Der französische Schriftsteller Olivier Guez begibt sich mit seinem Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele" auf die Spur des NS-Mediziners
Der Nazi-Roman ist in Frankreich ein florierendes Genre, das viel von sich reden macht. Nach frühen Anfängen - Robert Merle, "Der Tod ist mein Beruf" (1952) - haben zuletzt Autoren wie Jonathan Littell ("Die Wohlgesinnten") oder Laurent Binet ("HHhH") Aufmerksamkeit damit erregt. Als Tendenzen kann man eine wachsende Freiheit im Umgang mit der Vergangenheit sowie eine vertiefte Reflexion auf das Verhältnis von Literatur und Geschichte ausmachen. Beiden folgt Olivier Guez nicht: "Das Verschwinden des Josef Mengele" vermittelt den Eindruck eines nüchtern-dokumentarischen Umgangs. Auch der Appell am Ende des Romans legt nahe, es ginge dem Autor vor allem um mahnende Erinnerungsarbeit: "Immer nach zwei oder drei Generationen, wenn das Gedächtnis verkümmert und die letzten Zeugen der vorherigen Massaker sterben, erlöscht die Vernunft, und Menschen säen wieder das Böse."
Josef Mengele war eine Schreckensgestalt des zwanzigsten Jahrhunderts, die man in der Tat nicht vergessen sollte. Der "Todesengel von Auschwitz" beteiligte sich begeistert und mitleidslos an der Selektion, bekämpfte Seuchen durch das Ermorden von Erkrankten und führte medizinische Experimente an Lagerinsassen durch, bevorzugt an Zwillingen. Nach Kriegsende flüchtete er nach Südamerika; vor Gericht musste er sich nie verantworten. Im Spektrum der NS-Verbrecher gehörte er zu den höflichen und gebildeten Überzeugungstätern, repräsentierte prototypisch das Oxymoron des kultivierten Barbaren.
Dieser heiklen Figur nähert Guez sich in zwei Etappen: Teil eins, "Der Pascha", erzählt die Jahre von 1949 bis 1961, die Mengele in Argentinien verbringt. Das Perón-Regime akzeptiert flüchtige Nazis als Helfer bei der Mammutaufgabe, "eine ästhetische und industrielle Revolution" durchzuführen, um ein "plebejisches Regime" zu errichten; sie sollen Hirnmasse, Disziplin und Technik beisteuern. Mengele tut das gern: Nach schwierigen Anfängen integriert er sich gut. Von der Familie zeitlebens gedeckt, vertritt er die Interessen der väterlichen Agrarmaschinenfirma in Südamerika. Unbehelligt kommt er zu Wohlstand und Ansehen, gilt als "Geistesgröße", beeindruckt mit Klassikerzitaten und "seiner beinahe zeremoniellen Höflichkeit".
Das Tableau des Nazi-Paradieses ist erbaulich. Guez präsentiert dem Leser eine Nachkriegsgesellschaft, die nicht nur im fernen Argentinien die Greueltaten verdrängt und ihren Vorteil nimmt, wo sie ihn findet - "eine gigantische Recyclingaktion", welche die "Abfälle der Geschichte" gewissenlos nutzt. Die Kriegsverbrecher wiederum genießen die Gunst der Machthaber und treffen sich im Kreis des Dürer-Verlags oder privat: der Luftwaffen-Oberst Hans Ulrich Rudel, der Spion Gerard Malbranc, der Diplomat Ludolf-Hermann von Alvensleben, Goebbels' Mitarbeiter Wilfried von Oven, der SS-Obersturmbannführer der Reserve Otto Skorzeny - alle a.D., versteht sich, alle der NS-Ideologie treu.
Helmut Gregor, so Mengeles Tarnname, genießt das Milieu, obwohl Guez ihm letztlich egoistische Motive unterstellt: "Im Grunde hat er sich nie wirklich für Politik interessiert und trotz seiner vorgeblichen Liebe zu Deutschland und seiner Treue zum Nationalsozialismus von Kindheit an vor allem an sich selbst gedacht und einzig sich selbst geliebt." Das Resultat: "Gregor hat Spaß und scheffelt Geld." Das Ziel modifiziert sich nach seiner Heirat mit der Witwe seines Bruders, "zwar keine schöne, aber immerhin sinnliche Fünfunddreißigjährige", die Mengele schon aus Rache am Verstorbenen mit Leidenschaft begattet: "Geld scheffeln und Martha bimsen."
