Auf den Spuren des Bösen - der Sensationsbestseller aus Frankreich1949 flüchtet Josef Mengele, der bestialische Lagerarzt von Auschwitz, nach Argentinien. In Buenos Aires trifft er auf ein dichtes Netzwerk aus Unterstützern, unter ihnen Diktator Perón, und baut sich Stück für Stück eine neue Existenz auf. Mengele begegnet auch Adolf Eichmann, der ihn zu seiner großen Enttäuschung nicht einmal kennt. Der Mossad sowie Nazi-Jäger Simon Wiesenthal und Generalstaatsanwalt Fritz Bauer nehmen schließlich die Verfolgung auf. Mengele rettet sich von einem Versteck ins nächste, lebt isoliert und wird finanziell von seiner Familie in Günzburg unterstützt. Erst 1979, nach dreißig Jahren Flucht, findet man die Leiche von Josef Mengele an einem brasilianischen Strand. Dieser preisgekrönte Tatsachenroman von Olivier Guez, der in Frankreich sofort zum Sensationsbesteller wurde, liest sich wie ein rasanter Politthriller und wahrt zugleich die notwendige Distanz."Olivier Guez schuf mit diesem bekannten Verfahren eine phantastische neue Romanform."Frédéric Beigbeder in Le Figaro magazine
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2018Kernseife gegen das Blut an den eigenen Händen
Der französische Schriftsteller Olivier Guez begibt sich mit seinem Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele" auf die Spur des NS-Mediziners
Der Nazi-Roman ist in Frankreich ein florierendes Genre, das viel von sich reden macht. Nach frühen Anfängen - Robert Merle, "Der Tod ist mein Beruf" (1952) - haben zuletzt Autoren wie Jonathan Littell ("Die Wohlgesinnten") oder Laurent Binet ("HHhH") Aufmerksamkeit damit erregt. Als Tendenzen kann man eine wachsende Freiheit im Umgang mit der Vergangenheit sowie eine vertiefte Reflexion auf das Verhältnis von Literatur und Geschichte ausmachen. Beiden folgt Olivier Guez nicht: "Das Verschwinden des Josef Mengele" vermittelt den Eindruck eines nüchtern-dokumentarischen Umgangs. Auch der Appell am Ende des Romans legt nahe, es ginge dem Autor vor allem um mahnende Erinnerungsarbeit: "Immer nach zwei oder drei Generationen, wenn das Gedächtnis verkümmert und die letzten Zeugen der vorherigen Massaker sterben, erlöscht die Vernunft, und Menschen säen wieder das Böse."
Josef Mengele war eine Schreckensgestalt des zwanzigsten Jahrhunderts, die man in der Tat nicht vergessen sollte. Der "Todesengel von Auschwitz" beteiligte sich begeistert und mitleidslos an der Selektion, bekämpfte Seuchen durch das Ermorden von Erkrankten und führte medizinische Experimente an Lagerinsassen durch, bevorzugt an Zwillingen. Nach Kriegsende flüchtete er nach Südamerika; vor Gericht musste er sich nie verantworten. Im Spektrum der NS-Verbrecher gehörte er zu den höflichen und gebildeten Überzeugungstätern, repräsentierte prototypisch das Oxymoron des kultivierten Barbaren.
Dieser heiklen Figur nähert Guez sich in zwei Etappen: Teil eins, "Der Pascha", erzählt die Jahre von 1949 bis 1961, die Mengele in Argentinien verbringt. Das Perón-Regime akzeptiert flüchtige Nazis als Helfer bei der Mammutaufgabe, "eine ästhetische und industrielle Revolution" durchzuführen, um ein "plebejisches Regime" zu errichten; sie sollen Hirnmasse, Disziplin und Technik beisteuern. Mengele tut das gern: Nach schwierigen Anfängen integriert er sich gut. Von der Familie zeitlebens gedeckt, vertritt er die Interessen der väterlichen Agrarmaschinenfirma in Südamerika. Unbehelligt kommt er zu Wohlstand und Ansehen, gilt als "Geistesgröße", beeindruckt mit Klassikerzitaten und "seiner beinahe zeremoniellen Höflichkeit".
Das Tableau des Nazi-Paradieses ist erbaulich. Guez präsentiert dem Leser eine Nachkriegsgesellschaft, die nicht nur im fernen Argentinien die Greueltaten verdrängt und ihren Vorteil nimmt, wo sie ihn findet - "eine gigantische Recyclingaktion", welche die "Abfälle der Geschichte" gewissenlos nutzt. Die Kriegsverbrecher wiederum genießen die Gunst der Machthaber und treffen sich im Kreis des Dürer-Verlags oder privat: der Luftwaffen-Oberst Hans Ulrich Rudel, der Spion Gerard Malbranc, der Diplomat Ludolf-Hermann von Alvensleben, Goebbels' Mitarbeiter Wilfried von Oven, der SS-Obersturmbannführer der Reserve Otto Skorzeny - alle a.D., versteht sich, alle der NS-Ideologie treu.
