwundenen Serviererin, sind die entscheidenden Spiegelfiguren des Romans. Beide sind in ihrer je eigenen seelischen Verfassung gefangen, die bei beiden eine je eigene Form von Paranoia angenommen hat. Das verbissene unterschwellige Duell zwischen Gorski, dem kleinstädtischen Ermittler, und Baumann, den er zunehmend ins Visier nimmt, umspielen Nebenfiguren, an denen das beklemmende Milieu in Saint-Louis greifbar wird. Während die Spur dessen, was wirklich in der Gegenwart geschah, immer opaker wird, steigt eine vergangene Wahrheit, die zwei Jahrzehnte uneinholbar schien, aus dem Vergessen auf. Oder doch nicht?
Burnet schickt seine Leser in mehr als einen Abgrund. Das fängt mit dem Titelblatt an: Da steht - leicht zu überlesen - als französischer Verfasser des Romans der Name "Raymond Brunet" und "Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Graeme Macrae Burnet". Dieses "Nachwort" zeichnet die missglückte Biographie Raymond Brunets nach, 1953 in Saint-Louis geboren, deren Spuren sich im Roman wiederfinden. Und es ist zu erfahren, dass kein anderer als der große Regisseur Claude Chabrol Ende der Achtziger, aus der Vorlage des Buchs von Brunet einen Erfolgsfilm gemacht haben soll. Den es freilich nie gab.
Jedenfalls dringt der Autor in die feinsten Faltungen von Manfred Baumanns Gedanken, als stecke er in dessen Leib; und auch seinen Verfolger Georges Gorski horcht er regelrecht aus. Wer "Das Verschwinden der Adèle Bedeau" liest, kriecht unweigerlich mit in diese Innereien, in der mitfiebernden Erwartung auf die Lösung ihrer Verschlingungen: Auch die unblutige Variante des suspense erfordert Nerven. Dass die Geschichte um Manfred und seinen Verfolger sich nicht in der Gegenwart abgespielt hat, enthüllen die eingestreuten Zeitmarker. Die Kleidung, das ständige Rauchen, die Autos bezeichnen das Ende der Siebziger, den Anfang der Achtziger. Und was die Geschehnisse in der Enge der französischen Provinz angeht, erscheint der Roman tatsächlich wie die Kippfigur zu Chabrols filmischem Meisterwerk "Der Schlachter" aus dem Jahr 1970.
Graeme Macrae Burnet dekonstruiert jede naheliegende Auflösung des Falls, der die Kleinstadt in hellen Aufruhr versetzt. Dafür bürgt sein Kommissar, der eben keine Deutungen zulassen will. Am Ende hat auch Gorski so etwas wie eine Eingebung, sie speist sich aus anderen Quellen als dem schieren Augenschein. Baumann kommt für sich zu einem Schluss, aus der Idee eines Aufbruchs heraus - ob gelungen oder nicht. Und die verschwundene Kellnerin? Wer kennt schon die Wahrheit. Womöglich doch der Autor. Große Klasse ist das.
ROSE-MARIA GROPP
Graeme Macrae Burnet: "Das Verschwinden
der Adèle Bedeau".
Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. Europa Verlag, München 2017. 288 S., br., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Abgründiges Debüt: Graeme Macrae Burnet überzeugt mit "Das Verschwinden der Adèle Bedeau"
"The Disappearance of Adèle Bedeau" ist das erste Buch des schottischen Autors Graeme Macrae Burnet, Jahrgang 1967. Es erschien 2014 im Original, noch vor seinem Kriminalroman "His Bloody Project", der es 2016 auf die Shortlist des britischen Man Booker Prize schaffte. Schon was Burnet mit "Das Verschwinden der Adèle Bedeau" vorführt, ist die Hohe Schule des Erzählens.