Diesem Einstieg, der den komfortablen Triumph des Bösen zu zeigen scheint, setzt Teil zwei Mengeles "Höllenfahrt" entgegen: "Die Ratte" (inspiriert von den "Rattenlinien", den Fluchtrouten der Nazis) erzählt die Jahre von 1961 bis 1979, die geprägt sind vom wachsenden Verfolgungsdruck. Nach der Entführung Eichmanns aus Argentinien veranstalten Mossad und deutsche Staatsanwaltschaft zumindest zeitweise eine ernsthafte Jagd. Mengele flieht nach Paraguay und Brasilien, hängt nun vom guten Willen seiner Helfer ab. Das Zusammenleben ist problematisch, wie sein langjähriger Unterschlupf bei der Familie Stammer zeigt: Die ungarischen Bauern nehmen ihn aus Geldnot auf, Mengeles Familie zahlt gut. Der Flüchtige aber zeigt sich kapriziös, fanatisch, mischt sich in Familiäres ein, schläft mit der Frau des Hauses. Trotz immer herrschaftlicherer Anwesen geht das Verhältnis in die Brüche. 1975 findet Mengele sich in einem Bungalow in einem heruntergekommenen Viertel von São Paulo wieder: "Eldorado! Die Endstation für den Eugeniker aus gutem Hause auf der chaotischen, rassendurchmischten Insel; bald werden ihn die Eingeweide Brasiliens verschlingen."
Seine Moral ist spätestens seit der Aberkennung der akademischen Titel 1964 angeschlagen, die Gesundheit leidet an Hitze, Schlaflosigkeit, harter körperlicher Arbeit. Als das erste richtige Treffen mit seinem Sohn Rolf und ein letzter menschlicher Kontakt mit seiner Haushaltshilfe Elsa scheitern, stirbt Mengele an einem Herzinfarkt. Der Epilog "Das Phantom" berichtet davon, wie die Öffentlichkeit schließlich - nach üppiger Legendenbildung - vom Tod des Kriegsverbrechers erfährt.
Olivier Guez, ein 1974 in Straßburg geborener Journalist, interessiert sich nur für Mengeles Exil: Das Vorleben - Studium, Waffen-SS, die Arbeit in den Lagern, die erste Ehe mit Irene - wird in Rückblenden, Diskussionen oder Berichten präsentiert. Der Fokus liegt nicht auf den Taten, sondern auf dem Umgang des Betroffenen mit seiner Vergangenheit. Das verweist auf eine erste Schwäche des Romans, denn bei Mengele ist diesbezüglich wenig zu holen: Er schwankt zwischen opportuner Vertuschung und andauerndem Stolz. So zu Sohn Rolf im Herbst 1977: ",Meine Pflicht', sagt er rundheraus, ,meine Pflicht als Soldat der deutschen Wissenschaft: die biologisch-organische Gemeinschaft schützen, das Blut reinigen und von seinen Fremdkörpern befreien'."
Der nüchtern berichtende Duktus ist ebenfalls hinderlich. Allgemein fragt man sich, was an einem Text, der im Reportage-Stil das Leben der Hauptfigur nacherzählt, romanesk sein soll. Guez behauptet zwar im Nachwort: "Nur mit der Form des Romans konnte ich dem makabren Leben des Nazi-Arztes möglichst nahekommen." Der Text zeigt dem Leser den Vorteil einer literarischen Form jedoch nicht. Sicher, es gibt gelungene Szenen, aber "Das Verschwinden des Josef Mengele" entwickelt keine spezifisch literarische Perspektive, hat keine Vorstellung von Wesen und Antrieb ihres Protagonisten. Es finden sich lediglich schüchterne Versuche, wie der einer Metaphorisierung Mengeles als "moderner, rastloser Kain". Sie wirken so erratisch wie manche Erklärungsversuche. Ein Beispiel: Die Deutschen waren dem NS-Regime nicht nur aus "Opportunismus" verfallen.
Ein genuin literarischer Ansatz hätte Guez große Dienste leisten können. Der Aufgabe, dieses "makabre Leben" zu erzählen, hat sich die Argentinierin Lucía Puenzo in "Wakolda" (2011), ebenfalls ein Roman über Mengeles Exil, mit mehr Mut gestellt: Sie blickt einerseits in den Kopf des Verbrechers, führt seine deliranten Rassen- und Eugenik-Theorien schonungslos vor; andererseits bricht sie diese Sicht durch die (erfundene) Perspektive eines Kindes, dessen Blick Mengeles Monstrosität ins Relief hebt. Die Romane von Guez' Landmann Éric Vuillard wiederum meistern die geschichtliche Dynamik besser: Deren Wechsel zwischen epischer Perspektive und Detailaufnahme und deren polemische Verve wünscht man Guez mitunter, der nur in wenigen Passagen souverän konstruiert, selten frech und frei schreibt - was dann isoliert und mitunter deplaziert wirkt.
Am gelungensten sind manche Beschreibungen, etwa die Beobachtung der ungarischen Stammers über den vermeintlichen Schweizer Mengele: "Seine Hände waren sonderbar: an den Handflächen und Fingern die Schwielen eines Arbeiters, aber die Fingernägel manikürt wie bei einem Budapester Großbürger. Er wusch sie dreißigmal am Tag und rieb sich die Unterarme kräftig mit Kernseife ab, so wie sich ein Chirurg vor und nach einer Operation die Hände desinfiziert." Diese paar Zeilen deuten viel mehr an, als zahlreiche Seiten des Bandes zu berichten vermögen.
NIKLAS BENDER
Olivier Guez: "Das Verschwinden des Josef Mengele". Roman
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 224 S., geb., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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