Helmut Gregor, so Mengeles Tarnname, genießt das Milieu, obwohl Guez ihm letztlich egoistische Motive unterstellt: "Im Grunde hat er sich nie wirklich für Politik interessiert und trotz seiner vorgeblichen Liebe zu Deutschland und seiner Treue zum Nationalsozialismus von Kindheit an vor allem an sich selbst gedacht und einzig sich selbst geliebt." Das Resultat: "Gregor hat Spaß und scheffelt Geld." Das Ziel modifiziert sich nach seiner Heirat mit der Witwe seines Bruders, "zwar keine schöne, aber immerhin sinnliche Fünfunddreißigjährige", die Mengele schon aus Rache am Verstorbenen mit Leidenschaft begattet: "Geld scheffeln und Martha bimsen."
Diesem Einstieg, der den komfortablen Triumph des Bösen zu zeigen scheint, setzt Teil zwei Mengeles "Höllenfahrt" entgegen: "Die Ratte" (inspiriert von den "Rattenlinien", den Fluchtrouten der Nazis) erzählt die Jahre von 1961 bis 1979, die geprägt sind vom wachsenden Verfolgungsdruck. Nach der Entführung Eichmanns aus Argentinien veranstalten Mossad und deutsche Staatsanwaltschaft zumindest zeitweise eine ernsthafte Jagd. Mengele flieht nach Paraguay und Brasilien, hängt nun vom guten Willen seiner Helfer ab. Das Zusammenleben ist problematisch, wie sein langjähriger Unterschlupf bei der Familie Stammer zeigt: Die ungarischen Bauern nehmen ihn aus Geldnot auf, Mengeles Familie zahlt gut. Der Flüchtige aber zeigt sich kapriziös, fanatisch, mischt sich in Familiäres ein, schläft mit der Frau des Hauses. Trotz immer herrschaftlicherer Anwesen geht das Verhältnis in die Brüche. 1975 findet Mengele sich in einem Bungalow in einem heruntergekommenen Viertel von São Paulo wieder: "Eldorado! Die Endstation für den Eugeniker aus gutem Hause auf der chaotischen, rassendurchmischten Insel; bald werden ihn die Eingeweide Brasiliens verschlingen."
Seine Moral ist spätestens seit der Aberkennung der akademischen Titel 1964 angeschlagen, die Gesundheit leidet an Hitze, Schlaflosigkeit, harter körperlicher Arbeit. Als das erste richtige Treffen mit seinem Sohn Rolf und ein letzter menschlicher Kontakt mit seiner Haushaltshilfe Elsa scheitern, stirbt Mengele an einem Herzinfarkt. Der Epilog "Das Phantom" berichtet davon, wie die Öffentlichkeit schließlich - nach üppiger Legendenbildung - vom Tod des Kriegsverbrechers erfährt.
Olivier Guez, ein 1974 in Straßburg geborener Journalist, interessiert sich nur für Mengeles Exil: Das Vorleben - Studium, Waffen-SS, die Arbeit in den Lagern, die erste Ehe mit Irene - wird in Rückblenden, Diskussionen oder Berichten präsentiert. Der Fokus liegt nicht auf den Taten, sondern auf dem Umgang des Betroffenen mit seiner Vergangenheit. Das verweist auf eine erste Schwäche des Romans, denn bei Mengele ist diesbezüglich wenig zu holen: Er schwankt zwischen opportuner Vertuschung und andauerndem Stolz. So zu Sohn Rolf im Herbst 1977: ",Meine Pflicht', sagt er rundheraus, ,meine Pflicht als Soldat der deutschen Wissenschaft: die biologisch-organische Gemeinschaft schützen, das Blut reinigen und von seinen Fremdkörpern befreien'."
Der nüchtern berichtende Duktus ist ebenfalls hinderlich. Allgemein fragt man sich, was an einem Text, der im Reportage-Stil das Leben der Hauptfigur nacherzählt, romanesk sein soll. Guez behauptet zwar im Nachwort: "Nur mit der Form des Romans konnte ich dem makabren Leben des Nazi-Arztes möglichst nahekommen." Der Text zeigt dem Leser den Vorteil einer literarischen Form jedoch nicht. Sicher, es gibt gelungene Szenen, aber "Das Verschwinden des Josef Mengele" entwickelt keine spezifisch literarische Perspektive, hat keine Vorstellung von Wesen und Antrieb ihres Protagonisten. Es finden sich lediglich schüchterne Versuche, wie der einer Metaphorisierung Mengeles als "moderner, rastloser Kain". Sie wirken so erratisch wie manche Erklärungsversuche. Ein Beispiel: Die Deutschen waren dem NS-Regime nicht nur aus "Opportunismus" verfallen.
Ein genuin literarischer Ansatz hätte Guez große Dienste leisten können. Der Aufgabe, dieses "makabre Leben" zu erzählen, hat sich die Argentinierin Lucía Puenzo in "Wakolda" (2011), ebenfalls ein Roman über Mengeles Exil, mit mehr Mut gestellt: Sie blickt einerseits in den Kopf des Verbrechers, führt seine deliranten Rassen- und Eugenik-Theorien schonungslos vor; andererseits bricht sie diese Sicht durch die (erfundene) Perspektive eines Kindes, dessen Blick Mengeles Monstrosität ins Relief hebt. Die Romane von Guez' Landmann Éric Vuillard wiederum meistern die geschichtliche Dynamik besser: Deren Wechsel zwischen epischer Perspektive und Detailaufnahme und deren polemische Verve wünscht man Guez mitunter, der nur in wenigen Passagen souverän konstruiert, selten frech und frei schreibt - was dann isoliert und mitunter deplaziert wirkt.