Mit atemraubender Langsamkeit und aufreizender Geduld entfaltet er die Verhältnisse in der elsässischen Kleinstadt Saint-Louis, nah der Grenze zur Schweiz im Bezirk Mulhouse. Saint-Louis gibt es tatsächlich, Burnet macht es zum Ort seiner Imagination. Das Leben der Bewohner verläuft in alltäglichen Routinen, auch für Manfred Baumann. Er ist der Sohn eines kleinen Brauereiangestellten aus Basel, der die Tochter eines erfolgreichen Anwalts in Saint-Louis geheiratet hatte, weit unter den Erwartungen von deren Eltern. Manfred ist Mitte dreißig und Direktor der örtlichen Bankfiliale. Ihm geben die wiederkehrenden Abläufe seiner Tage Halt, vor allem für seinen unerbittlichen inneren Zwang, nicht aufzufallen: Seit Jahren steht er abends im selben Lokal, an derselben Stelle, ein Beobachter seiner selbst, dabei sich selbst fremd in der vertrauten Umgebung.
Manfred ist weder liiert noch verheiratet, seine harmlosen sexuellen Bedürfnisse befriedigt er immer samstags in einem privaten Bordell in Straßburg. Doch nun hat die sehr junge Kellnerin Adèle Bedeau im "Restaurant de la Cloche" sein Interesse geweckt. Er geht ihr eines späten Abends hinterher und sieht, wie sie sich mit einem jungen Mann auf einem Motorroller trifft. Am übernächsten Tag ist Adèle verschwunden. Die örtliche Polizei beginnt zu ermitteln.
Der Kommissar von Saint-Louis heißt Georges Gorski, und ein glücklicher Mensch ist auch er nicht, schon gar nicht im Privaten. Gorski, der bei seinen Untersuchungen aller Intuition misstraut, und Baumann, der lieber lügt, als einfache Auskünfte zu geben, die Gorski von ihm erhofft bezüglich der verschwundenen Serviererin, sind die entscheidenden Spiegelfiguren des Romans. Beide sind in ihrer je eigenen seelischen Verfassung gefangen, die bei beiden eine je eigene Form von Paranoia angenommen hat. Das verbissene unterschwellige Duell zwischen Gorski, dem kleinstädtischen Ermittler, und Baumann, den er zunehmend ins Visier nimmt, umspielen Nebenfiguren, an denen das beklemmende Milieu in Saint-Louis greifbar wird. Während die Spur dessen, was wirklich in der Gegenwart geschah, immer opaker wird, steigt eine vergangene Wahrheit, die zwei Jahrzehnte uneinholbar schien, aus dem Vergessen auf. Oder doch nicht?
Burnet schickt seine Leser in mehr als einen Abgrund. Das fängt mit dem Titelblatt an: Da steht - leicht zu überlesen - als französischer Verfasser des Romans der Name "Raymond Brunet" und "Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Graeme Macrae Burnet". Dieses "Nachwort" zeichnet die missglückte Biographie Raymond Brunets nach, 1953 in Saint-Louis geboren, deren Spuren sich im Roman wiederfinden. Und es ist zu erfahren, dass kein anderer als der große Regisseur Claude Chabrol Ende der Achtziger, aus der Vorlage des Buchs von Brunet einen Erfolgsfilm gemacht haben soll. Den es freilich nie gab.
Jedenfalls dringt der Autor in die feinsten Faltungen von Manfred Baumanns Gedanken, als stecke er in dessen Leib; und auch seinen Verfolger Georges Gorski horcht er regelrecht aus. Wer "Das Verschwinden der Adèle Bedeau" liest, kriecht unweigerlich mit in diese Innereien, in der mitfiebernden Erwartung auf die Lösung ihrer Verschlingungen: Auch die unblutige Variante des suspense erfordert Nerven. Dass die Geschichte um Manfred und seinen Verfolger sich nicht in der Gegenwart abgespielt hat, enthüllen die eingestreuten Zeitmarker. Die Kleidung, das ständige Rauchen, die Autos bezeichnen das Ende der Siebziger, den Anfang der Achtziger. Und was die Geschehnisse in der Enge der französischen Provinz angeht, erscheint der Roman tatsächlich wie die Kippfigur zu Chabrols filmischem Meisterwerk "Der Schlachter" aus dem Jahr 1970.
Graeme Macrae Burnet dekonstruiert jede naheliegende Auflösung des Falls, der die Kleinstadt in hellen Aufruhr versetzt. Dafür bürgt sein Kommissar, der eben keine Deutungen zulassen will. Am Ende hat auch Gorski so etwas wie eine Eingebung, sie speist sich aus anderen Quellen als dem schieren Augenschein. Baumann kommt für sich zu einem Schluss, aus der Idee eines Aufbruchs heraus - ob gelungen oder nicht. Und die verschwundene Kellnerin? Wer kennt schon die Wahrheit. Womöglich doch der Autor. Große Klasse ist das.