Am gelungensten sind manche Beschreibungen, etwa die Beobachtung der ungarischen Stammers über den vermeintlichen Schweizer Mengele: "Seine Hände waren sonderbar: an den Handflächen und Fingern die Schwielen eines Arbeiters, aber die Fingernägel manikürt wie bei einem Budapester Großbürger. Er wusch sie dreißigmal am Tag und rieb sich die Unterarme kräftig mit Kernseife ab, so wie sich ein Chirurg vor und nach einer Operation die Hände desinfiziert." Diese paar Zeilen deuten viel mehr an, als zahlreiche Seiten des Bandes zu berichten vermögen.
NIKLAS BENDER
Olivier Guez: "Das Verschwinden des Josef Mengele". Roman
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der französische Schriftsteller Olivier Guez begibt sich mit seinem Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele" auf die Spur des NS-Mediziners
Der Nazi-Roman ist in Frankreich ein florierendes Genre, das viel von sich reden macht. Nach frühen Anfängen - Robert Merle, "Der Tod ist mein Beruf" (1952) - haben zuletzt Autoren wie Jonathan Littell ("Die Wohlgesinnten") oder Laurent Binet ("HHhH") Aufmerksamkeit damit erregt. Als Tendenzen kann man eine wachsende Freiheit im Umgang mit der Vergangenheit sowie eine vertiefte Reflexion auf das Verhältnis von Literatur und Geschichte ausmachen. Beiden folgt Olivier Guez nicht: "Das Verschwinden des Josef Mengele" vermittelt den Eindruck eines nüchtern-dokumentarischen Umgangs. Auch der Appell am Ende des Romans legt nahe, es ginge dem Autor vor allem um mahnende Erinnerungsarbeit: "Immer nach zwei oder drei Generationen, wenn das Gedächtnis verkümmert und die letzten Zeugen der vorherigen Massaker sterben, erlöscht die Vernunft, und Menschen säen wieder das Böse."
Josef Mengele war eine Schreckensgestalt des zwanzigsten Jahrhunderts, die man in der Tat nicht vergessen sollte. Der "Todesengel von Auschwitz" beteiligte sich begeistert und mitleidslos an der Selektion, bekämpfte Seuchen durch das Ermorden von Erkrankten und führte medizinische Experimente an Lagerinsassen durch, bevorzugt an Zwillingen. Nach Kriegsende flüchtete er nach Südamerika; vor Gericht musste er sich nie verantworten. Im Spektrum der NS-Verbrecher gehörte er zu den höflichen und gebildeten Überzeugungstätern, repräsentierte prototypisch das Oxymoron des kultivierten Barbaren.
Dieser heiklen Figur nähert Guez sich in zwei Etappen: Teil eins, "Der Pascha", erzählt die Jahre von 1949 bis 1961, die Mengele in Argentinien verbringt. Das Perón-Regime akzeptiert flüchtige Nazis als Helfer bei der Mammutaufgabe, "eine ästhetische und industrielle Revolution" durchzuführen, um ein "plebejisches Regime" zu errichten; sie sollen Hirnmasse, Disziplin und Technik beisteuern. Mengele tut das gern: Nach schwierigen Anfängen integriert er sich gut. Von der Familie zeitlebens gedeckt, vertritt er die Interessen der väterlichen Agrarmaschinenfirma in Südamerika. Unbehelligt kommt er zu Wohlstand und Ansehen, gilt als "Geistesgröße", beeindruckt mit Klassikerzitaten und "seiner beinahe zeremoniellen Höflichkeit".
Das Tableau des Nazi-Paradieses ist erbaulich. Guez präsentiert dem Leser eine Nachkriegsgesellschaft, die nicht nur im fernen Argentinien die Greueltaten verdrängt und ihren Vorteil nimmt, wo sie ihn findet - "eine gigantische Recyclingaktion", welche die "Abfälle der Geschichte" gewissenlos nutzt. Die Kriegsverbrecher wiederum genießen die Gunst der Machthaber und treffen sich im Kreis des Dürer-Verlags oder privat: der Luftwaffen-Oberst Hans Ulrich Rudel, der Spion Gerard Malbranc, der Diplomat Ludolf-Hermann von Alvensleben, Goebbels' Mitarbeiter Wilfried von Oven, der SS-Obersturmbannführer der Reserve Otto Skorzeny - alle a.D., versteht sich, alle der NS-Ideologie treu.
Helmut Gregor, so Mengeles Tarnname, genießt das Milieu, obwohl Guez ihm letztlich egoistische Motive unterstellt: "Im Grunde hat er sich nie wirklich für Politik interessiert und trotz seiner vorgeblichen Liebe zu Deutschland und seiner Treue zum Nationalsozialismus von Kindheit an vor allem an sich selbst gedacht und einzig sich selbst geliebt." Das Resultat: "Gregor hat Spaß und scheffelt Geld." Das Ziel modifiziert sich nach seiner Heirat mit der Witwe seines Bruders, "zwar keine schöne, aber immerhin sinnliche Fünfunddreißigjährige", die Mengele schon aus Rache am Verstorbenen mit Leidenschaft begattet: "Geld scheffeln und Martha bimsen."
Diesem Einstieg, der den komfortablen Triumph des Bösen zu zeigen scheint, setzt Teil zwei Mengeles "Höllenfahrt" entgegen: "Die Ratte" (inspiriert von den "Rattenlinien", den Fluchtrouten der Nazis) erzählt die Jahre von 1961 bis 1979, die geprägt sind vom wachsenden Verfolgungsdruck. Nach der Entführung Eichmanns aus Argentinien veranstalten Mossad und deutsche Staatsanwaltschaft zumindest zeitweise eine ernsthafte Jagd. Mengele flieht nach Paraguay und Brasilien, hängt nun vom guten Willen seiner Helfer ab. Das Zusammenleben ist problematisch, wie sein langjähriger Unterschlupf bei der Familie Stammer zeigt: Die ungarischen Bauern nehmen ihn aus Geldnot auf, Mengeles Familie zahlt gut. Der Flüchtige aber zeigt sich kapriziös, fanatisch, mischt sich in Familiäres ein, schläft mit der Frau des Hauses. Trotz immer herrschaftlicherer Anwesen geht das Verhältnis in die Brüche. 1975 findet Mengele sich in einem Bungalow in einem heruntergekommenen Viertel von São Paulo wieder: "Eldorado! Die Endstation für den Eugeniker aus gutem Hause auf der chaotischen, rassendurchmischten Insel; bald werden ihn die Eingeweide Brasiliens verschlingen."
Seine Moral ist spätestens seit der Aberkennung der akademischen Titel 1964 angeschlagen, die Gesundheit leidet an Hitze, Schlaflosigkeit, harter körperlicher Arbeit. Als das erste richtige Treffen mit seinem Sohn Rolf und ein letzter menschlicher Kontakt mit seiner Haushaltshilfe Elsa scheitern, stirbt Mengele an einem Herzinfarkt. Der Epilog "Das Phantom" berichtet davon, wie die Öffentlichkeit schließlich - nach üppiger Legendenbildung - vom Tod des Kriegsverbrechers erfährt.
Olivier Guez, ein 1974 in Straßburg geborener Journalist, interessiert sich nur für Mengeles Exil: Das Vorleben - Studium, Waffen-SS, die Arbeit in den Lagern, die erste Ehe mit Irene - wird in Rückblenden, Diskussionen oder Berichten präsentiert. Der Fokus liegt nicht auf den Taten, sondern auf dem Umgang des Betroffenen mit seiner Vergangenheit. Das verweist auf eine erste Schwäche des Romans, denn bei Mengele ist diesbezüglich wenig zu holen: Er schwankt zwischen opportuner Vertuschung und andauerndem Stolz. So zu Sohn Rolf im Herbst 1977: ",Meine Pflicht', sagt er rundheraus, ,meine Pflicht als Soldat der deutschen Wissenschaft: die biologisch-organische Gemeinschaft schützen, das Blut reinigen und von seinen Fremdkörpern befreien'."
Der nüchtern berichtende Duktus ist ebenfalls hinderlich. Allgemein fragt man sich, was an einem Text, der im Reportage-Stil das Leben der Hauptfigur nacherzählt, romanesk sein soll. Guez behauptet zwar im Nachwort: "Nur mit der Form des Romans konnte ich dem makabren Leben des Nazi-Arztes möglichst nahekommen." Der Text zeigt dem Leser den Vorteil einer literarischen Form jedoch nicht. Sicher, es gibt gelungene Szenen, aber "Das Verschwinden des Josef Mengele" entwickelt keine spezifisch literarische Perspektive, hat keine Vorstellung von Wesen und Antrieb ihres Protagonisten. Es finden sich lediglich schüchterne Versuche, wie der einer Metaphorisierung Mengeles als "moderner, rastloser Kain". Sie wirken so erratisch wie manche Erklärungsversuche. Ein Beispiel: Die Deutschen waren dem NS-Regime nicht nur aus "Opportunismus" verfallen.
Ein genuin literarischer Ansatz hätte Guez große Dienste leisten können. Der Aufgabe, dieses "makabre Leben" zu erzählen, hat sich die Argentinierin Lucía Puenzo in "Wakolda" (2011), ebenfalls ein Roman über Mengeles Exil, mit mehr Mut gestellt: Sie blickt einerseits in den Kopf des Verbrechers, führt seine deliranten Rassen- und Eugenik-Theorien schonungslos vor; andererseits bricht sie diese Sicht durch die (erfundene) Perspektive eines Kindes, dessen Blick Mengeles Monstrosität ins Relief hebt. Die Romane von Guez' Landmann Éric Vuillard wiederum meistern die geschichtliche Dynamik besser: Deren Wechsel zwischen epischer Perspektive und Detailaufnahme und deren polemische Verve wünscht man Guez mitunter, der nur in wenigen Passagen souverän konstruiert, selten frech und frei schreibt - was dann isoliert und mitunter deplaziert wirkt.