ROSE-MARIA GROPP
Graeme Macrae Burnet: "Das Verschwinden
der Adèle Bedeau".
Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. Europa Verlag, München 2017. 288 S., br., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.11.2017Hängen geblieben
Claude Chabrol lässt grüßen – „Das Verschwinden der Adèle Bedeau“
Wie jeden Mittag sitzt Manfred Baumann im Restaurant de la Cloche und ordert das Menü. Da kommt ihm ein verrückter Gedanke, blitzartig: Wie wäre es, wenn er aufspringen und losbrüllen würde, dass er heute gerne einmal etwas anderes essen würde? Selbstverständlich tut Manfred Baumann das nicht, stattdessen lehnt er sich zurück, liest den Wirtschaftsteil der Zeitung und wartet auf seine Zwiebelsuppe. Das Leben geht seinen unveränderten Gang, jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr.
Der Schotte Graeme Macrae Burnet war im Jahr 2016 mit seinem raffiniert angelegten historischen Krimi „Sein blutiges Projekt“, der auch ein literarisches Suchspiel war, für die Shortlist des Man Booker Prize nominiert. Nun hat sein Verlag Burnets Debütroman „Das Verschwinden der Adèle Bedeau“ nachgereicht, und auch hier arbeitet Burnet mit einem kleinen Taschenspielertrick: Der Roman, so behauptet er im Nachwort, sei in Wahrheit das 1982 erschienene Werk eines Franzosen namens Raymond Brunet, das spätestens mit seiner Verfilmung durch Claude Chabrol in Frankreich Kultstatus erreicht habe. Eine Volte, die als Hommage wirkt an die Psychostudien Georges Simenons.
Die Zeit steht still in Saint-Louis, einer 20 000-Einwohner-Stadt am Rand des Elsass. Die Menschen scheinen in einem Vakuum zu schweben. Sie gehen ihrer Arbeit nach, sitzen in Bars, spielen Karten, reden miteinander, vor allem aber übereinander. Manfred Baumann ist Direktor einer Bank in Saint-Louis. Er ist Mitte 30 und sieht gut aus. Und er ist ein Sonderling. Jeden Abend steht er im Restaurant de la Cloche und trinkt Wein, allein; einmal die Woche darf er am Kartenspiel teilnehmen; als Ersatz für einen verstorbenen Mitspieler.
Burnets Debüt ist zum einen die Darstellung der bleiernen, unendlich öden Kleinstadtatmosphäre, wo alles, egal, ob es in den 60er- oder, wie zu vermuten ist, tatsächlich in den frühen 80er-Jahren angesiedelt ist, sich immer gleich bleibt. Zum anderen ist Burnet ein durchaus feinfühliger Charakterzeichner. Seinem linkischen, verschwiemelten Antihelden Baumann, dessen größtes Vergnügen es ist, am Wochenende in einem Straßburger Bordell merkwürdigen Praktiken nachzugehen, stellt er eine nicht minder komplexbeladene Figur zur Seite: Kommissar Georges Gorski tritt auf den Plan, als Adèle Bedeau, die Kellnerin des Restaurants de la Cloche, eines Tages spurlos verschwindet. Baumann, der Sonderling, gerät automatisch in das Zentrum von Gorskis nicht eben großen Verdächtigenkreis.
Auch Gorski ist ein Hängengebliebener, ein Unzufriedener, der gegen die gesellschaftlichen Ambitionen seiner Ehefrau zu bestehen hat und dabei nicht den Hauch einer Chance hat. Dass es eine Verbindung gibt zwischen Baumann und Gorski, die über das Verschwinden der Kellnerin hinausreicht, wird schnell klar. Einigermaßen ärgerlich aber ist, wie lieblos und uninspiriert Burnet dem Leser am Ende in einer Antiklimax die Auflösung des vermeintlichen Kriminalfalls vor die Füße klatscht.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Graeme Macrae Burnet: Das Verschwinden der Adèle Bedeau. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. Europa-Verlag, München 2017. 288 Seiten, 17,90 Euro. E-Book 17,90 Euro.