Am gelungensten sind manche Beschreibungen, etwa die Beobachtung der ungarischen Stammers über den vermeintlichen Schweizer Mengele: "Seine Hände waren sonderbar: an den Handflächen und Fingern die Schwielen eines Arbeiters, aber die Fingernägel manikürt wie bei einem Budapester Großbürger. Er wusch sie dreißigmal am Tag und rieb sich die Unterarme kräftig mit Kernseife ab, so wie sich ein Chirurg vor und nach einer Operation die Hände desinfiziert." Diese paar Zeilen deuten viel mehr an, als zahlreiche Seiten des Bandes zu berichten vermögen.
NIKLAS BENDER
Olivier Guez: "Das Verschwinden des Josef Mengele". Roman
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 224 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2018Hamsun
mit Fischbesteck
In Olivier Guez’ Roman „Das Verschwinden des
Josef Mengele“ geht der Auschwitz-Arzt elendig zugrunde
VON FELIX STEPHAN
Wie schreibt man im Jahr 2018 einen Roman über Josef Mengele? Wie soll das gehen, ohne einerseits heillos im Ernst des Themas zu versinken und andererseits ob seiner Abgestandenheit onkelig zu ironisieren? Zwischen dem Gestus des Geschichtslehrers, dem Gestus des übellaunigen Rabauken und dem Gestus des Erinnerungspredigers ist hier nicht besonders viel Platz. Wie soll das also gelingen: über Josef Mengele schreiben und trotzdem seine Würde als Künstler behalten? Die kurze Antwort wäre: Man macht es genau so wie Olivier Guez in seinem Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele”.
Die Erzählung setzt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein, als sich der internationale Nazi-Jetset gerade in Buenos Aires versammelt. Der Plan des argentinischen Präsidenten Juan Perón besteht zu diesem Zeitpunkt darin, Argentinien aus dem kommenden Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion als letzte verbliebene Weltmacht hervorgehen zu lassen. Dafür braucht er Fachkräfte.
Guez beschreibt das gesellschaftliche Leben in Buenos Aires der späten Vierzigerjahre so: „Ein Sammelbecken für Nazis, kroatische Ustascha, serbische Ultranationalisten, italienische Faschisten, ungarische Pfeilkreuzer, rumänische Legionäre der Eisernen Garde, französische Vichy-Anhänger, belgische Rexisten, spanische Falangisten, integralistische Katholiken; Mörder, Folterer und Abenteurer, ein gespenstisches Viertes Reich. Perón verwöhnt seine Desperados.“ Im Jahr 1949 werden alle, die mit einer falschen Identität eingereist sind, amnestiert. Das Vierte Reich besucht Theater und Restaurants, es bestaunt die üppigen Auslagen in den Boutiquen, gründet Unternehmen und kauft Häuser, liest die Zeitungen und rüstet sich für die Rückkehr, die, daran besteht kein Zweifel, triumphal ausfallen wird.
Unter ihnen befindet sich, in leicht melancholischer Stimmung, sonst aber guter Verfassung, Josef Mengele. In Argentinien trägt er den Namen Helmut Gregor, arbeitet als Zimmermann, und verdient sich ein Zubrot, indem er illegal die ungewollten Schwangerschaften der Oberschicht von Buenos Aires beendet. Schließlich ist Mengele Arzt. Von Tag zu Tag verbessert sich seine Lage. Bei den Nürnberger Prozessen fällt sein Name nur am Rande, in den Zeitungen wird er mit keinem Wort erwähnt, einen Haftbefehl gibt es nicht, niemand sucht nach ihm. Trotzdem ist er vorsichtig. Anders als Eichmann, der aus seiner Identität kein Geheimnis macht, verbirgt er seinen wahren Namen mit großer Pedanterie. Bald kann er seiner Familie eine Villa in einem der besten Viertel der Stadt kaufen. Josef Mengele lebt wieder standesgemäß.
Als aber der Mossad Eichmann entführt und im faschistischen Buenos Aires die blanke Panik ausbricht, weil man mit einigem gerechnet hat, ein öffentlicher Prozess in Israel aber jede Vorstellungskraft übersteigt, beginnt der zweite Teil des Romans: die Ballade von Mengeles Selbstverlust. Der Titel bezieht sich zum einen ganz prosaisch auf Mengeles Flucht aus dem besiegten Deutschland. Zum anderen aber geht es um das Verschwinden seiner Identität, um das langsame Verblassen des stolzen Elite-Nazis aus bürgerlichem Hause. Mengele begreift sich nicht nur als den wichtigsten Soldaten im Rassezuchtprogramm des „Führers“, sondern als Inkarnation alles Deutschen, von Rasse wegen zur Hoheit bestimmt. Den langsamen, aber stetigen Zerfall dieses Selbstbildes, das von niemandem in Mengeles Umfeld bezweifelt wird, erzählt Guez nun als große Genussgeschichte.
Mit Eichmanns Verhaftung beginnt für den Herrenmenschen Mengele, den „Fürsten der europäischen Finsternis“, der „fröhlich pfeifend vierhunderttausend Menschen in die Gaskammer geschickt hat“, eine demütigende Odyssee durch die endlosen Dschungel von Paraguay und Brasilien. Er ist gezwungen, sich bei irgendwelchen Bauern in feuchten Kammern zu verstecken, ständig schaut er sich über die Schulter, vertraut niemandem mehr. Hinter jedem Mann, der unbeteiligt an einer Kreuzung steht, vermutet er einen Agenten des Mossad. Er wird wunderlich, reizbar, paranoid, wagt sich nur noch nachts vor die Tür, während die Jahre vorbeiziehen, „er, der nur noch ein Wrack ist, außerstande, sich an die Gesichtszüge der einst geliebten Frau zu erinnern, dazu verdammt, im stillen Kämmerlein Trübsal zu blasen und beim Maunzen einer Katze zusammenzuzucken. Er, der vor sich hinvegetiert und am liebsten der Welt ins Gesicht schreien würde, wie einsam und hundselend er sich fühlt, der bald mutterseelenallein in den Trümmern der Favela krepieren wird. Man meidet ihn.“
Der Roman ist verfasst im Stile eines Historikers, der um Sachlichkeit bemüht ist, sich aber trotzdem hier und da so etwas wie einen Stil erlaubt, als handele es sich um eine kleine Albernheit. In der nüchternen Auftaktsequenz scheint es dieser Erzählstimme, die eher ein taktvolles Beiseitetreten vor seinem Gegenstand ist, noch um Neutralität zu gehen. Jetzt aber ändert sie ihre Gestalt. Sie wird zur Stimme eines geübten Hedonisten, der sich die Freude am Niedergang des Monumentalen nicht durch seine eigene Maßlosigkeit schmälern lassen möchte, eine Art Hamsun mit Fischbesteck.
Wie Dostojewskis Raskolnikow ereilt Mengele die gerechte Strafe, die ihm Behörden in Deutschland und Israel vorenthalten, im kosmischen Gefüge nur umso erbarmungsloser. Stunde um Stunde, Jahr um Jahr läuft er jammernd, ängstlich und mit schmerzender Prostata in seiner Kammer auf und ab. Selbst als ihn die Welt längst vergessen hat und die Behörden die Suche nach ihm schon eingestellt haben, steigern sich die Qualen unbeirrt ins Unermessliche. Ein Kontakt nach dem anderen geht ihm verloren, irgendwann erbarmt sich nur noch ein letzter kleiner Faschist, der in der Nähe wohnt, gegen gute Bezahlung gelegentlich bei Mengele vorbeizuschauen, sich seine größenwahnsinnigen Selbstmitleidsarien anzuhören und etwas Schach zu spielen. Mengele weiß es noch nicht, aber dieser Mann in längst sein Pfleger. Er verliebt sich in seine brasilianische Haushälterin, die sich auf die Sache aber nur einlassen will, wenn er sie im Gegenzug heiratet, was für den Rassenfanatiker nicht infrage kommt. Also leidet er weiter allein vor sich hin, ein verlassener alter Mann, der grimmig vor sich hinmurmelt. Da liegt es, das große Deutschland, zitternd in einem morschen Holzbett. Diese Passagen, hat Olivier Guez einmal gesagt, hätten großen Spaß gemacht. Als Mengele im Jahr 1977 Besuch von seinem Sohn Rolf bekommt, einem Anwalt, der in der Bundesrepublik aufgewachsen ist und politisch links steht, erniedrigt Mengele sich vor ihm tagelang mit seinem irren Gewimmer. Rolf reist desillusioniert vorzeitig ab: „Sein Vater ist verstockt, unheilbar und böse, ein Kriegsverbrecher, ein Verbrecher gegen die Menschlichkeit.” Den Aufenthaltsort seines Vaters verrät er trotzdem nicht.
Anders als Jonathan Littell, der in seinem Roman „Die Wohlgesinnten“ 2006 einen hochrangigen Nazi entwarf, der menschliche Züge trug, und damit eine ganze Kritikergeneration in Identifikationskrisen stieß, ist das menschliche Antlitz des Josef Mengele nicht als Veredelung zu verstehen. Niemand leidet so an dem Umstand, letztlich doch nur ein Mensch zu sein, so sehr wie Mengele selbst.
Es kann einem leicht entgehen, was für ein ästhetizistisches, also moralisches Kunstwerk dieser Roman ist, gerade weil er sich den Anschein gibt, lediglich die Tatsachen zu berichten. Im Anhang findet sich eine lange Literaturliste, nichts ist in diesem Sinne ausgedacht. Wie sich hier aber aus der erzählerischen Distanz eine ungeheure Intimität ergibt und in der Mitleidslosigkeit der Erzählstimme eine ungeheure Menschlichkeit aufscheint, das ist eben doch und in erster Linie: Literatur.
Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 223 Seiten, 20 Euro.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
versammelt sich der
Nazi-Jetset in Buenos Aires
Da liegt es, das große
Deutschland, zitternd in einem
morschen Holzbett
Im vergangenen Jahr erhielt Olivier Guez, Jahrgang 1974, den Prix Renaudot für „La disparition de Josef Mengele“.
Foto: imago stock
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mit Fischbesteck
In Olivier Guez’ Roman „Das Verschwinden des
Josef Mengele“ geht der Auschwitz-Arzt elendig zugrunde
VON FELIX STEPHAN
Wie schreibt man im Jahr 2018 einen Roman über Josef Mengele? Wie soll das gehen, ohne einerseits heillos im Ernst des Themas zu versinken und andererseits ob seiner Abgestandenheit onkelig zu ironisieren? Zwischen dem Gestus des Geschichtslehrers, dem Gestus des übellaunigen Rabauken und dem Gestus des Erinnerungspredigers ist hier nicht besonders viel Platz. Wie soll das also gelingen: über Josef Mengele schreiben und trotzdem seine Würde als Künstler behalten? Die kurze Antwort wäre: Man macht es genau so wie Olivier Guez in seinem Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele”.