In einem Straßburger Bordell
geht der Antiheld Baumann
merkwürdigen Praktiken nach
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Claude Chabrol lässt grüßen – „Das Verschwinden der Adèle Bedeau“
Wie jeden Mittag sitzt Manfred Baumann im Restaurant de la Cloche und ordert das Menü. Da kommt ihm ein verrückter Gedanke, blitzartig: Wie wäre es, wenn er aufspringen und losbrüllen würde, dass er heute gerne einmal etwas anderes essen würde? Selbstverständlich tut Manfred Baumann das nicht, stattdessen lehnt er sich zurück, liest den Wirtschaftsteil der Zeitung und wartet auf seine Zwiebelsuppe. Das Leben geht seinen unveränderten Gang, jeden Tag, jede Woche, jedes Jahr.
Der Schotte Graeme Macrae Burnet war im Jahr 2016 mit seinem raffiniert angelegten historischen Krimi „Sein blutiges Projekt“, der auch ein literarisches Suchspiel war, für die Shortlist des Man Booker Prize nominiert. Nun hat sein Verlag Burnets Debütroman „Das Verschwinden der Adèle Bedeau“ nachgereicht, und auch hier arbeitet Burnet mit einem kleinen Taschenspielertrick: Der Roman, so behauptet er im Nachwort, sei in Wahrheit das 1982 erschienene Werk eines Franzosen namens Raymond Brunet, das spätestens mit seiner Verfilmung durch Claude Chabrol in Frankreich Kultstatus erreicht habe. Eine Volte, die als Hommage wirkt an die Psychostudien Georges Simenons.
Die Zeit steht still in Saint-Louis, einer 20 000-Einwohner-Stadt am Rand des Elsass. Die Menschen scheinen in einem Vakuum zu schweben. Sie gehen ihrer Arbeit nach, sitzen in Bars, spielen Karten, reden miteinander, vor allem aber übereinander. Manfred Baumann ist Direktor einer Bank in Saint-Louis. Er ist Mitte 30 und sieht gut aus. Und er ist ein Sonderling. Jeden Abend steht er im Restaurant de la Cloche und trinkt Wein, allein; einmal die Woche darf er am Kartenspiel teilnehmen; als Ersatz für einen verstorbenen Mitspieler.
Burnets Debüt ist zum einen die Darstellung der bleiernen, unendlich öden Kleinstadtatmosphäre, wo alles, egal, ob es in den 60er- oder, wie zu vermuten ist, tatsächlich in den frühen 80er-Jahren angesiedelt ist, sich immer gleich bleibt. Zum anderen ist Burnet ein durchaus feinfühliger Charakterzeichner. Seinem linkischen, verschwiemelten Antihelden Baumann, dessen größtes Vergnügen es ist, am Wochenende in einem Straßburger Bordell merkwürdigen Praktiken nachzugehen, stellt er eine nicht minder komplexbeladene Figur zur Seite: Kommissar Georges Gorski tritt auf den Plan, als Adèle Bedeau, die Kellnerin des Restaurants de la Cloche, eines Tages spurlos verschwindet. Baumann, der Sonderling, gerät automatisch in das Zentrum von Gorskis nicht eben großen Verdächtigenkreis.
Auch Gorski ist ein Hängengebliebener, ein Unzufriedener, der gegen die gesellschaftlichen Ambitionen seiner Ehefrau zu bestehen hat und dabei nicht den Hauch einer Chance hat. Dass es eine Verbindung gibt zwischen Baumann und Gorski, die über das Verschwinden der Kellnerin hinausreicht, wird schnell klar. Einigermaßen ärgerlich aber ist, wie lieblos und uninspiriert Burnet dem Leser am Ende in einer Antiklimax die Auflösung des vermeintlichen Kriminalfalls vor die Füße klatscht.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Graeme Macrae Burnet: Das Verschwinden der Adèle Bedeau. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. Europa-Verlag, München 2017. 288 Seiten, 17,90 Euro. E-Book 17,90 Euro.
In einem Straßburger Bordell
geht der Antiheld Baumann
merkwürdigen Praktiken nach
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