Die Erzählung setzt kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein, als sich der internationale Nazi-Jetset gerade in Buenos Aires versammelt. Der Plan des argentinischen Präsidenten Juan Perón besteht zu diesem Zeitpunkt darin, Argentinien aus dem kommenden Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion als letzte verbliebene Weltmacht hervorgehen zu lassen. Dafür braucht er Fachkräfte.
Guez beschreibt das gesellschaftliche Leben in Buenos Aires der späten Vierzigerjahre so: „Ein Sammelbecken für Nazis, kroatische Ustascha, serbische Ultranationalisten, italienische Faschisten, ungarische Pfeilkreuzer, rumänische Legionäre der Eisernen Garde, französische Vichy-Anhänger, belgische Rexisten, spanische Falangisten, integralistische Katholiken; Mörder, Folterer und Abenteurer, ein gespenstisches Viertes Reich. Perón verwöhnt seine Desperados.“ Im Jahr 1949 werden alle, die mit einer falschen Identität eingereist sind, amnestiert. Das Vierte Reich besucht Theater und Restaurants, es bestaunt die üppigen Auslagen in den Boutiquen, gründet Unternehmen und kauft Häuser, liest die Zeitungen und rüstet sich für die Rückkehr, die, daran besteht kein Zweifel, triumphal ausfallen wird.
Unter ihnen befindet sich, in leicht melancholischer Stimmung, sonst aber guter Verfassung, Josef Mengele. In Argentinien trägt er den Namen Helmut Gregor, arbeitet als Zimmermann, und verdient sich ein Zubrot, indem er illegal die ungewollten Schwangerschaften der Oberschicht von Buenos Aires beendet. Schließlich ist Mengele Arzt. Von Tag zu Tag verbessert sich seine Lage. Bei den Nürnberger Prozessen fällt sein Name nur am Rande, in den Zeitungen wird er mit keinem Wort erwähnt, einen Haftbefehl gibt es nicht, niemand sucht nach ihm. Trotzdem ist er vorsichtig. Anders als Eichmann, der aus seiner Identität kein Geheimnis macht, verbirgt er seinen wahren Namen mit großer Pedanterie. Bald kann er seiner Familie eine Villa in einem der besten Viertel der Stadt kaufen. Josef Mengele lebt wieder standesgemäß.
Als aber der Mossad Eichmann entführt und im faschistischen Buenos Aires die blanke Panik ausbricht, weil man mit einigem gerechnet hat, ein öffentlicher Prozess in Israel aber jede Vorstellungskraft übersteigt, beginnt der zweite Teil des Romans: die Ballade von Mengeles Selbstverlust. Der Titel bezieht sich zum einen ganz prosaisch auf Mengeles Flucht aus dem besiegten Deutschland. Zum anderen aber geht es um das Verschwinden seiner Identität, um das langsame Verblassen des stolzen Elite-Nazis aus bürgerlichem Hause. Mengele begreift sich nicht nur als den wichtigsten Soldaten im Rassezuchtprogramm des „Führers“, sondern als Inkarnation alles Deutschen, von Rasse wegen zur Hoheit bestimmt. Den langsamen, aber stetigen Zerfall dieses Selbstbildes, das von niemandem in Mengeles Umfeld bezweifelt wird, erzählt Guez nun als große Genussgeschichte.
Mit Eichmanns Verhaftung beginnt für den Herrenmenschen Mengele, den „Fürsten der europäischen Finsternis“, der „fröhlich pfeifend vierhunderttausend Menschen in die Gaskammer geschickt hat“, eine demütigende Odyssee durch die endlosen Dschungel von Paraguay und Brasilien. Er ist gezwungen, sich bei irgendwelchen Bauern in feuchten Kammern zu verstecken, ständig schaut er sich über die Schulter, vertraut niemandem mehr. Hinter jedem Mann, der unbeteiligt an einer Kreuzung steht, vermutet er einen Agenten des Mossad. Er wird wunderlich, reizbar, paranoid, wagt sich nur noch nachts vor die Tür, während die Jahre vorbeiziehen, „er, der nur noch ein Wrack ist, außerstande, sich an die Gesichtszüge der einst geliebten Frau zu erinnern, dazu verdammt, im stillen Kämmerlein Trübsal zu blasen und beim Maunzen einer Katze zusammenzuzucken. Er, der vor sich hinvegetiert und am liebsten der Welt ins Gesicht schreien würde, wie einsam und hundselend er sich fühlt, der bald mutterseelenallein in den Trümmern der Favela krepieren wird. Man meidet ihn.“
Der Roman ist verfasst im Stile eines Historikers, der um Sachlichkeit bemüht ist, sich aber trotzdem hier und da so etwas wie einen Stil erlaubt, als handele es sich um eine kleine Albernheit. In der nüchternen Auftaktsequenz scheint es dieser Erzählstimme, die eher ein taktvolles Beiseitetreten vor seinem Gegenstand ist, noch um Neutralität zu gehen. Jetzt aber ändert sie ihre Gestalt. Sie wird zur Stimme eines geübten Hedonisten, der sich die Freude am Niedergang des Monumentalen nicht durch seine eigene Maßlosigkeit schmälern lassen möchte, eine Art Hamsun mit Fischbesteck.
Wie Dostojewskis Raskolnikow ereilt Mengele die gerechte Strafe, die ihm Behörden in Deutschland und Israel vorenthalten, im kosmischen Gefüge nur umso erbarmungsloser. Stunde um Stunde, Jahr um Jahr läuft er jammernd, ängstlich und mit schmerzender Prostata in seiner Kammer auf und ab. Selbst als ihn die Welt längst vergessen hat und die Behörden die Suche nach ihm schon eingestellt haben, steigern sich die Qualen unbeirrt ins Unermessliche. Ein Kontakt nach dem anderen geht ihm verloren, irgendwann erbarmt sich nur noch ein letzter kleiner Faschist, der in der Nähe wohnt, gegen gute Bezahlung gelegentlich bei Mengele vorbeizuschauen, sich seine größenwahnsinnigen Selbstmitleidsarien anzuhören und etwas Schach zu spielen. Mengele weiß es noch nicht, aber dieser Mann in längst sein Pfleger. Er verliebt sich in seine brasilianische Haushälterin, die sich auf die Sache aber nur einlassen will, wenn er sie im Gegenzug heiratet, was für den Rassenfanatiker nicht infrage kommt. Also leidet er weiter allein vor sich hin, ein verlassener alter Mann, der grimmig vor sich hinmurmelt. Da liegt es, das große Deutschland, zitternd in einem morschen Holzbett. Diese Passagen, hat Olivier Guez einmal gesagt, hätten großen Spaß gemacht. Als Mengele im Jahr 1977 Besuch von seinem Sohn Rolf bekommt, einem Anwalt, der in der Bundesrepublik aufgewachsen ist und politisch links steht, erniedrigt Mengele sich vor ihm tagelang mit seinem irren Gewimmer. Rolf reist desillusioniert vorzeitig ab: „Sein Vater ist verstockt, unheilbar und böse, ein Kriegsverbrecher, ein Verbrecher gegen die Menschlichkeit.” Den Aufenthaltsort seines Vaters verrät er trotzdem nicht.
Anders als Jonathan Littell, der in seinem Roman „Die Wohlgesinnten“ 2006 einen hochrangigen Nazi entwarf, der menschliche Züge trug, und damit eine ganze Kritikergeneration in Identifikationskrisen stieß, ist das menschliche Antlitz des Josef Mengele nicht als Veredelung zu verstehen. Niemand leidet so an dem Umstand, letztlich doch nur ein Mensch zu sein, so sehr wie Mengele selbst.
Es kann einem leicht entgehen, was für ein ästhetizistisches, also moralisches Kunstwerk dieser Roman ist, gerade weil er sich den Anschein gibt, lediglich die Tatsachen zu berichten. Im Anhang findet sich eine lange Literaturliste, nichts ist in diesem Sinne ausgedacht. Wie sich hier aber aus der erzählerischen Distanz eine ungeheure Intimität ergibt und in der Mitleidslosigkeit der Erzählstimme eine ungeheure Menschlichkeit aufscheint, das ist eben doch und in erster Linie: Literatur.
Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 223 Seiten, 20 Euro.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
versammelt sich der
Nazi-Jetset in Buenos Aires
Da liegt es, das große
Deutschland, zitternd in einem
morschen Holzbett
Im vergangenen Jahr erhielt Olivier Guez, Jahrgang 1974, den Prix Renaudot für „La disparition de Josef Mengele“.
Foto: imago stock
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Niklas Bender hat seine Probleme mit Olivier Guez' Josef-Mengele-Roman. Schon die Bezeichnung als Roman findet der Kritiker schwierig - erzählt ihm der französische Schriftsteller und Journalist doch vielmehr im sachlichen "Reportage-Stil" in zwei Teilen von Mengeles Jahren im Exil. Zwar entdeckt Bender durchaus geglückte Beobachtungen, wenn Guez beschreibt, wie Mengele sich zunächst in Argentinien mit ehemaligen Nazi-Granden zusammenschließt und schnell zu Wohlstand und Ansehen kommt, bis er schließlich unter dem zunehmenden Verfolgungsdruck in den Sechzigern und Siebzigern nach Paraguay und Brasilien flieht und in immer größere Abhängigkeit gerät. Dass sich der Autor allerdings vor allem auf Mengeles nicht vorhandene Aufarbeitung der Vergangenheit konzentriert, findet der Kritiker bedauerlich.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Guez ist ein sprachgewaltiger Autor - kräftig, ausdrucksstark, atemberaubend. Der Roman fesselt, macht betroffen, verstört« SRF Schweizer Radio und Fernsehen 20181028
»Ohne Schnörkel, ohne Sensationalismus, als hartnäckiger, unerbittlicher Fahnder auf den Spuren des Schlächters.« Transfuge »Olivier Guez meistert die herausragende Biographie einer Inkarnation des Bösen.« L'Humanité Dimanche